Santuario della Verna (1130 m)

Mitte September 1224 räkelte sich Francesco Giovanni di Pietro Bernardone aus Assisi seufzend in seiner Felsnische am Monte La Verna. Im war nicht gar zu wohl, denn er fand die Höhle alles andere als erbaulich: von der Decke baumelten Spinnweben und Moosschlieren, auf dem Boden lag das verkohlte Holz eines erloschenen Feuers kreuz und quer herum, und es stank erbärmlich nach kaltem Rauch, ranziger Ziegenmilch und Fledermauskacke. Aber die Höhle war sein eigen, hier verwirklichte er seinen Traum von den eigenen vier Wänden. Die Höhle war wohl keine Top-Immobilie, aber tatsächlich gehörte dem Francesco der ganze Berg, ein Geschenk des Grafen Orlando di Chiusi della Verna. Heilig war Francesco damals noch nicht, nur hatte er die Gesellschaft der Menschen so richtig über. Außerdem knurrte sein Magen, weil er seit Jahrzehnten nichts Ordentliches mehr gegessen hatte. Draußen waberte kühler Nebel durch den Bergwald, drängelte sich in die Nische und brachte eine erste Vorahnung des nahen Herbstes. In der kalten Luft spannte sich die Haut über Francescos dünnen Knochen und juckte ohne Unterlass. Gähnend rieb er sich die Hände und wickelte sich fester in seinen groben Mantel. Die Augenlider wurden ihm schwer und schwerer, bis sein müder Kopf gegen den feuchten Stein knallte. Verwirrt schreckte Francesco auf. Vor ihm hing ein gekreuzigter Seraph mitten zwischen den Spinnweben oben und der Asche unten, die sechs Flügel schwach zuckend, den Mund verzogen vor Schmerzen. Bevor ihm Francesco helfen konnte, verschwand der Seraph ohne einen Laut im Nebel. Beinahe gleichzeitig fingen Francescos Hand- und Fußgelenke tierisch an zu pochen. Wie ein Ziegenbock sprang er in der Höhle umher und kratzte sich manisch mit den Fingern an den Füßen und den Zehen an den Händen. Da platzte ihm die Haut auf, und Blut spritzte auf die Felsen. Francesco schrie, und seine Ordensbrüder, die im Wald Holz gehackt hatten, rannten mit wehenden Röcken herbei…
So oder ähnlich hat sich die Stigmatisierung des heiligen Franziskus zugetragen, an jenem Tag weit vor unserer Zeit. Um das Ereignis entsprechend zu würdigen, baute der Franziskanerorden die Einsiedelei um die Höhle herum aus. Derart enstand in mehreren Bauphasen bis Ende des Mittelalters das Santuario della Verna mit Basilika, Kreuzgang und verschiedenen Kapellen.
Und es steht heute noch da, am Südrand des Berges, der mittlerweile Monte Penna heißt, hoch über dem Casentino im Osten der Toskana, und ist weiterhin einer der Hauptanziehungspunkte für Pilgerfahrten in Mittelitalien. Das Kloster befindet sich gerade noch so im Nationalpark der Foreste Casentinesi; vermutlich hat man den Park absichtlich so weit nach Süden verlängert, dass ein Zipfel den Bereich der Anlage umfasst. Der Baumbestand um das Kloster herum ist jahrhundertelang von den Franziskanern gehegt und gepflegt worden. Es wachsen dort uralte, riesige Buchen mit gewaltigem Stammumfang.
In der Nähe des Klosters gibt es noch einen anderen besonderen Ort. Das ist kein Wunder, die Toskana ist vollgestopft mit historischen Ortschaften oder Baudenkmälern. Ein Stück unterhalb des Klosters liegt nämlich Caprese Michelangelo, am Namen unschwer zu identifizieren als die Geburtsstätte des künstlerischen Tausendsassas Michelangelo Buonarroti. Tatsächlich hat er sich von den Landschaften des Casentino inspirieren lassen und diese in einigen seiner Werke als Hintergrund benutzt. Um Chiusi della Verna herum findet man Aussichtspunkte, an denen man dieses Thema vertiefen kann.