Tag 3: Evian - St Jean de Sixt Tag 4: St Jean de Sixt - Tignes Tag 5: Tignes - La Toussuire
Übernachtung: Jugendherberge Tignes.
Am heutigen Morgen des vierten Tages frühstücken wir so, dass wir um zehn Uhr loskommen - diese Zeit war normal. Unsere Stuttgarter waren schon eine halbe Stunde früher los, und wir machten uns auf, die Königsetappe anzugehen: 3500 Höehenmeter liegen vor uns, verteilt auf vier Bergen: Col des Aravis, Col des Saisies, Cormet de Roselend und dann der abschließende Anstieg nach Tignes, unserem Übernachtungsort. Erste Strahlen kommen erst jetzt in das Tal von St Jean de Sixt, das Wetter ist wieder einmal blendend. Es geht hoch,; die ersten 200 Höhenmeter waren eigentlich nicht eingeplant, so viele sind es nach La Clusaz. Bis zum Col des Aravis auf 1486 Meter ü.d.M. sind es nur 8 Kilometer, der Tag lässt sich blendend an. Runter geht es nach Flumet (NOCH m üdM), doch die Abfahrt ist kurz und die folgenden 12 Kilometer auf den Col des Saisies ziehen sich hin, lange Schleifen sind zu durchfahren, aber EIN Sieg ist heute schon errungen: Die Stuttgarter holen wir auf diesem Anstieg ein und überholen sie teilweise, der jüngste unter ihnen fährt schneller und scheint noch beliebig über unserem Tempo fahren zu können. Till setzt sich natürlich gleich an ihm fest, während Freddy und ich hinterher fahren. Till wartet auf Tobi, der zieht dann erst in der letzten Kurve an.
Dann geht es wieder ins Tal: Vor uns fährt ein Schweizer Passat, der das Leben von sich und seiner Familie aufs Spiel setzt, nur um uns nicht an ihm vorbeizulassen - ein waghalsiges Unterfangen; mit dem Fahrrad ist man einfach schneller in den Serpentinen. Das Spiel endet damit, dass er fast aus einer Kurve fliegt, hart bremst und unsere Hinterräder dabei Bodenkontakt verlieren. Dann lassen wir von ihm ab, denn wir sind in le Praz, einem kleinen Dorf angekommen, in dem wir etwas zu essen und zu trinken erstehen können, und sehen hier auch zum letzten Mal die Stuttgarter, die wir den ganzen Tag immer mal wieder überholt haben.
Es geht nach Beaufort, daran kann ich mich nun gar nicht mehr erinnern. Wohl aber an den langen Anstieg zum Cormet de Roselend, wo sich Freddy und ich wieder zurückfallen lassen, während Tobi und Till den ersten fast-2000er unserer Tour bei ihnen auf das Bergpunktekonto verbuchen wollen. Der Anstieg ist mit 20 km sehr lang, mehrfache Doppelpfeile sind zu erklimmen. Aber zu unserer Überraschung warten Till und Tobi vor dem Gipfel auf uns - genauer gesagt, auf 1600 m Höhe, denn unterhalb der erreichten Kehre liegt - blau-türkis glänzend in der Nachmittagssonne - der Lac de Roselend, ein richtiger, grosser Bergsee. Freddy und ich fahren weiter, wir wissen gar nicht recht, warum Tobi und Till nicht nachkommen. Wir auf jeden Fall entschließen uns, die Chance beim Schopf zu packen und in diesen See zu tauchen. Wir sind so heiß und verschwitzt, da denken wir, Ein Bergsee: genau das Richtige. Also stellen wir unsere Räder oben an der Straße an irgendein Hinweisschild, schließen ab und laufen baren Fußes zum See runter. Das dauert sicher seine viertel Stunde, sich unten auszuziehen, über das morastige Ufer sich in die Kühle gleiten zu lassen, drei Meter zu schwimmen und wieder die Fahrräder zu erreichen. Über ausgetretene Touristenpfade kommen wir schnell zum See, wo sich mehrere Leute über die nackten Radler amüsieren, die für 20 Sekunden im Wasser den Weg von der Straße zur See auf sich nehmen. Aber es hat sich gelohnt, wir sind frisch und treten den Weg zum Cormet an. Es zieht sich noch lange hin, denn wir wissen nicht, dass noch sechs - zum Teil doppelt steile - Kilometer vor uns liegen. Aber oben angekommen macht sich langsam Euphorie breit, es scheint nicht mehr weit zu sein bis nach Tignes, 42 Kilometer und nur noch 1000 Höhenmeter von Bourg St Maurice nach Tignes les Boisses hoch, was ist das schon. Begeistert machen wir uns auf die Abfahrt, voll Gas voraus, in altem Schwung und schnellem Reifen gen Tal. Doch auf einmal fehlt Till. Tobi ist kurz vor mir, Freddy pfeift auf einmal von hinten, auf mein Pfeifen hält auch Tobi an. Es folgten bange Sekunden, dann entschlossen wir, zurückzuradeln. Doch da kam Till schon heruntergerollt mit nem Platten Hinterrad. Bei den Geschwindigkeiten hätte es ihn in einer Kurve ordentlich zerlegt - Glück gehabt. Er war der letzte in der Kette - ohne Flickzeug. Aus diesem Fehler lernen wir und lassen in Zukunft immer einen mit Flickzeug hinten fahren.
Also Schlauch gewechselt und weiter ins Tal.
Aber es ist wirklich sehr heiß, und wir stellen fest, dass die Hitze ihren Tribut zollt: Denn die halben vierzig Kilometer sind erst um in Bourg St Maurice, und die Erschöpfung schlägt sich in voller Depression nieder: Wir glauben eigentlich alle nicht mehr daran, dass wir die letzten 20 km nach Tignes mit den höllischen letzten tausend (TAUSEND!) Höhenmetern noch packen. Nur Till ist ruhig, ihm geht es noch gut. Wir sammeln noch mal kräfte bei einem Mauricer Supermarkt, suchen uns ein schattiges Pklätzchen und lecken unsere Wunden. Aber es hilft nichts. Wir fahren los, und zu unserem Erschrecken, geht es nicht gleich hoch, sondern erst nochmal richtig bergab. Hhhhhhm. dann aber zieht sich die Straße in scheinbar unendlichen Windungen den Berg hoch, links die Wand, rechts das Tal. für die Landschaft hat wohl keiner mehr den richtigen Blick, ausserdem geht es straff auf die sieben zu, die Uhrzeit, zu der eigentlich gegssen wird in französischen Jugendherbergen. Panik steigt auf, wir könnten ohne Nahrung in Tignes sitzen. Aber noch haben wir ein ganz anderes Problem. Erst mal dort ankommen. Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwann tat sich das schmale Tal auf und eine Staumauer kam in unser Blickfeld. Nun kam uns wieder Hoffnung, sollte dies schon das Ende sein und unsere Qual doch noch vor sieben Uhr beendet und bei einem üppigen Diner gelindert werden? Freddy, häufig malte er sich träumerische Frühstücksbuffets zurecht, die dann doch immer nur trockenes Baguette und einfache Marmelade enthielten, wollte hauptsächlich viel essen, egal was. Aber diesmal wären seine lukullischen Ergüsse doch wahrscheinlich nicht sehr fern der Realität gewesen. Denn kaum waren wir in der Jugendherberge angekommen, die von außen eigentlich eher den Charme einer Baustelle hatte (sie war erst im Juli fertiggestellt worden), wurden wir schon, dreckig und verschwitzt wie wir waren, an den Eßtisch komplimentiert. Dort gab es zunächst eine fette Schale Kartoffelsalat für unseren Tisch - wir waren die einzigen Gäste und am Nachbartisch feierten die Hausangehörigen die feistesten Feste. Das war es auch für unsere Augen. Gierig machten wir uns über die Schüssel her, von dessen Inhalt auch wahrlich nichts übrig blieb. Das muss man sich vorstellen: Wir hatten es doch jetzt geschafft: Wir hatten die Königsetappe hinter uns, von jetzt an konnte uns nichts mehr passieren; überwältigt von unserem Durchhaltevermögen und völlig besoffen vor Glück, kam dann der zweite Gang über uns her: Eine fette Schale mit Fleischstücken und nochmal ne Kartoffelsalatschüssel voll mit Pommes wartete darauf, von uns geschafft zu werden: Wo sind wir? Doch im Himmel? Ha, scheint so.
Es gesellt sich nun doch noch ein Gast hinzu: Ein Radler, der den Col de l'Iseran von der anderen Seite hochgekommen ist, und sicher 170 km in den Beinen hat, denn er kommt heute von NOCH. Der ist völlig überanstrengt, er kriegt kaum einen Bissen runter. Ist auch schon über fünfzig, ein drahtiger Franzose, der sich wohl doch ein bisschen zuviel vorgenommen hat.
Nach dem Essen konnten wir getrost noch ein Weilchen die Abendluft schnuppern, Karten schreiben und die Freundinnen antelefonieren: hätte Tobi nicht schon die ganze Karte im ersten Gespräch vertelefoniert. Naja, trotzdem endlich Zeit, sich ein wenig auf die restliche Fahrt zu freuen. Bis jetzt waren wir immer mit Zweifeln losgefahren und mit Zweifeln darüber angekommen, ob die Herausforderungen der nächsten Tage denn machbar seien. Jetzt wussten wir es: uns kann nichts mehr passieren. Geil. Ausserdem liegt am nächsten Tag der höchste Punkt unserer Tour gleich am Anbruch des Tages vor uns: Es geht noch 1000 m höher auf 2764 m, da liegt der Col de l'Iseran, der zweithöchste Alpenpass. Völlig erschöpft, aber rundum zufrieden können wir heute abend in unsere Betten kriechen. Morgen stehen wir um 10 vor sieben auf.
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19.9.2000
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