24-Stunden-Rennen am Nürburgring 299,1 km / 7772 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Carlos
Von Carlos –
So gut vorbereitet wie noch nie erwartete ich voller Enthusiasmus und ehrgeiziger Ziele die diesjährige Austragung des 24-Stunden-Rennens. Seit Neujahr war ich 11.400 km Rennrad gefahren. Wir waren im Frühsommer zwei Wochen in den Schweizer Alpen gewesen; ich hatte dort u.a. am Engadin-Radmarathon teilgenommen und war den Passo del Mortirolo - den mit der brutalen Steigung - hinaufgefahren. Das war wie ein Höhentrainingslager. Außerdem hatte ich an den letzten sechs Wochenenden vor dem 23./24.8. jeweils lange Strecken (200+ km) zurückgelegt.
Mein Ziel waren die 20 Runden, ganz klar!
...und Anja, meine Frau, wusste es genau: mein heimliches Ziel waren 21.
Und so sollte es gehen: ich würde nicht nochmals am Ende soviel Zeit verschenken, wie im letzten Jahr. Da hatte ich ja nach der 19. Runde aufgehört, obwohl noch Zeit für eine 20. gewesen wäre – und das trotz der anfänglichen Schwierigkeiten. Wenn ich zusätzlich noch geringfügig kürzere Pausen einlegen und ein kleines bisschen schneller fahren würde (deshalb hatte ich soviel trainiert wie noch nie zuvor), müsste die Zeit für 21 Runden ausreichen.
Früher als erhofft, ergab sich die Notwendigkeit, meine pflegebedürftige Mutter vorübergehend in unseren Haushalt aufzunehmen. Damit schien sich die Teilnahme meiner Liebsten an dem Rennen in Luft aufzulösen. Das war ein derber Rückschlag, der mich manchmal dermaßen deprimierte, dass ich öfters daran gedacht habe, auf die Teilnahme in diesem Jahr zu verzichten. Anja hat es dann kurz vor Schluss doch noch hinbekommen, dass sie zumindest an dem Samstagabend zum Nürburgring nachkommen konnte (Dank an meine Tochter Jana, meinen Nachbarn Willi und meine Mutter). So würde sie zumindest während des größten Teils der Rennphase bei mir sein.
Den größten Rückschlag versetzte mir allerdings die Wettervorhersage für das RaR-Wochenende. Seit dem Donnerstag war es „sonnenklar“: sie würde in Ägypten sein – und ganz sicher nicht in der Eifel. Dafür sollten jedoch ersatzweise heftige Niederschläge (auch Starkregen genannt) niedergehen. Auch das Polarmeer sollte beteiligt sein – in Form von jahreszeitlich unangemessen kalter Luftmassen. Danke, Grönland!!!
Nun, das freitägliche Vorbereitungs- und Abreiseprocedere lief schon beinahe routinemäßig. Mit Frank, meinem Rad-Spezi, hatte ich mich erst an der Startunterlagenausgabestelle verabredet. Der Regen setzte ein kurz vor der geplanten Abfahrt. Alleine und mit einem sehr mulmigen Gefühl machte ich mich auf. So ein Scheiß-Wetter...und dann auch noch ohne Anja. Je tiefer ich in die Eifel hinein fuhr, desto mehr Wasser fiel vom Himmel. Das war kein Regen mehr - das waren Sturzbäche.
Der nächste Schock erreichte mich unvorhergesagt. Die Zufahrt zum Fahrsicherheitszentrum (Ausgabestelle für die Startunterlagen) war bereits durch wartende Teilnehmer und deren Fahrzeuge komplett blockiert. Es war gerade noch soviel Platz, um das Auto von der Bundesstraße wegstellen zu können. Der Rückstau musste demnach bereits eine Länge von etwa eineinhalb Kilometer haben. Da ich ja nur die Startunterlagen abzuholen gedachte (und nicht ins Fahrerlager einfahren wollte), schummelte ich mich dann an der Wartereihe vorbei; stets darauf gefasst, von evtl. Gegenverkehr oder erbost reagierenden Wartenden gestoppt zu werden. Meine Rechnung ging auf: gähnende Leere auf den Parkplätzen des FSZ. Die Schlange der LKW, Wohnmobile, Wohnwagengespanne und PKW hatte sich vor dem Einfahrtstor zur Grand-Prix-Strecke gebildet. In der Wartereihe vor der Ausgabestelle traf dann auch mein Spezi ein. Wegen des von uns so nicht erwarteten Freitagabendandranges der Teilnehmer verabredeten wir, dass Frank Parkplätze für Rüdi, der ist auch schon seit Jahren immer dabei, und mich vor „unserer“ Box freihält, die wir am Samstagmorgen belegen würden.
So machte ich mich denn auf den Weg nach Nürburg, zur Pension Daun.
Hier wurde mir das Fehlen von Anja mal wieder besonders schmerzlich bewusst.
Um Irgendwas zu tun, ging ich am Abend ins Fahrerlager. Vielleicht hätte ich Frank noch was helfen können. Auch bestand die Möglichkeit, bei der „Nudelparty“ etwas zu Abend zu essen. Es stellte sich heraus, dass es Frank nicht erlaubt war, zwei Parkplätze freizuhalten. Der Andrang war bereits zu groß und die eingesetzten Ordnungskräfte hatten etwas gegen Reservierungen. Leider ließ ich mich davon aus der Ruhe bringen und ich überlegte fieberhaft, welche Optionen ich wahrnehmen könnte, um einen Platz für das Auto in unmittelbarer Nähe der Box zu ergattern. Das hat mich weit mehr beschäftigt, als mir lieb war. Ich musste mich wirklich zwingen, den geplanten Ablauf nicht über den Haufen zu werfen.
Am Samstagmorgen geriet ich dennoch wiederum in Hektik. Um früher als ursprünglich vorgesehen das Fahrerlager zu beziehen, wechselte ich schon vor dem Frühstück die Räder aus der Garage aufs Autodach und legte dann auch noch die verabredete Frühstückszeit eigenmächtig vor (bitte um Entschuldigung, Frau Daun).
Um viertel nach sieben war ich abfahrbereit. Mit bloßen Händen streifte ich das Wasser von den Autoscheiben – und hatte das Gefühl, meine Hände in Eiswasser zu tauchen. Das war der Augenblick, in dem ich zum ersten mal den Wunsch verspürte, zumindest teilweise, mit Neopren© überzogen zu sein. Tatsächlich gelang es mir, bereits um halb acht vor der Box zu sein und den begehrten freien Platz für das Auto zu besetzen. Damit war ich einer Sorge ledig.
Zur allgemeinen Überraschung war der Himmel wolkenlos. Bei allerbesten Bedingungen starteten die Läufer ihre Runde über die Nordschleife. Schon bald erschienen jedoch die ersten Wolken, begleitet von einem auffrischenden Wind.
Nachdem ich mich in meiner Ecke der Box Nr. 33 häuslich eingerichtet hatte, waren die Rennräder dran: Luftdruck, Beleuchtung, Startnummer. Immer noch trafen Teilnehmer im Fahrerlager ein – es brummte wie in einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Die einen waren schon im Renndress während die anderen erst ankamen.
Wieder andere ließen sich in Mannschaftsstärke zum Frühstück in der Kantine nieder oder vervollständigten in der Messezone auf den letzten Drücker ihre Ausrüstung.
Die Bekleidungsfrage schob ich vor mir her. Es war immer noch Hoffnung auf einen trockenen Start, da immer noch Wolkenlücken am Himmel zu sehen waren und nicht jede Wolke eine Regenwolke war. Ich sortierte meine Getränkeflaschen und wählte die Kuchenstücke aus, die ich in den ersten Stunden zu mir nehmen wollte. Ich hatte die Absicht, meinen Campingtisch nach draußen in die Wechselzone zu stellen und mich hier nach jeder Runde selbst zu versorgen. So lange, bis Anja eintreffen würde.
Um 11.00 h war die Teamleiter-Besprechung im Pressezentrum. Da musste ich ja jetzt selbst hin. Hier wurde nun deutlich sichtbar, dass es wiederum eine Zunahme der Teilnehmerzahlen gegeben hatte. An einen Sitzplatz war gar nicht zu denken, sogar die Stehplätze waren bald vergeben und nicht alle, die wollten, kamen in den Raum hinein.
Rüdi ließ auf sich warten, meldete sich dann telefonisch vom FSZ: er hatte kein Bargeld dabei und konnte das Pfand für den Transponder nicht bezahlen. Frank musste aushelfen und machte sich zum verabredeten Treffpunkt auf. Waldemar, auch so ein Verrückter, schaute vorbei und irgendwann hatte es Rüdi auch geschafft. Ich musste mich nun endlich mal umziehen und die Entscheidung treffen, wie und was es denn nun sein sollte. Der Wolkenanteil hatte weiterhin zugenommen und es waren leider keine weißen Wolken.
Zum gesponserten ROSE-Teamtrikot wählte ich Knielinge und Armlinge. Regenjacke und Überschuhe sollten vorerst in den Trikottaschen bleiben. Als Gegenleistung für das Trikot wünschte der Sponsor ein Mannschaftsfoto. Vor dem Hintergrund der Mercedes-Arena der Grand-Prix-Strecke nahmen Frank, sein Sohn und ich Aufstellung und ließen uns ablichten.
So, jetzt wurde es Zeit für die Startaufstellung. Die Organisatoren hatten sich was Neues ausgedacht: die Teilnehmer aller Radrennveranstaltungen des Samstages sollten sich gleichzeitig auf der Start/Zielgeraden aufstellen. Die verschiedenen Rennen sollten dann im Fünfminuten-Abstand angeschossen werden. Um 13:00 Uhr stand also eine unüberschaubare Masse bunt behelmter Radsportler auf dem Asphalt. Viele davon in kurz/kurz, einige eingepackt wie zu Winters Zeiten. Die allermeisten bereits in Regenzeug gehüllt.
Zuerst gingen die kurzen Distanzen (70 bzw. 140 km) auf die Strecke. Dann die 24-Std.-Straßenfahrer und zum Schluss die 24-Std.-MTB-Fahrer. Schrittchenweise schoben wir uns vor und es dauerte eine Weile, bis wir mal auf dem Sattel Platz nehmen und in die Pedale einklicken konnten. Die Herausforderung war eröffnet – die Meute von der Leine gelassen. Enttäuschung, Unsicherheit und Frustration, die sich im Vorfeld entwickelt hatten, fielen erstmal von mir ab. Die Aufmerksamkeit galt jetzt der Strecke und dem Pulk, in dem zu Beginn immer noch gefahren wurde. Es dauerte, wie immer, eine Weile bis sich das Feld in die Länge gezogen hatte und die Abstände zu den Mitfahrern größer wurden. Herrlich war es auf bretthart aufgepumpten Reifen über den makellosen Asphalt zu surren. Die hundertfachen Freilaufgeräusche der Hinterräder waren Musik in meinen Ohren. Allerdings lagen auch schon die ersten Luftpumpen, Leuchten und Trinkflaschen auf der Strecke – alle Jahre wieder! Zum ersten mal ging es die Hatzenbach hinunter. Hier lag leider auch bereits der erste Verunglückte in der Auslaufzone. Den hatte es schon arg gebeutelt. Bis zur Fuchsröhre hatten sich die Pulks entzerrt und es war Platz genug, es ordentlich krachen zu lassen. Der Tacho blieb bei 91,5 km/h stehen – neuer persönlicher Geschwindigkeitsrekord. Na also, das war doch schon ein guter Anfang.
Auf der Ideallinie durch das Wehrseifen und an der Ex-Mühle ganz innen durch (einem Mitstreiter passte das gar nicht, obwohl ich mich durch Rufen vorher „angemeldet“ hatte); es zahlte sich aus, dass ich die Strecke kannte. Hinter der Kompression mussten die ersten bereits vom Rad. Neulinge offensichtlich, die die Steigung unterschätzt und nicht rechtzeitig in den kleinsten Gang geschaltet hatten. Das ist aber auch eine verzwickte Stelle: in der Kurve verlierst Du den gesamten Schwung und stehst im Nullkommanix vor der 13 % - Mauer. Jetzt ging es erstmal bergauf. Bei der ersten Auffahrt zur Hohen Acht scheint mein Puls bei 150 Schlägen einzementiert – jedes Jahr der selbe Wert. Hinab zum bzw. durch das Brünnchen war wieder high-speed angesagt. Den inneren Kurvenradius konnte ich länger als in den Jahren vorher beibehalten. Kein schlechtes Gefühl, wirklich nicht. Auf der mega-langen Geraden der Döttinger Höhe pfiff ein heftiger Seitenwind, leicht schräg von vorne. Egal – „nich lang schnacken – Kopp in’n Nacken“ und möglichst Anschluss an eine Gruppe finden.
Es war noch trocken und guter Dinge erreichte ich die Wechselzone, tauschte dort die Trinkflasche. Sie war gefüllt mit flüssigen Kohlehydraten. Essen war deshalb noch nicht nötig. Es war eine Angelegenheit von wenigen Sekunden und ich war schon wieder auf der Rennstrecke. Dann die ersten Regentropfen. Noch nicht genug, um anzuhalten und das Regenzeug anzuziehen. Vielleicht würde es ja alsbald wieder aufhören. Tat es aber nicht. Jetzt waren dann auch die Klamotten feucht. Der Regen fiel nun heftiger und die rotierenden Räder zogen von der Fahrbahn das Wasser hoch. Also doch Regenjacke und Überschuhe anziehen – aber zu spät. Risiko gespielt und verloren.
Der Regen wurde nochmals heftiger. Die Sicht lies nach und auf der Fahrbahn bildete sich aqua-planing. Das Wasser strömte an den Beinen entlang in die Überschuhe, vom Hals unter die Regenjacke. Zusätzlich geduscht von der Fontäne des Hinterrades schwamm ich schon bald von Kopf bis Fuß im Wasser. Regenfreie Abschnitte wechselten sich ab mit vorübergehenden Schauern. Nach jeder Dusche öffnete ich die Regenjacke, um darunter mit Hilfe des Fahrtwindes ein bisschen abzutrocknen. Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera: Kälte oder Nässe.
Obwohl diese Verhältnisse alles andere als optimal waren, kam ich gut voran. Jede Stunde eine Runde. Daran änderten auch die diversen Stopps, die ich einlegen musste, um z.B. die Regenüberschuhe anzuziehen und - wie üblich - meine Lieblingsleitplanke aufzusuchen, nichts.
Mittlerweile hatte ich die vierte Trinkflasche vom Tisch genommen und hoffte, dass meine Frau mich beim nächsten Wechsel empfangen würde. Dem war auch so und die Freude war riesengroß. Zum Wiedersehen gab es erhitzten Kartoffelpüree und einen heißen Kaffee. Immer noch bis auf die Haut durchnässt, spulte ich zwei weitere Runden ab. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, so dass ich nach der sechsten Runde, seit dem Start waren sechseinhalb Stunden vergangen, trockene Kleidung anziehen konnte. Was für ein Wohlgefühl! Damit das möglichst lange so bleiben konnte, packte ich die neuen Schuhe bereits in die Überschuhe ein und steckte die Schutzbleche an das „Nachtfahrrad“ (es hat in dieser Nacht übrigens die 50.000-km-Marke geknackt). Sollte es wieder regnen, wollte ich schon vorher gewappnet sein. Trocken und warm angezogen fehlte dann das sehr unangenehme Empfinden, das der heftige Gegenwind auf der schnellen Abfahrt die Hatzenbach hinunter bis dahin ausgelöst hatte. Lange konnte ich das Gefühl nicht genießen. Diesmal wurden Hemd und Trikot von innen feucht: vom Schweiß, der sich vor Allem in der zweiten Hälfte, wenn die Steigungen kommen, auf der Haut bildete – und das nicht zu knapp. Da halfen auch die weit geöffneten Reisverschlüsse nur geringfügig. Auf den jeweils folgenden Abfahrten musste dann schleunigst wieder zugezogen werden, um eine Unterkühlung zu vermeiden.
Mit der Dunkelheit begann die Zeit der Leiden. Nässe und Kälte der vergangenen Stunden forderten jetzt ihren Tribut. Heftige Schmerzen im rechten Schultergelenk (eine dauerhafte Spätfolge der Verletzungen, die ich mir 2006 beim Sturz über einen Hund zugezogen habe) und Kniebeschwerden, außerdem war die Kontaktstelle zum Sattel gereizt. Die orangefarbenen Brillenscheiben schränkten die Sicht mehr ein, als ich es erwartet hatte. Dies lies sich ja nun leicht verbessern: Anja setzte mir Kontaktlinsen ein. Nicht besser wurden allerdings die anderen Beschwerden. Der Schulterschmerz wurde immer schlimmer und ich hatte keine Möglichkeit das zu lindern. Alle Versuche, eine schonende Haltung zu finden, waren ohne Erfolg. Arm nach hinten, Arm nach hinten abgewinkelt bis zum Schulterblatt, Arm nach vorne vor die Brust, Arm hoch über den Kopf, Schulter nach vorne oder Schulter nach hinten – wer mich beobachtet hat, hätte denken können, ich würde eine neuartige Sportart betreiben; „Gymnicycle“ oder so. Immer öfter musste ich außerdem aus dem Sattel und mein Sitzfleisch entlasten. Da war es schon gar nicht mehr so schlimm, dass ich in manchen Runden sogar zweimal zum Pinkeln anhalten musste. Meine Rundenzeiten wurden unterirdisch. Der Frust übernahm jetzt die Oberhand. Die Zeit lief mir davon und ich hatte Schmerzen. Ich nahm sogar zwei Tabletten ein, die vorübergehend ein wenig Linderung brachten. Die Standzeiten in der Wechselzone zogen sich länger hin. Es fiel mir zunehmend schwerer, mich für eine weitere Runde zu entscheiden. Anja wollte mir die alleinige Entscheidung überlassen. Dennoch motivierte sie mich jeweils, zumindest noch für eine Runde. Sie wusste genau, dass ich es später bereuen würde, zu früh das Handtuch geschmissen zu haben.
Schon bei der Einfahrt in die Mercedes-Arena blies ein heftiger Gegenwind, der sich Richtung Hatzenbach - wegen der hohen Fahrgeschwindigkeit - zum gefühlten Sturm entwickelte. Mit einem regelrechten Widerwillen verlies ich jeweils die relativ windgeschützte Wechselzone. Die kurzen, steilen Steigungen bis zum Bergwerk brachten mich regelmäßig zur Verzweiflung. Die Muskeln schmerzten und ich wäre am Liebsten abgestiegen. Ganz anders die Verhältnisse die lange Steigung durch Klostertal, Steilstrecke und Hohe Acht hinauf. Hier war der Tritt nach einer anfänglichen Schwierigkeit, die es zu überwinden galt, rund und regelmäßig mit hoher Drehzahl. Zumindest die Beine waren gut in Form. Dieses gute Gefühl wurde jedoch von den übrigen Beschwerden massiv überlagert. Im Laufe der Nacht kühlte es weiter ab. Ich tauschte Wintertrikot gegen Winterjacke, zu der ich später auch noch die Windweste anzog. Auf der Rennstrecke war Einiges los. So viele Teilnehmer hatte ich nachts noch nie gesehen. Es gab gar keine größeren Lücken im Feld. Immer und überall waren mehrere Lichter zu sehen, entweder fein säuberlich aufgereiht oder in ungeordneten Gruppen. Außerdem gab es im Abschnitt Wippermann eine lichtschrankenausgelöste „Fotofalle“, die fleißig Blitzlichter in die Dunkelheit schoss. Wie üblich gab es auch wieder Einblicke in die - kurz parallel verlaufende - MTB-Strecke. Das in den letzten Jahren lieb gewonnene Käuzchen an der Eiskurve hatte in dieser Nacht wohl eine andere Verabredung. Es lies sich nicht hören. Ersatzweise waren unterwegs gelegentlich andere, mir unbekannte, Tierstimmen zu vernehmen.
Eine weitere neuartige Erfahrung für mich war, dass oft viel zu dicht überholt wurde. Sowohl der seitliche Abstand als auch der Platz nach dem Einscheren war manches Mal unverschämt knapp. Absolut unverständlich, da auf der Strecke genügend Platz zum rücksichtsvollen Vorbeifahren war. Mehrmals habe ich mich bei den Übeltätern beschwert. Das Fahren ohne Licht wurde von den patroullierenden Streckenposten leider auch nicht konsequent genug geahndet. Die Gefällestrecken hinunter ohne Rücklicht zu fahren ist für alle Beteiligten lebensgefährlich. Bei hohem Tempo von hinten auf ein unbeleuchtetes Rennrad zu stoßen – diese Erfahrung muss Niemand machen. Mir ist auch nicht klar, was die Kollegen für einen Vorteil darin sehen, ohne (Rück-) Licht zu fahren.
Ich quälte mich also weiterhin über die Nordschleife. Mir war vollkommen klar, dass ich die 20 Runden so nicht schaffen würde. Auch 19 waren schon ausgeschlossen. Ich fragte mich, wie lange ich die Tortur noch ertragen würde. Keinesfalls bis 14:00 h - auf diese Zeit war der Zielschluss festgelegt worden. Mein sportliches Ziel in milchstraßenweiter Entfernung, zweifelte ich am Sinn für weitere stundenlange Quälereien. Noch zehn Stunden auf einem wunden Hintern sitzen, mit heftigen Schmerzen im Schultergelenk den Lenker greifen und mit zwickendem Knie in die Pedale treten? Ich wusste ganz genau, dass ich diese Moral nicht hatte. Dennoch tat ich mich sehr schwer damit, den Notaus-Knopf zu drücken und das Rad in die Ecke zu stellen. Ich hatte noch nicht das Gefühl, am Ende zu sein, genug gekämpft zu haben. Nochmals reihte ich mich ein, um mich in der Mercedes-Arena und an der Hatzenbach vom kalten Gegenwind ordentlich durchpusten zu lassen. Die Temperatur war mittlerweile auf 5 ° C herunter gefallen. Ich sehnte förmlich meine Lieblingsleitplanke herbei und hatte auch nichts dagegen, nach einer halben Stunde ein weiters Mal eine Pinkelpause einlegen zu müssen. Stehen war allemal angenehmer als Fahren. Meine Stimmung wechselte mehrfach während der letzten Runden. Hier: ich will noch nicht aufgeben, ich komme doch immer noch ganz gut die Steigungen hoch wenn ich einmal im Schwung bin. Da: das halte ich keine sieben Stunden mehr aus; und wenn doch, kämen trotzdem nur maximal 18 Runden zusammen. Wozu also diese Strapazen. Die Wirkung des Schmerzmittels hatte mittlerweile nachgelassen. Weitere pharmazeutische Unterstützung wollte ich nicht einnehmen – als nächstes wären dann leistungssteigernde Mittel dran, oder wie? Schon mit dem Voltaren© im Blut, so schien es mir, hatte ich die Grauzone betreten.
Nach einer Runde dauerte es wieder eine ganze Weile, bis ich den Drang, endlich aufzuhören, besiegt hatte und mich, mit einem heißen Snack im Magen, mit einem Kuss von Anja verabschiedete. Ich bin sicher, sie hat mich bemitleidet – aber nicht zum Aufhören überredet. Das habe ich dann selbst und ganz alleine entschieden. Ich hatte mir zwar als Minimalziel vorgenommen, das Hellwerden noch auf dem Rennrad zu erleben. Doch ein technischer Defekt brachte dann das Fass zum Überlaufen. Bereits in der Runde vorher war mir beim Schalten die Kette einmal vom Blatt nach Innen gefallen. Jetzt rutschte sie in einer ähnlichen Situation nach außen, über das große Kettenblatt hinweg. Ich kettete klein, vermied fortan den Wechsel des Blattes und konnte mich bergab nur noch von der Schwerkraft vorantreiben lassen.
Hatte ich jetzt einen Grund gefunden, der sozusagen entpersonifiziert war, der nicht mit meiner persönlichen Disposition in Verbindung gebracht werden konnte, der nicht auf mich zurück fiel??? Ein technischer Defekt – dafür konnte ich nichts. Das lag außerhalb meiner Fähigkeiten.
Jedenfalls schmiss ich um 05:40 h, noch vor dem Hellwerden, nach Vollendung der 13. Runde das Handtuch.
Da war erstmal nur Erleichterung, später dann Enttäuschung. Anja half mir beim Abrüsten. Trockene Klamotten – was für eine Wohltat. Wir packten das Equipment ins Auto. Es war eine gespenstische Ruhe in der Box und auf dem Parkplatz. Frank und Rüdi waren noch unterwegs. Marica, Franks Frau, schlief mit den Kindern im Wohnmobil. Deshalb machten wir uns still und leise vom Acker, hinterließen nur einen kleinen Notizzettel.
Als wir in das Ahrtal hinab fuhren, ging an einem wolkenlosen Himmel die Sonne auf und tauchte die Landschaft in orange-warmes Licht. Es musste einen Heidenspaß machen, mit dem Rad über die Nordschleife in diesen Morgen hinein zu fahren.
Noch ganz unter dem Einfluss der erlebten Strapazen stehend, habe ich noch am Sonntagmorgen meiner Tochter eine Erklärung unterschrieben. Demnach würde ich auf eine Teilnahme am nächstjährigen 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring verzichten.
Bereits am Montag habe ich Verhandlungen mit ihr geführt. Inzwischen habe ich mich aus der Selbstverpflichtung freigekauft.
Also dann: auf ein Neues im Jahr 2009.
Mein Ziel waren die 20 Runden, ganz klar!
...und Anja, meine Frau, wusste es genau: mein heimliches Ziel waren 21.
Und so sollte es gehen: ich würde nicht nochmals am Ende soviel Zeit verschenken, wie im letzten Jahr. Da hatte ich ja nach der 19. Runde aufgehört, obwohl noch Zeit für eine 20. gewesen wäre – und das trotz der anfänglichen Schwierigkeiten. Wenn ich zusätzlich noch geringfügig kürzere Pausen einlegen und ein kleines bisschen schneller fahren würde (deshalb hatte ich soviel trainiert wie noch nie zuvor), müsste die Zeit für 21 Runden ausreichen.
Früher als erhofft, ergab sich die Notwendigkeit, meine pflegebedürftige Mutter vorübergehend in unseren Haushalt aufzunehmen. Damit schien sich die Teilnahme meiner Liebsten an dem Rennen in Luft aufzulösen. Das war ein derber Rückschlag, der mich manchmal dermaßen deprimierte, dass ich öfters daran gedacht habe, auf die Teilnahme in diesem Jahr zu verzichten. Anja hat es dann kurz vor Schluss doch noch hinbekommen, dass sie zumindest an dem Samstagabend zum Nürburgring nachkommen konnte (Dank an meine Tochter Jana, meinen Nachbarn Willi und meine Mutter). So würde sie zumindest während des größten Teils der Rennphase bei mir sein.
Den größten Rückschlag versetzte mir allerdings die Wettervorhersage für das RaR-Wochenende. Seit dem Donnerstag war es „sonnenklar“: sie würde in Ägypten sein – und ganz sicher nicht in der Eifel. Dafür sollten jedoch ersatzweise heftige Niederschläge (auch Starkregen genannt) niedergehen. Auch das Polarmeer sollte beteiligt sein – in Form von jahreszeitlich unangemessen kalter Luftmassen. Danke, Grönland!!!
Nun, das freitägliche Vorbereitungs- und Abreiseprocedere lief schon beinahe routinemäßig. Mit Frank, meinem Rad-Spezi, hatte ich mich erst an der Startunterlagenausgabestelle verabredet. Der Regen setzte ein kurz vor der geplanten Abfahrt. Alleine und mit einem sehr mulmigen Gefühl machte ich mich auf. So ein Scheiß-Wetter...und dann auch noch ohne Anja. Je tiefer ich in die Eifel hinein fuhr, desto mehr Wasser fiel vom Himmel. Das war kein Regen mehr - das waren Sturzbäche.
Der nächste Schock erreichte mich unvorhergesagt. Die Zufahrt zum Fahrsicherheitszentrum (Ausgabestelle für die Startunterlagen) war bereits durch wartende Teilnehmer und deren Fahrzeuge komplett blockiert. Es war gerade noch soviel Platz, um das Auto von der Bundesstraße wegstellen zu können. Der Rückstau musste demnach bereits eine Länge von etwa eineinhalb Kilometer haben. Da ich ja nur die Startunterlagen abzuholen gedachte (und nicht ins Fahrerlager einfahren wollte), schummelte ich mich dann an der Wartereihe vorbei; stets darauf gefasst, von evtl. Gegenverkehr oder erbost reagierenden Wartenden gestoppt zu werden. Meine Rechnung ging auf: gähnende Leere auf den Parkplätzen des FSZ. Die Schlange der LKW, Wohnmobile, Wohnwagengespanne und PKW hatte sich vor dem Einfahrtstor zur Grand-Prix-Strecke gebildet. In der Wartereihe vor der Ausgabestelle traf dann auch mein Spezi ein. Wegen des von uns so nicht erwarteten Freitagabendandranges der Teilnehmer verabredeten wir, dass Frank Parkplätze für Rüdi, der ist auch schon seit Jahren immer dabei, und mich vor „unserer“ Box freihält, die wir am Samstagmorgen belegen würden.
So machte ich mich denn auf den Weg nach Nürburg, zur Pension Daun.
Hier wurde mir das Fehlen von Anja mal wieder besonders schmerzlich bewusst.
Um Irgendwas zu tun, ging ich am Abend ins Fahrerlager. Vielleicht hätte ich Frank noch was helfen können. Auch bestand die Möglichkeit, bei der „Nudelparty“ etwas zu Abend zu essen. Es stellte sich heraus, dass es Frank nicht erlaubt war, zwei Parkplätze freizuhalten. Der Andrang war bereits zu groß und die eingesetzten Ordnungskräfte hatten etwas gegen Reservierungen. Leider ließ ich mich davon aus der Ruhe bringen und ich überlegte fieberhaft, welche Optionen ich wahrnehmen könnte, um einen Platz für das Auto in unmittelbarer Nähe der Box zu ergattern. Das hat mich weit mehr beschäftigt, als mir lieb war. Ich musste mich wirklich zwingen, den geplanten Ablauf nicht über den Haufen zu werfen.
Am Samstagmorgen geriet ich dennoch wiederum in Hektik. Um früher als ursprünglich vorgesehen das Fahrerlager zu beziehen, wechselte ich schon vor dem Frühstück die Räder aus der Garage aufs Autodach und legte dann auch noch die verabredete Frühstückszeit eigenmächtig vor (bitte um Entschuldigung, Frau Daun).
Um viertel nach sieben war ich abfahrbereit. Mit bloßen Händen streifte ich das Wasser von den Autoscheiben – und hatte das Gefühl, meine Hände in Eiswasser zu tauchen. Das war der Augenblick, in dem ich zum ersten mal den Wunsch verspürte, zumindest teilweise, mit Neopren© überzogen zu sein. Tatsächlich gelang es mir, bereits um halb acht vor der Box zu sein und den begehrten freien Platz für das Auto zu besetzen. Damit war ich einer Sorge ledig.
Zur allgemeinen Überraschung war der Himmel wolkenlos. Bei allerbesten Bedingungen starteten die Läufer ihre Runde über die Nordschleife. Schon bald erschienen jedoch die ersten Wolken, begleitet von einem auffrischenden Wind.
Nachdem ich mich in meiner Ecke der Box Nr. 33 häuslich eingerichtet hatte, waren die Rennräder dran: Luftdruck, Beleuchtung, Startnummer. Immer noch trafen Teilnehmer im Fahrerlager ein – es brummte wie in einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Die einen waren schon im Renndress während die anderen erst ankamen.
Wieder andere ließen sich in Mannschaftsstärke zum Frühstück in der Kantine nieder oder vervollständigten in der Messezone auf den letzten Drücker ihre Ausrüstung.
Die Bekleidungsfrage schob ich vor mir her. Es war immer noch Hoffnung auf einen trockenen Start, da immer noch Wolkenlücken am Himmel zu sehen waren und nicht jede Wolke eine Regenwolke war. Ich sortierte meine Getränkeflaschen und wählte die Kuchenstücke aus, die ich in den ersten Stunden zu mir nehmen wollte. Ich hatte die Absicht, meinen Campingtisch nach draußen in die Wechselzone zu stellen und mich hier nach jeder Runde selbst zu versorgen. So lange, bis Anja eintreffen würde.
Um 11.00 h war die Teamleiter-Besprechung im Pressezentrum. Da musste ich ja jetzt selbst hin. Hier wurde nun deutlich sichtbar, dass es wiederum eine Zunahme der Teilnehmerzahlen gegeben hatte. An einen Sitzplatz war gar nicht zu denken, sogar die Stehplätze waren bald vergeben und nicht alle, die wollten, kamen in den Raum hinein.
Rüdi ließ auf sich warten, meldete sich dann telefonisch vom FSZ: er hatte kein Bargeld dabei und konnte das Pfand für den Transponder nicht bezahlen. Frank musste aushelfen und machte sich zum verabredeten Treffpunkt auf. Waldemar, auch so ein Verrückter, schaute vorbei und irgendwann hatte es Rüdi auch geschafft. Ich musste mich nun endlich mal umziehen und die Entscheidung treffen, wie und was es denn nun sein sollte. Der Wolkenanteil hatte weiterhin zugenommen und es waren leider keine weißen Wolken.
Zum gesponserten ROSE-Teamtrikot wählte ich Knielinge und Armlinge. Regenjacke und Überschuhe sollten vorerst in den Trikottaschen bleiben. Als Gegenleistung für das Trikot wünschte der Sponsor ein Mannschaftsfoto. Vor dem Hintergrund der Mercedes-Arena der Grand-Prix-Strecke nahmen Frank, sein Sohn und ich Aufstellung und ließen uns ablichten.
So, jetzt wurde es Zeit für die Startaufstellung. Die Organisatoren hatten sich was Neues ausgedacht: die Teilnehmer aller Radrennveranstaltungen des Samstages sollten sich gleichzeitig auf der Start/Zielgeraden aufstellen. Die verschiedenen Rennen sollten dann im Fünfminuten-Abstand angeschossen werden. Um 13:00 Uhr stand also eine unüberschaubare Masse bunt behelmter Radsportler auf dem Asphalt. Viele davon in kurz/kurz, einige eingepackt wie zu Winters Zeiten. Die allermeisten bereits in Regenzeug gehüllt.
Zuerst gingen die kurzen Distanzen (70 bzw. 140 km) auf die Strecke. Dann die 24-Std.-Straßenfahrer und zum Schluss die 24-Std.-MTB-Fahrer. Schrittchenweise schoben wir uns vor und es dauerte eine Weile, bis wir mal auf dem Sattel Platz nehmen und in die Pedale einklicken konnten. Die Herausforderung war eröffnet – die Meute von der Leine gelassen. Enttäuschung, Unsicherheit und Frustration, die sich im Vorfeld entwickelt hatten, fielen erstmal von mir ab. Die Aufmerksamkeit galt jetzt der Strecke und dem Pulk, in dem zu Beginn immer noch gefahren wurde. Es dauerte, wie immer, eine Weile bis sich das Feld in die Länge gezogen hatte und die Abstände zu den Mitfahrern größer wurden. Herrlich war es auf bretthart aufgepumpten Reifen über den makellosen Asphalt zu surren. Die hundertfachen Freilaufgeräusche der Hinterräder waren Musik in meinen Ohren. Allerdings lagen auch schon die ersten Luftpumpen, Leuchten und Trinkflaschen auf der Strecke – alle Jahre wieder! Zum ersten mal ging es die Hatzenbach hinunter. Hier lag leider auch bereits der erste Verunglückte in der Auslaufzone. Den hatte es schon arg gebeutelt. Bis zur Fuchsröhre hatten sich die Pulks entzerrt und es war Platz genug, es ordentlich krachen zu lassen. Der Tacho blieb bei 91,5 km/h stehen – neuer persönlicher Geschwindigkeitsrekord. Na also, das war doch schon ein guter Anfang.
Auf der Ideallinie durch das Wehrseifen und an der Ex-Mühle ganz innen durch (einem Mitstreiter passte das gar nicht, obwohl ich mich durch Rufen vorher „angemeldet“ hatte); es zahlte sich aus, dass ich die Strecke kannte. Hinter der Kompression mussten die ersten bereits vom Rad. Neulinge offensichtlich, die die Steigung unterschätzt und nicht rechtzeitig in den kleinsten Gang geschaltet hatten. Das ist aber auch eine verzwickte Stelle: in der Kurve verlierst Du den gesamten Schwung und stehst im Nullkommanix vor der 13 % - Mauer. Jetzt ging es erstmal bergauf. Bei der ersten Auffahrt zur Hohen Acht scheint mein Puls bei 150 Schlägen einzementiert – jedes Jahr der selbe Wert. Hinab zum bzw. durch das Brünnchen war wieder high-speed angesagt. Den inneren Kurvenradius konnte ich länger als in den Jahren vorher beibehalten. Kein schlechtes Gefühl, wirklich nicht. Auf der mega-langen Geraden der Döttinger Höhe pfiff ein heftiger Seitenwind, leicht schräg von vorne. Egal – „nich lang schnacken – Kopp in’n Nacken“ und möglichst Anschluss an eine Gruppe finden.
Es war noch trocken und guter Dinge erreichte ich die Wechselzone, tauschte dort die Trinkflasche. Sie war gefüllt mit flüssigen Kohlehydraten. Essen war deshalb noch nicht nötig. Es war eine Angelegenheit von wenigen Sekunden und ich war schon wieder auf der Rennstrecke. Dann die ersten Regentropfen. Noch nicht genug, um anzuhalten und das Regenzeug anzuziehen. Vielleicht würde es ja alsbald wieder aufhören. Tat es aber nicht. Jetzt waren dann auch die Klamotten feucht. Der Regen fiel nun heftiger und die rotierenden Räder zogen von der Fahrbahn das Wasser hoch. Also doch Regenjacke und Überschuhe anziehen – aber zu spät. Risiko gespielt und verloren.
Der Regen wurde nochmals heftiger. Die Sicht lies nach und auf der Fahrbahn bildete sich aqua-planing. Das Wasser strömte an den Beinen entlang in die Überschuhe, vom Hals unter die Regenjacke. Zusätzlich geduscht von der Fontäne des Hinterrades schwamm ich schon bald von Kopf bis Fuß im Wasser. Regenfreie Abschnitte wechselten sich ab mit vorübergehenden Schauern. Nach jeder Dusche öffnete ich die Regenjacke, um darunter mit Hilfe des Fahrtwindes ein bisschen abzutrocknen. Ich hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera: Kälte oder Nässe.
Obwohl diese Verhältnisse alles andere als optimal waren, kam ich gut voran. Jede Stunde eine Runde. Daran änderten auch die diversen Stopps, die ich einlegen musste, um z.B. die Regenüberschuhe anzuziehen und - wie üblich - meine Lieblingsleitplanke aufzusuchen, nichts.
Mittlerweile hatte ich die vierte Trinkflasche vom Tisch genommen und hoffte, dass meine Frau mich beim nächsten Wechsel empfangen würde. Dem war auch so und die Freude war riesengroß. Zum Wiedersehen gab es erhitzten Kartoffelpüree und einen heißen Kaffee. Immer noch bis auf die Haut durchnässt, spulte ich zwei weitere Runden ab. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, so dass ich nach der sechsten Runde, seit dem Start waren sechseinhalb Stunden vergangen, trockene Kleidung anziehen konnte. Was für ein Wohlgefühl! Damit das möglichst lange so bleiben konnte, packte ich die neuen Schuhe bereits in die Überschuhe ein und steckte die Schutzbleche an das „Nachtfahrrad“ (es hat in dieser Nacht übrigens die 50.000-km-Marke geknackt). Sollte es wieder regnen, wollte ich schon vorher gewappnet sein. Trocken und warm angezogen fehlte dann das sehr unangenehme Empfinden, das der heftige Gegenwind auf der schnellen Abfahrt die Hatzenbach hinunter bis dahin ausgelöst hatte. Lange konnte ich das Gefühl nicht genießen. Diesmal wurden Hemd und Trikot von innen feucht: vom Schweiß, der sich vor Allem in der zweiten Hälfte, wenn die Steigungen kommen, auf der Haut bildete – und das nicht zu knapp. Da halfen auch die weit geöffneten Reisverschlüsse nur geringfügig. Auf den jeweils folgenden Abfahrten musste dann schleunigst wieder zugezogen werden, um eine Unterkühlung zu vermeiden.
Mit der Dunkelheit begann die Zeit der Leiden. Nässe und Kälte der vergangenen Stunden forderten jetzt ihren Tribut. Heftige Schmerzen im rechten Schultergelenk (eine dauerhafte Spätfolge der Verletzungen, die ich mir 2006 beim Sturz über einen Hund zugezogen habe) und Kniebeschwerden, außerdem war die Kontaktstelle zum Sattel gereizt. Die orangefarbenen Brillenscheiben schränkten die Sicht mehr ein, als ich es erwartet hatte. Dies lies sich ja nun leicht verbessern: Anja setzte mir Kontaktlinsen ein. Nicht besser wurden allerdings die anderen Beschwerden. Der Schulterschmerz wurde immer schlimmer und ich hatte keine Möglichkeit das zu lindern. Alle Versuche, eine schonende Haltung zu finden, waren ohne Erfolg. Arm nach hinten, Arm nach hinten abgewinkelt bis zum Schulterblatt, Arm nach vorne vor die Brust, Arm hoch über den Kopf, Schulter nach vorne oder Schulter nach hinten – wer mich beobachtet hat, hätte denken können, ich würde eine neuartige Sportart betreiben; „Gymnicycle“ oder so. Immer öfter musste ich außerdem aus dem Sattel und mein Sitzfleisch entlasten. Da war es schon gar nicht mehr so schlimm, dass ich in manchen Runden sogar zweimal zum Pinkeln anhalten musste. Meine Rundenzeiten wurden unterirdisch. Der Frust übernahm jetzt die Oberhand. Die Zeit lief mir davon und ich hatte Schmerzen. Ich nahm sogar zwei Tabletten ein, die vorübergehend ein wenig Linderung brachten. Die Standzeiten in der Wechselzone zogen sich länger hin. Es fiel mir zunehmend schwerer, mich für eine weitere Runde zu entscheiden. Anja wollte mir die alleinige Entscheidung überlassen. Dennoch motivierte sie mich jeweils, zumindest noch für eine Runde. Sie wusste genau, dass ich es später bereuen würde, zu früh das Handtuch geschmissen zu haben.
Schon bei der Einfahrt in die Mercedes-Arena blies ein heftiger Gegenwind, der sich Richtung Hatzenbach - wegen der hohen Fahrgeschwindigkeit - zum gefühlten Sturm entwickelte. Mit einem regelrechten Widerwillen verlies ich jeweils die relativ windgeschützte Wechselzone. Die kurzen, steilen Steigungen bis zum Bergwerk brachten mich regelmäßig zur Verzweiflung. Die Muskeln schmerzten und ich wäre am Liebsten abgestiegen. Ganz anders die Verhältnisse die lange Steigung durch Klostertal, Steilstrecke und Hohe Acht hinauf. Hier war der Tritt nach einer anfänglichen Schwierigkeit, die es zu überwinden galt, rund und regelmäßig mit hoher Drehzahl. Zumindest die Beine waren gut in Form. Dieses gute Gefühl wurde jedoch von den übrigen Beschwerden massiv überlagert. Im Laufe der Nacht kühlte es weiter ab. Ich tauschte Wintertrikot gegen Winterjacke, zu der ich später auch noch die Windweste anzog. Auf der Rennstrecke war Einiges los. So viele Teilnehmer hatte ich nachts noch nie gesehen. Es gab gar keine größeren Lücken im Feld. Immer und überall waren mehrere Lichter zu sehen, entweder fein säuberlich aufgereiht oder in ungeordneten Gruppen. Außerdem gab es im Abschnitt Wippermann eine lichtschrankenausgelöste „Fotofalle“, die fleißig Blitzlichter in die Dunkelheit schoss. Wie üblich gab es auch wieder Einblicke in die - kurz parallel verlaufende - MTB-Strecke. Das in den letzten Jahren lieb gewonnene Käuzchen an der Eiskurve hatte in dieser Nacht wohl eine andere Verabredung. Es lies sich nicht hören. Ersatzweise waren unterwegs gelegentlich andere, mir unbekannte, Tierstimmen zu vernehmen.
Eine weitere neuartige Erfahrung für mich war, dass oft viel zu dicht überholt wurde. Sowohl der seitliche Abstand als auch der Platz nach dem Einscheren war manches Mal unverschämt knapp. Absolut unverständlich, da auf der Strecke genügend Platz zum rücksichtsvollen Vorbeifahren war. Mehrmals habe ich mich bei den Übeltätern beschwert. Das Fahren ohne Licht wurde von den patroullierenden Streckenposten leider auch nicht konsequent genug geahndet. Die Gefällestrecken hinunter ohne Rücklicht zu fahren ist für alle Beteiligten lebensgefährlich. Bei hohem Tempo von hinten auf ein unbeleuchtetes Rennrad zu stoßen – diese Erfahrung muss Niemand machen. Mir ist auch nicht klar, was die Kollegen für einen Vorteil darin sehen, ohne (Rück-) Licht zu fahren.
Ich quälte mich also weiterhin über die Nordschleife. Mir war vollkommen klar, dass ich die 20 Runden so nicht schaffen würde. Auch 19 waren schon ausgeschlossen. Ich fragte mich, wie lange ich die Tortur noch ertragen würde. Keinesfalls bis 14:00 h - auf diese Zeit war der Zielschluss festgelegt worden. Mein sportliches Ziel in milchstraßenweiter Entfernung, zweifelte ich am Sinn für weitere stundenlange Quälereien. Noch zehn Stunden auf einem wunden Hintern sitzen, mit heftigen Schmerzen im Schultergelenk den Lenker greifen und mit zwickendem Knie in die Pedale treten? Ich wusste ganz genau, dass ich diese Moral nicht hatte. Dennoch tat ich mich sehr schwer damit, den Notaus-Knopf zu drücken und das Rad in die Ecke zu stellen. Ich hatte noch nicht das Gefühl, am Ende zu sein, genug gekämpft zu haben. Nochmals reihte ich mich ein, um mich in der Mercedes-Arena und an der Hatzenbach vom kalten Gegenwind ordentlich durchpusten zu lassen. Die Temperatur war mittlerweile auf 5 ° C herunter gefallen. Ich sehnte förmlich meine Lieblingsleitplanke herbei und hatte auch nichts dagegen, nach einer halben Stunde ein weiters Mal eine Pinkelpause einlegen zu müssen. Stehen war allemal angenehmer als Fahren. Meine Stimmung wechselte mehrfach während der letzten Runden. Hier: ich will noch nicht aufgeben, ich komme doch immer noch ganz gut die Steigungen hoch wenn ich einmal im Schwung bin. Da: das halte ich keine sieben Stunden mehr aus; und wenn doch, kämen trotzdem nur maximal 18 Runden zusammen. Wozu also diese Strapazen. Die Wirkung des Schmerzmittels hatte mittlerweile nachgelassen. Weitere pharmazeutische Unterstützung wollte ich nicht einnehmen – als nächstes wären dann leistungssteigernde Mittel dran, oder wie? Schon mit dem Voltaren© im Blut, so schien es mir, hatte ich die Grauzone betreten.
Nach einer Runde dauerte es wieder eine ganze Weile, bis ich den Drang, endlich aufzuhören, besiegt hatte und mich, mit einem heißen Snack im Magen, mit einem Kuss von Anja verabschiedete. Ich bin sicher, sie hat mich bemitleidet – aber nicht zum Aufhören überredet. Das habe ich dann selbst und ganz alleine entschieden. Ich hatte mir zwar als Minimalziel vorgenommen, das Hellwerden noch auf dem Rennrad zu erleben. Doch ein technischer Defekt brachte dann das Fass zum Überlaufen. Bereits in der Runde vorher war mir beim Schalten die Kette einmal vom Blatt nach Innen gefallen. Jetzt rutschte sie in einer ähnlichen Situation nach außen, über das große Kettenblatt hinweg. Ich kettete klein, vermied fortan den Wechsel des Blattes und konnte mich bergab nur noch von der Schwerkraft vorantreiben lassen.
Hatte ich jetzt einen Grund gefunden, der sozusagen entpersonifiziert war, der nicht mit meiner persönlichen Disposition in Verbindung gebracht werden konnte, der nicht auf mich zurück fiel??? Ein technischer Defekt – dafür konnte ich nichts. Das lag außerhalb meiner Fähigkeiten.
Jedenfalls schmiss ich um 05:40 h, noch vor dem Hellwerden, nach Vollendung der 13. Runde das Handtuch.
Da war erstmal nur Erleichterung, später dann Enttäuschung. Anja half mir beim Abrüsten. Trockene Klamotten – was für eine Wohltat. Wir packten das Equipment ins Auto. Es war eine gespenstische Ruhe in der Box und auf dem Parkplatz. Frank und Rüdi waren noch unterwegs. Marica, Franks Frau, schlief mit den Kindern im Wohnmobil. Deshalb machten wir uns still und leise vom Acker, hinterließen nur einen kleinen Notizzettel.
Als wir in das Ahrtal hinab fuhren, ging an einem wolkenlosen Himmel die Sonne auf und tauchte die Landschaft in orange-warmes Licht. Es musste einen Heidenspaß machen, mit dem Rad über die Nordschleife in diesen Morgen hinein zu fahren.
Noch ganz unter dem Einfluss der erlebten Strapazen stehend, habe ich noch am Sonntagmorgen meiner Tochter eine Erklärung unterschrieben. Demnach würde ich auf eine Teilnahme am nächstjährigen 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring verzichten.
Bereits am Montag habe ich Verhandlungen mit ihr geführt. Inzwischen habe ich mich aus der Selbstverpflichtung freigekauft.
Also dann: auf ein Neues im Jahr 2009.