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29.7. - 5.8.2000 |
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Annecy - Aime | Aravis - Saisies - Cormet de Roselend | 133 km / 3072 Hm |
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Früh morgens brachen wir aus dem lebendigen Annecy auf, auf der vielbefahrenen D909 ging
es zunächst vier Kilometer am Nordostufer des Lac d'Annecy entlang, in dem sich außer der
Sonne auch das Bergmassiv Montagne du Semnoz spiegelte, das uns gegnüberlag. Die Wolken vom
Vortag hatten sich mal wieder pünktlich zum Tourbeginn im Wesentlichen verzogen, eine sonnige
Fahrt über St. Jean de Sixt, den Aravis, den Saisies und den Cormet de Roselend erwartete uns.
Die Tour ging prächtig los.
Schon in Thônes (links), bei der ersten Sprintwertung der Tour, zeichnete sich die kommende Unfähigkeit
der beiden Teams ab, einen Sprint sinnvoll, wenn überhaupt anzufahren, was dazu führte, dass
Tobi als einziger das Schild sah und mit einem halsbrecherischen Ausbruchsmanöver (bei dem
er ein Auto touchierte und ein weiteres, zum Ausweichen gezwungen, sein Ende an der Leitplanke
der Gegenrichtung fand) die ersten Sprintpunkte für sich und sein Team Freiburg gewann.
Team Freiburg bestand aus Tobi, Andy und Tim, wobei hier Tobi ganz klar auf Gesamtsieg fuhr
und seinen Wasserträgern die undankbare Aufgabe zukam, Sprints anzuziehen (die dann doch zu nichts führten)
und Bergangriffe von Till und mir, die das Team Bonn bildeten, zu beantworten. Insgesamt
gesehen führte die Teamarbeit ein Schattendasein, nur am vierten Tag, in dem Tobi erstmals
Schwäche zeigte, wussten wir unsere unterschiedlichen Bergvorlieben (Till fürs Steile,
ich fürs Flache) geschickt zu kombinieren und Tobi zwei Berge abzunehmen.
Aber daran war noch nicht zu denken, und so rollten wir locker den flachen Anstieg nach
St. Jean de Sixt hoch, wo wir schon in unserer Frankreichtour 1998 genächtigt hatten.
Das Gefühl von Heimat und Verbundenheit zu diesem Ort durchfloss uns drei, die damals nach unserem ersten Alpenpass,
den Col de la Columbière, hier zum ersten Mal Hoffnung geschöpft hatten, dass das ungeheure Programm,
das wir uns vorgenommen hatten, vielleicht zu bewältigen sei. Doch heute sah das ganz anders aus.
Wir wussten, was vor uns lag, wir kannten unser Leistungsvermögen in den Alpen, wir hatten ein Begleitfahrzeug
mit ausreichend Nahrungsmitteln, unseren Starphotographen und Teamleiter Walter Kern und radelten beruhigt
durch den Ort, die paar Kehren nach La Clusaz und rein in den Anstieg zum Aravis, den wir so viel steiler und
anspruchsvoll in Erinnerung hatten.
Aber es war flach, fast ein Berg für mich, und in gutem Tempo
gingen wir die 4,5 km an, die es von La Clusaz zum Col des Aravis (1486 m) hochgeht. Entgegen meinem
Vorhaben, den ersten Tag ruhig anzugehen und froh zu sein, am Ende anzukommen, ging ich doch gleich mit
Tobi mit, meine Chance witternd, gleich am ersten Pass einen Paukenschlag zu setzen mich für die
verlorenen Sprintpunkte von Thônes zu revanchieren. Aber Vorsicht: 2 km vor dem Gipfel setzen
vier Serpentinen an, in denen es zwar nicht steil, aber doch mit ca. 8 Prozent steil genug ist, um den Bergfexen
Tobi den ausreichenden Vorteil vor mir zu gewähren. Aber hätt ich selbst zehn Kilo weniger gewogen,
ein Rad gehabt, dass nur die Hälfte des Gewichts meiner Stahlschleuder hat, ich den einzigen Energiebeutel gegessen, den ich für die Fahrt
gekauft hätte und wäre Tobi von Krämpfen geschüttelt worden und hätte er die letzten 500 Meter mit einem
Platten fahren müssen, hätte ich nicht nur Tobi abgezockt, sondern hätte auch Till nicht mehr auf den
letzten Serpentinen vorbeifahren lassen müssen.
Aber schon ging es weiter, den Aravis hinunter, durch den berüchtigten Tunnel kurz nach dem Pass, der
urplötzlich nach einer recht scharfen Linkskurve auftaucht. Im Tunnel ist eine 90 Grad Rechtskurve, was
wir diesmal immerhin schon wussten, und das dunkle Loch so von vornherein vorsichtig anfuhren.
Wir wudnerten uns, wir wir es damals schafften, in diesem dunklen, nassen Tunnel die Kurve zu kriegen,
als wir halsbrecherisch einfach hineinfuhren mit dem Gedanken: Am Ende geht's irgendwie wieder raus.
Durch das malerische Flumet geht es dann am Kreisel geradeaus und über die Bogenbrücke der tiefen Arly-Schlucht
auf der D218 auf 11,5 km und 733 Höhenmetern dem Col des Saisies entgegen.
Der gesamte Anstieg ist sehr flach; nach Notre Dame de Bellecombe geht es nocheinmal ein kleines
Stück bergab, an dem man auf die langezogene Rechtskurve blicken kann, nach deren Scheitel es dann wieder hoch geht,
kaum merklich steiler als zuvor. Nach weiteren vier Kilometern erreicht man den Col des Saisies, mit 1650 m.ü.d.M.
immer noch ein Zwerg unter den großen Pässen die noch kommen werden.
Aber es kommt ja auch immer darauf an, was man daraus macht: Tobi und Till waren im Ausscheidungsrennen
mal wieder alleine übrig geblieben, hatten meinen späten Angriff locker abgewehrt - zu zweit ging es also auf die Endgerade
am Saisies, im Sprint mit über 50 km/h. Da gab es nur noch den Anderen und die Straße, alles andere war ausgeblendet, als sie
am Zielfotographen Walter vorbeibrausten und sich viel weiter hinten wunderten, wo er denn stecke.
Hier oben wurden wir Zeugen von zweierlei Schauspielen: Zunächst einmal Zeuge des durchaus beeindruckenden
Paarungsverhalten der Pferde; wahrlich inspirierend: Ohne Scheu tummelten sich vor unseren Augen bzw. Feldstechern
ein hoch aktiver Hengst und eine nur einmal recht willige Stute. Zum Anderen deutete Tobi an,
dass er auch in dem letzten Jahr keine Änderung seiner Bekleidungsgewohnheiten durchgemacht hat
und ließ uns spüren, dass er diese auch auf dieser Tour nicht abzulegen gedenke. Eingepackt wie
zu Silvester am Kandel schützte er sich gegen den zugegebenermaßen vorhanden Wind am Pass.
Wir fuhren die D218 nicht bis hinunter ins Tal, sondern bogen auf halber Strecke links ab über Hauteluce
auf die D70, einer sehr schmalen und sehr stark beschädigten, aber attraktiven Straße, die allerdings bald wieder
auf die D218 führt. Im Tal ging es links auf die D925, Schauplatz unseres zweiten Versagens
in der Sprintwertung, diesmal allerdings zum glücklich Ausgang fürs Team Bonn, da sich keiner
des Teams Freiburg dazu gemüßigt fühlte, an mein Hinterrad zu fahren, als ich mich nach einigem Rumgeplänkel
dazu entschied, den Sprint jetzt einfach mal anzuziehen, und die Geschwindigkeit auf schlappe 37 km/h
erhöhte. Naja, super Sieg, das.
Von Beaufort (743 m) sind es noch 19,5 km bis zum Cormet de Roselend (1967 m),
schon nach 11 steilen Kilometern (Steigungen über 10 Prozent) durch eintönigen
Wald erreicht man allerdings den Vorpass Col de Méraillet (1605 m),
von dem aus sich ein umwerfender Blick auf den Lac de Roselend eröffnet.
In dem Azurblau des Wasser spiegeln sich mächtige Felsmassive, nur
links, der Straße nach Nordosten folgend, sieht es lieblicher aus.
Dorthin fällt die Strasse einige zehn Meter ab, bis sie fast auf Niveau des
Sees ist. Von hier sind es nur fünf Minuten zu Fuß bis zum See, an dem immer
Leute baden. Tim und ich hielten die Tradition aufrecht und schwammen einige
Meter, während sich Andy, Till und Tobi noch oben auf dem Vorpass ein wenig ausruhten.
Ist der Roselend bis zum See sehr steil und unangenehm, so ist das ab hier anders.
Die langezogene Serpentine, die man vom Vorpass unter den Felsklüften daliegen sieht,
macht nur einen steilen Eindruck, ist aber wahrlich freundlich zu befahren.
Die Landschaft ist atemberaubend. Vom See
weg führt die Straße durch grüne Matten; ein Gebirgsbach hinterlässt einen
waghalsigen Eindruck, die Felsen blicken drohend herab.
Nun war der letzte Pass des heutigen Tages geschafft; wir waren alle froh zusehen,
dass die nötige Kraft immer noch da ist, vor allem ich mit meinen knapp 500 km
Vorbereitung in diesem Jahr.
Die Abfahrt vom Roselend nach Bourg St. Maurice zeigte zwei Tücken:
Erstmal verheißt sie nach einem anfänglichen Serpentinenstück und darauffolgender leichten Kurven,
als High-Speed-Strecke weiterzugehen, was allerdings von einer plötzlich auftretenden rechten Haarnadelkurve
stärkstmöglich verneint wird, die man nicht mit 70 anfahren sollte, da man sich sonst plötzlich mit zwei blockierenden
Reifen in die Kurve schlitternd wiederfände, dem unabgeschirmten Abhang
zur Linken auf sich zukommen sähe und womöglich noch auf den ungeebneten Seitenstreifen auszuweichen
hätte, um den natürlich nicht ausbleibenden Gegenverkehr zu umgehen, auf dessen Spur man sich inzwischen
vom Leben verabschiedet hat.
Hat man diese Klippe umschifft und wiegt sich aufgrund der alpinen Ruhe in Sicherheit, so
aufgepasst - man läuft Gefahr, wie wir zum Sparringspartner im Training der Alpenrallye zu werden.
Heulenden Motors war plötzlich ein Fiat 500 hinter uns aufgetaucht, der uns auch tatsächlich
auf dieser schmalen Straße überholen konnte, nachdem er zuvor schon einige Male mit quietschenden
Reifen in Serpentinen neben uns zu Stande gekommen war, als er einsehen musste, dass hier noch kein Durchkommen war.
Wir waren froh, als uns dieser Todeskandidat unversehrt hinter sich ließ.
Glücklich über das Wetter, glücklich über die schönen Berge des Tages, glücklich über die
Gewissheit, auch diese Tour zu bestehen und glücklich, zu leben kamen wir heute in Aime an,
wo wir nach einem kurzen Marsch durch das Dorf und einem üppigen Spaghettiessen beim Italiener
die wohlverdiente Nachtruhe antraten.