4000 Sekunden 17,6 km / 1313 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von tortenbäcker
Von tortenbäcker –
... Kurz vor dem Sustenbrüggli auf 1900 m hängt der Nebel dunkel über mir, grau und abweisend die Bergwelt. Es ist kühl, viel kühler als bei meinen letzten Versuchen. Und windstill, endlich mal kein Gegenwind. Touristen verlieren sich keine bei diesen Bedingungen hierhin, Einsamkeit umhüllt mich. Du musst das Tempo hoch halten, denke stets daran, runder Tritt! Schwer atmend geht es voran. Vielleicht klappt es ja heute, an dem Tag, an dem ich mir überhaupt keine Chancen ausgerechnet habe...
Eigentlich war dies ja alles nicht so geplant. Eigentlich wollte ich am Paris Marathon 2011 teilnehmen. Etwa zur Weihnachtszeit zwingen mich Kniebeschwerden aber dazu, dieses Projekt zu begraben. Die anfängliche Frustration ist schnell überwunden, kann ich doch jetzt um so mehr radfahren. Der überaus schöne und extrem schneearme Winter kommt mir dabei gelegen, auch im Norden sind Südhänge schon im ersten Quartal zum Teil schneefrei. Mit grossem Abstand der beste Winter seit Jahren! Zudem gönne ich mir einige Tage Tessiner Sonne (z.T mit Klaus), wenn im Norden die Bedingungen gerade garstig sind. Mein mit Bedacht gewählter Wohnort Luzern bringt für Radfahrer eindeutig Vorteile.
Ende April fühle ich mich schon recht fit und sehne mich nun nach einem Projekt, von dem ich träumen kann. In früheren Jahren bin ich öfter lange Touren gefahren, so zur Abwechslung suche ich mir nun ein Ziel, das mit Geschwindigkeit und nicht mit Länge zu tun hat. Wie schnell kann ich denn überhaupt sein? Da ich nie systematisch in diese Richtung trainiert habe, bin ich wohl nicht allzu schnell im Vergleich mit anderen. Dafür habe ich hoffentlich noch Potenzial, obwohl man mit 36 Lenzen auch keine Wunder erwarten darf. Als Vorbild aus einer anderen faszinierenden Disziplin kommt mir die Bergläuferlegende Bruno Brunod in den Sinn, der erst mit 32 Jahren mit dem Sky Running begonnen hat und ein paar unglaubliche Rekorde hält. Wie lange braucht man wohl, wenn man ein wenig Tempo macht, um von Cervinia (2000 m) das Matterhorn (4478 m) zu besteigen und wieder nach Cervinia zurückzukehren? Die Antwort steht in den Fussnoten, raten sei erlaubt!
Im 2008 bin ich mit wenig Vorbereitung die Susten Ostrampe in 1:14 h hochgekommen, am autofreien Freipass-Tag. Es müsste demnach noch um einiges schneller gehen. Wobei – an der Leistungsgrenze tut jedes Prozent Leistung weh, ein paar Minuten schneller kann schon eine kleine Welt bedeuten. Die 1:10 h zu knacken scheint mir realistisch, viel schneller aber kaum. Willkürlich setze ich meine Zielzeit auf 1:06:40 h beziehungsweise 4000 Sekunden fest. Daran muss ich sicher hart beissen, es könnte an einem guten Tag aber klappen, hoffe ich zumindest. Genau so sollten Herausforderungen sein, nicht zu leicht, aber auch nicht völlig utopisch. Natürlich ist dieses Tempo für richtig fitte Leute kein Problem, aber ebenso für den einen oder anderen völlig undenkbar. Wenn man nicht gerade Weltspitze ist, dann sind solche Ziele sowieso immer nur subjektiv am Limit, das spielt aber keine Rolle. Auch auf QD sind viel bessere Spitzenleistungen eingetragen, so zum Beispiel am Mont Ventoux.
Da ich mir dieses Ziel erst Ende April ausdenke, bin ich zu spät für strukturiertes Training, der Susten ist ja schon fast schneefrei! Sobald der Susten fahrbar ist, werde ich es probieren.
Mit Hilfe dieser Seite analysiere ich diverse meiner Bestzeiten und komme zum Schluss, dass meine anaerobe Schwelle etwa bei 300 Watt liegt. Und genau diese 300 Watt muss ich auch konstant auf die Strasse bringen, wenn ich nach 4000 Sekunden am Susten oben sein will. Die gesamte Strecke an der Schwelle fahren, über eine Stunde lang, das ist schon heftig. Denn man sagt ganz allgemein, dass man maximal eine Stunde an der anaeroben Schwelle Leistung bringen kann. Weltklasse-Halbmarathonläufer laufen deshalb ihren HM an der Schwelle (aktueller Rekord liegt bei 58:23 min, gehalten von Zersenay Tadese). Als Otto Durchschnittsjogger wäre eine derartige Taktik natürlich tödlich, da das Ziel nach einer Stunde noch etliche Kilometer entfernt ist.
Ich versuche, ein paar Zwischenzeiten zu errechnen. So sollte ich nach 17:30 min an der Ortstafel von Meien und nach 35:15 min an der markanten Kurve auf gut 1600 m vorbeikommen. Das Sustenbrüggli müsste ich nach weiteren 15:00 min passieren.
...Ortschild Meien, erste Durchgangszeit in 17:40 min. Etwas zu langsam, du musst schneller werden! Die Beine drehen rund, aber wie lange noch? Gleich das relative Flachstück, beschleunigen auf 25 km/h. Lenkerhaltung unten. Die Kuh links guckt mich fassungslos an. Gibt es weiter oben saftigeres Gras oder wozu die Eile? Der ist bestimmt befallen von – wie heisst es schon wieder – achja, von Menschenwahnsinn, Jakob Feldkreuz oder Artverwandtes. Seht wie er sich nur abmüht, dabei ist doch das schmackhafteste Gras gleich vor meiner Nase...
Eine Woche nach Ostern bin ich das erste Mal vor Ort. Der verkehrsfreie Susten wird auch von anderen Fahrern geschätzt, ein Umstand, der im QD Forum zu ausufernden Diskussionen führt. Bis zum Sustenbrüggli auf 1900 m ist er bereits offiziell offen, und Schnee ist auch danach nur recht spärlich vorhanden. Die Strasse scheint geräumt zu sein, doch ich drehe am Sustenbrüggli beim Schlagbaum um. Bis zur Kurve auf 1600 m bin ich bereits schnell gefahren, um ein Gefühl für das Tempo zu kriegen. Boahh, anstrengend! Keinesfalls hätte ich das noch weitere 600 hm lang ausgehalten. Ist das Ziel vielleicht doch zu hoch gesteckt?
Ein paar Tage später stehe ich wieder am Start in Wassen. Diesmal möchte ich bis Sustenbrüggli das Tempo halten. Den Beginn erwische ich etwas zu schnell, wodurch ich nach einer halben Stunde zu leiden beginne. Quäl dich du Sau! Ist das noch weit! Ich stoppe die Uhr am Sustenbrüggli bei 50:37 min, völlig ausgepumpt, aber mehr oder weniger noch in der Zeit. Für heute ist hier Schluss, aber damit es bei dem Speed bis ganz nach oben reicht, muss es noch optimaler laufen.
Wo gibt es denn noch Optimierungspotenzial? Natürlich kann die eigene Fitness besser werden. Davon abgesehen sollte ich natürlich die Pace sehr genau treffen, was mir recht schwer fällt. Das ist beim Laufen einfacher, da man sich Kilometerzeiten vornehmen kann, die man dann Kilometer für Kilometer hinunterbetet. Doch auch der ziemlich gleichmässige Susten ist eben nicht überall genau gleich steil, so dass die Geschwindigkeit nicht als Gradmesser hernehmen kann.
Kann ich noch am Gewicht sparen? Am einfachsten wäre es, Geld in die Hand zu nehmen und mein in die Jahre gekommenes Kuota Kharma zu ersetzen. 8.5 kg ohne Pedalen ist einfach nicht mehr State of the Art. Der Gewichtsrekord bei Rennrädern scheint momentan bei 2.7 kg zu liegen. Dieses Modellbaustück würde ich jetzt nicht fahren wollen, aber im Bereich 5 kg müsste etwas Vernünftiges für unvernünftig viel Geld zu kaufen sein. Gut 3 kg Gewichtsreduktion ergäbe etwa zwei Minuten Zeitgewinn. Damit würde ich die 4000 Sekunden wohl durchbrechen, doch hätte ich dann nicht einfach etwas geschummelt? Müsste ich mein Ziel dann nicht einfach um zwei Minuten nach unten korrigieren? Wie auch immer, ich verwerfe diesen Ansatz wieder.
Natürlich gibt es fast an jedem Körper noch überflüssiges Fett, so auch an meinem. Zu meinen ambitioniertesten Sportkletterzeiten habe ich genau auf das Gewicht geachtet und war entsprechend drahtiger als heute. Aber ich esse einfach fürs Leben gern und möchte mich nicht übermässig einschränken. Und natürlich schleppe ich wegen meinen Sportkletter-Aktivitäten noch zuviel fürs Radfahren nutzlose Muskulatur herum, aber dagegen kann und will ich auch nichts unternehmen. An der Ecke ist wohl auch nicht viel auszurichten.
Am Ende komme ich zum Schluss, dass ich gerade mal 700 Gramm leichter den Berg hochfahren kann, indem ich GPS Tracker und Kamera unten lasse und den Bidon nur zur Hälfte fülle, da ich sowieso nicht mehr trinke.
...29. August, schlecht geschlafen, soll ich heute überhaupt probieren? Gestern war ich noch klettern, mit Zu- und Abstieg bei entsprechendem Gepäck kann man den Tag kaum als Ruhetag abhaken ...den Untergriff einsortieren, links das Käntchen auf Schulter nehmen, Beine hoch anstellen und zur rettenden Leiste schnappen und hoffen, dass die Füsse am Fels bleiben... Szenenwechsel, falsche Sportart, aber auf abstrakter Ebene dasselbe. Beim Sportklettern versucht man sich immer wieder an einer Route, bis man sie dann endlich ohne Belastung der Sicherungskette bewältigen kann. Ich versuche mich immer wieder am Susten, das Zieltempo im Visier.
Es ist bewölkt, aber der Radar zeigt keinen Regen an – ich habe mich entschieden: Heute abend nach der Arbeit wird angegriffen...
Wie sieht es mit der Erholung aus? Soll ich mich vor einer Attacke ein paar Tage auf die faule Haut legen? Bei einem Marathonlauf nimmt man zum Beispiel die letzten zwei bis drei Wochen den Fuss vom Gas, zumindest was den Umfang betrifft. Meine Belastung ist aber viel kürzer, so dass ich mit relativ wenigen Ruhephasen auskommen sollte.
Die Ernährung lässt sich bestimmt auch noch optimieren. Hier gibt es interessante Erkenntnisse: So hat man in einer Studie festgestellt, dass zuckerreiche Verpflegung während einer Belastung auch dann noch wirksam ist, wenn gar nicht mehr genug Zeit vorhanden ist, um die Verpflegung aufzunehmen, bevor die Belastung vorbei ist. Wie kann das sein? Man vermutet, dass das Hirn erkennt, dass wieder neue Nahrung auf dem Weg ist und deshalb den Zugang zu Reserven lockert. Ein Indiz in die Richtung: Damit sich eine Leistungsverbesserung einstellt, reicht es bereits, wenn der Athlet die Nahrung in den Mund nimmt und wieder ausspeit. Wie dem auch sei, meinem Bidon mische ich noch etwas Energy-Gel bei.
Ein Zugpferd, das mich schön rhythmisch nach oben zieht, würde natürlich auch viel bringen. Bergschnellfahrer-Kandidaten wie Luigi oder Tobsi gäbe es genug. Aber solche Fremde Hilfe würde meine Aufgabe nicht lösen, bloss verändern.
Optimierungspotenzial könnte es auch beim Durchhaltewillen geben. Wie kann ich besser die schweren Beine und den nach Luft ringende Körper ignorieren und noch härter quetschen? Hier weiss ich keinen Rat, die RAAM Fahrer stellen sich scheinbar häufig die Grossartigkeit der Zieleinfahrt in Annapolis vor, wenn sie am Anschlag sind. Ich kann aber nicht behaupten, dass der Susten-Passtunnel mich irgendwie zusätzlich beflügeln würde.
Meine zu tiefe Trittfrequenz ist eine Altlast, die ich mit mir herumschleppe. Im Bereich 75 - 85 fühle ich mich wohl, 90 und darüber scheint mir nichts zu bringen***. Liegt wohl an meiner rennradlosen Zeit bis zum dreissigsten Lebensjahr. Zudem ist mein Tritt eher eckig, vor allem wenn ich am Limit fahre. Hie und da versuche ich bei den Ausfahrten auf den Tritt zu achten, aber zum eleganten Techniker werde ich wohl nie mutieren, leider.
...Gleich komme ich zur zweiten Zwischenzeit bei der Brücke, gefühlt bin ich dieses Stück mit mehr Druck gefahren als sonst. Was sagt die Uhr? 16:44 min. Grossartig! So schnell war ich noch nie! Ob ich dieses Tempo halten kann?...
Mein erster richtiger Versuch ist nicht von Erfolg beschieden. Die Beine sind schwerer als üblich und dazu gesellt sich noch leichter Gegenwind. Jammern auf hohem Niveau, ich geniesse dennoch die Auseinandersetzung mit dem Berg und meiner Physis. Noch weniger gut verläuft der zweite Versuch, bei dem ich mit Kopfweh starte und absolut chancenlos bin. Bei jeder Zwischenzeit büsse ich etwa eine Minute ein und komme ausgelaugt oben an in 1:10:53 h. So geht das nun mal gar nicht.
Wenig später ist der Susten offiziell offen, leider. Damit ist die Einsamkeit dahin, ausser man fährt sehr früh am Morgen oder in der Nacht.
Am 23. Mai nach der Arbeit die nächste Attacke. Zu schnell fahre ich los, möchte bereits nach zwanzig Minuten aufgeben, doch die guten Zwischenzeiten lassen dies nicht zu. Entkräftet komme ich in 1:07:01 h oben an und bin damit bloss 21 Sekunden zu langsam. Hätte ich diese paar Sekunden nicht noch irgendwie herausfahren können? Ich lege mich ein paar Minuten auf den Asphalt, um mich zu erholen. Ein freundlicher Motorradfahrer erkundigt sich besorgt nach meinem Befinden. Wir wechseln ein paar Worte und ich bedanke mich bei ihm. Es gibt sie noch, die nachsichtigen Töfffahrer! Dieser Versuch stärkt mein Selbstvertrauen: An einem guten Tag fällt die 4000er Mauer!
Der nächste Versuch geht früh am Morgen über die Bühne: Allerdings hat meine designierte Bäckerei am Sonntag nicht genug früh offen und damit ist die Aktion mangels Energie schon von Beginn weg zum Scheitern verurteilt. Mir scheint auch die Tageszeit nicht optimal zu sein, mein Körper will die letzten paar Prozent Leistung noch nicht herausrücken, obwohl die Temperaturen für persönliche Bestzeiten natürlich geeigneter wären als gegen Abend.
Leider handle ich mir danach eine Verletzung am rechten Piriformus ein, was mein Ziel in weite Ferne rücken lässt. Das muss zuerst ausheilen, dann schauen wir weiter.
...Auf der langen Geraden nach Sustenbrüggli, Puls 190. Nicht nachlassen! Keuchend wie ein Kettenraucher in Höchstform trete ich in die Pedalen, das Trikot offen, der kalte Nebel kühlt effizient. Gespenstige Stimmung am Pass, ich fahre am Anschlag, die Beine sind übersäuert, es geht einfach nicht mehr schneller. Nach der letzten Kehre ist mir klar: Es wird reichen! Innerlich bereits jubilierend mobilisiere ich noch die verbliebenen Energiereserven. Die letzten Meter im Wiegetritt sprinte ich zum Tunnel, fünf Meter davor ist der höchste Punkt, ich stoppe die Uhr: 1:05:16 h! Wieso nur ist es heute so gut gelaufen?...
Epilog
Was hat mein Bergzeitfahren jetzt gebracht? Wie alles im Leben war auch diese Aktion intrinsisch sinnlos, den Sinn habe ich für mich separat hinzudefiniert. Insgesamt bin ich sieben Mal angelaufen, die ersten zwei Mal allerdings nur bis zum Sustenbrüggli. Zum Vergleich: Um schwere Sportkletterrouten zu begehen, habe ich viel häufiger probiert, bis es dann irgendwann mal geklappt hat – oder auch nicht. Meine schwerste Sportkletterroute hat über hundert Attacken standgehalten, bis sie endlich gefallen ist. Allerdings konnte ich da auch dreimal am Tag probieren, beim Susten war ich nach einem Mal natürlich ausgezählt.
Könnte ich noch schneller werden? Mit gezieltem Training scheint mir die Stundengrenze in Schlagdistanz zu sein, zumindest wenn ich mir ein neues, leichtes Rad gönnen würde. Aber ich brauche eine Abwechslung, es ist an der Zeit, andere Ziele anzugehen, und ich freue mich darauf.
(*) Noch zwei amüsante Episoden des freipass.ch – 2008 Tages:
Zu Beginn des Passes, kurz vor dem letzten Tunnel, überhole ich eine Frau, die mit Rollerblades bewaffnet einen Kinderwagen den Berg hoch schiebt. Das kann doch jetzt nicht wahr sein, 17 km einen Kinderwagen den Berg hoch stossen, und wie geht es dann wieder hinunter? Auf meinem Rückweg zurück nach Wassen ist die Frau allerdings nicht mehr zu sehen.
Die meisten Velofahrer sind gemütlich unterwegs, so auch zwei Männer, die ich in Färnigen überhole. Da ruft der eine: „Das ist jetzt Nummer neun, aber wir haben auch schon jemanden überholt!“
(**) Man braucht unvorstellbare 3:14:44 h!
(***) Ich habe mich schon gefragt, wie das mit der allseits angepriesenen hohen Trittfrequenz an den Pässen funktionieren soll. Nehmen wir einen durchschnittlichen Pass mit 8% Durchschnittssteigung. Wenn man jetzt 90 U/min treten will, dann ergibt dass bei 2m Radumfang und kleinstem Gang 34:25 pro Stunde die Strecke 14.7 km. Bei der Steigung ist man nicht mehr weit von 1200 hm/h entfernt, was bestimmt nicht mehr allzu viele über längere Zeit bewältigen können.
Eigentlich war dies ja alles nicht so geplant. Eigentlich wollte ich am Paris Marathon 2011 teilnehmen. Etwa zur Weihnachtszeit zwingen mich Kniebeschwerden aber dazu, dieses Projekt zu begraben. Die anfängliche Frustration ist schnell überwunden, kann ich doch jetzt um so mehr radfahren. Der überaus schöne und extrem schneearme Winter kommt mir dabei gelegen, auch im Norden sind Südhänge schon im ersten Quartal zum Teil schneefrei. Mit grossem Abstand der beste Winter seit Jahren! Zudem gönne ich mir einige Tage Tessiner Sonne (z.T mit Klaus), wenn im Norden die Bedingungen gerade garstig sind. Mein mit Bedacht gewählter Wohnort Luzern bringt für Radfahrer eindeutig Vorteile.
Ende April fühle ich mich schon recht fit und sehne mich nun nach einem Projekt, von dem ich träumen kann. In früheren Jahren bin ich öfter lange Touren gefahren, so zur Abwechslung suche ich mir nun ein Ziel, das mit Geschwindigkeit und nicht mit Länge zu tun hat. Wie schnell kann ich denn überhaupt sein? Da ich nie systematisch in diese Richtung trainiert habe, bin ich wohl nicht allzu schnell im Vergleich mit anderen. Dafür habe ich hoffentlich noch Potenzial, obwohl man mit 36 Lenzen auch keine Wunder erwarten darf. Als Vorbild aus einer anderen faszinierenden Disziplin kommt mir die Bergläuferlegende Bruno Brunod in den Sinn, der erst mit 32 Jahren mit dem Sky Running begonnen hat und ein paar unglaubliche Rekorde hält. Wie lange braucht man wohl, wenn man ein wenig Tempo macht, um von Cervinia (2000 m) das Matterhorn (4478 m) zu besteigen und wieder nach Cervinia zurückzukehren? Die Antwort steht in den Fussnoten, raten sei erlaubt!
Im 2008 bin ich mit wenig Vorbereitung die Susten Ostrampe in 1:14 h hochgekommen, am autofreien Freipass-Tag. Es müsste demnach noch um einiges schneller gehen. Wobei – an der Leistungsgrenze tut jedes Prozent Leistung weh, ein paar Minuten schneller kann schon eine kleine Welt bedeuten. Die 1:10 h zu knacken scheint mir realistisch, viel schneller aber kaum. Willkürlich setze ich meine Zielzeit auf 1:06:40 h beziehungsweise 4000 Sekunden fest. Daran muss ich sicher hart beissen, es könnte an einem guten Tag aber klappen, hoffe ich zumindest. Genau so sollten Herausforderungen sein, nicht zu leicht, aber auch nicht völlig utopisch. Natürlich ist dieses Tempo für richtig fitte Leute kein Problem, aber ebenso für den einen oder anderen völlig undenkbar. Wenn man nicht gerade Weltspitze ist, dann sind solche Ziele sowieso immer nur subjektiv am Limit, das spielt aber keine Rolle. Auch auf QD sind viel bessere Spitzenleistungen eingetragen, so zum Beispiel am Mont Ventoux.
Da ich mir dieses Ziel erst Ende April ausdenke, bin ich zu spät für strukturiertes Training, der Susten ist ja schon fast schneefrei! Sobald der Susten fahrbar ist, werde ich es probieren.
Mit Hilfe dieser Seite analysiere ich diverse meiner Bestzeiten und komme zum Schluss, dass meine anaerobe Schwelle etwa bei 300 Watt liegt. Und genau diese 300 Watt muss ich auch konstant auf die Strasse bringen, wenn ich nach 4000 Sekunden am Susten oben sein will. Die gesamte Strecke an der Schwelle fahren, über eine Stunde lang, das ist schon heftig. Denn man sagt ganz allgemein, dass man maximal eine Stunde an der anaeroben Schwelle Leistung bringen kann. Weltklasse-Halbmarathonläufer laufen deshalb ihren HM an der Schwelle (aktueller Rekord liegt bei 58:23 min, gehalten von Zersenay Tadese). Als Otto Durchschnittsjogger wäre eine derartige Taktik natürlich tödlich, da das Ziel nach einer Stunde noch etliche Kilometer entfernt ist.
Ich versuche, ein paar Zwischenzeiten zu errechnen. So sollte ich nach 17:30 min an der Ortstafel von Meien und nach 35:15 min an der markanten Kurve auf gut 1600 m vorbeikommen. Das Sustenbrüggli müsste ich nach weiteren 15:00 min passieren.
...Ortschild Meien, erste Durchgangszeit in 17:40 min. Etwas zu langsam, du musst schneller werden! Die Beine drehen rund, aber wie lange noch? Gleich das relative Flachstück, beschleunigen auf 25 km/h. Lenkerhaltung unten. Die Kuh links guckt mich fassungslos an. Gibt es weiter oben saftigeres Gras oder wozu die Eile? Der ist bestimmt befallen von – wie heisst es schon wieder – achja, von Menschenwahnsinn, Jakob Feldkreuz oder Artverwandtes. Seht wie er sich nur abmüht, dabei ist doch das schmackhafteste Gras gleich vor meiner Nase...
Eine Woche nach Ostern bin ich das erste Mal vor Ort. Der verkehrsfreie Susten wird auch von anderen Fahrern geschätzt, ein Umstand, der im QD Forum zu ausufernden Diskussionen führt. Bis zum Sustenbrüggli auf 1900 m ist er bereits offiziell offen, und Schnee ist auch danach nur recht spärlich vorhanden. Die Strasse scheint geräumt zu sein, doch ich drehe am Sustenbrüggli beim Schlagbaum um. Bis zur Kurve auf 1600 m bin ich bereits schnell gefahren, um ein Gefühl für das Tempo zu kriegen. Boahh, anstrengend! Keinesfalls hätte ich das noch weitere 600 hm lang ausgehalten. Ist das Ziel vielleicht doch zu hoch gesteckt?
Ein paar Tage später stehe ich wieder am Start in Wassen. Diesmal möchte ich bis Sustenbrüggli das Tempo halten. Den Beginn erwische ich etwas zu schnell, wodurch ich nach einer halben Stunde zu leiden beginne. Quäl dich du Sau! Ist das noch weit! Ich stoppe die Uhr am Sustenbrüggli bei 50:37 min, völlig ausgepumpt, aber mehr oder weniger noch in der Zeit. Für heute ist hier Schluss, aber damit es bei dem Speed bis ganz nach oben reicht, muss es noch optimaler laufen.
Wo gibt es denn noch Optimierungspotenzial? Natürlich kann die eigene Fitness besser werden. Davon abgesehen sollte ich natürlich die Pace sehr genau treffen, was mir recht schwer fällt. Das ist beim Laufen einfacher, da man sich Kilometerzeiten vornehmen kann, die man dann Kilometer für Kilometer hinunterbetet. Doch auch der ziemlich gleichmässige Susten ist eben nicht überall genau gleich steil, so dass die Geschwindigkeit nicht als Gradmesser hernehmen kann.
Kann ich noch am Gewicht sparen? Am einfachsten wäre es, Geld in die Hand zu nehmen und mein in die Jahre gekommenes Kuota Kharma zu ersetzen. 8.5 kg ohne Pedalen ist einfach nicht mehr State of the Art. Der Gewichtsrekord bei Rennrädern scheint momentan bei 2.7 kg zu liegen. Dieses Modellbaustück würde ich jetzt nicht fahren wollen, aber im Bereich 5 kg müsste etwas Vernünftiges für unvernünftig viel Geld zu kaufen sein. Gut 3 kg Gewichtsreduktion ergäbe etwa zwei Minuten Zeitgewinn. Damit würde ich die 4000 Sekunden wohl durchbrechen, doch hätte ich dann nicht einfach etwas geschummelt? Müsste ich mein Ziel dann nicht einfach um zwei Minuten nach unten korrigieren? Wie auch immer, ich verwerfe diesen Ansatz wieder.
Natürlich gibt es fast an jedem Körper noch überflüssiges Fett, so auch an meinem. Zu meinen ambitioniertesten Sportkletterzeiten habe ich genau auf das Gewicht geachtet und war entsprechend drahtiger als heute. Aber ich esse einfach fürs Leben gern und möchte mich nicht übermässig einschränken. Und natürlich schleppe ich wegen meinen Sportkletter-Aktivitäten noch zuviel fürs Radfahren nutzlose Muskulatur herum, aber dagegen kann und will ich auch nichts unternehmen. An der Ecke ist wohl auch nicht viel auszurichten.
Am Ende komme ich zum Schluss, dass ich gerade mal 700 Gramm leichter den Berg hochfahren kann, indem ich GPS Tracker und Kamera unten lasse und den Bidon nur zur Hälfte fülle, da ich sowieso nicht mehr trinke.
...29. August, schlecht geschlafen, soll ich heute überhaupt probieren? Gestern war ich noch klettern, mit Zu- und Abstieg bei entsprechendem Gepäck kann man den Tag kaum als Ruhetag abhaken ...den Untergriff einsortieren, links das Käntchen auf Schulter nehmen, Beine hoch anstellen und zur rettenden Leiste schnappen und hoffen, dass die Füsse am Fels bleiben... Szenenwechsel, falsche Sportart, aber auf abstrakter Ebene dasselbe. Beim Sportklettern versucht man sich immer wieder an einer Route, bis man sie dann endlich ohne Belastung der Sicherungskette bewältigen kann. Ich versuche mich immer wieder am Susten, das Zieltempo im Visier.
Es ist bewölkt, aber der Radar zeigt keinen Regen an – ich habe mich entschieden: Heute abend nach der Arbeit wird angegriffen...
Wie sieht es mit der Erholung aus? Soll ich mich vor einer Attacke ein paar Tage auf die faule Haut legen? Bei einem Marathonlauf nimmt man zum Beispiel die letzten zwei bis drei Wochen den Fuss vom Gas, zumindest was den Umfang betrifft. Meine Belastung ist aber viel kürzer, so dass ich mit relativ wenigen Ruhephasen auskommen sollte.
Die Ernährung lässt sich bestimmt auch noch optimieren. Hier gibt es interessante Erkenntnisse: So hat man in einer Studie festgestellt, dass zuckerreiche Verpflegung während einer Belastung auch dann noch wirksam ist, wenn gar nicht mehr genug Zeit vorhanden ist, um die Verpflegung aufzunehmen, bevor die Belastung vorbei ist. Wie kann das sein? Man vermutet, dass das Hirn erkennt, dass wieder neue Nahrung auf dem Weg ist und deshalb den Zugang zu Reserven lockert. Ein Indiz in die Richtung: Damit sich eine Leistungsverbesserung einstellt, reicht es bereits, wenn der Athlet die Nahrung in den Mund nimmt und wieder ausspeit. Wie dem auch sei, meinem Bidon mische ich noch etwas Energy-Gel bei.
Ein Zugpferd, das mich schön rhythmisch nach oben zieht, würde natürlich auch viel bringen. Bergschnellfahrer-Kandidaten wie Luigi oder Tobsi gäbe es genug. Aber solche Fremde Hilfe würde meine Aufgabe nicht lösen, bloss verändern.
Optimierungspotenzial könnte es auch beim Durchhaltewillen geben. Wie kann ich besser die schweren Beine und den nach Luft ringende Körper ignorieren und noch härter quetschen? Hier weiss ich keinen Rat, die RAAM Fahrer stellen sich scheinbar häufig die Grossartigkeit der Zieleinfahrt in Annapolis vor, wenn sie am Anschlag sind. Ich kann aber nicht behaupten, dass der Susten-Passtunnel mich irgendwie zusätzlich beflügeln würde.
Meine zu tiefe Trittfrequenz ist eine Altlast, die ich mit mir herumschleppe. Im Bereich 75 - 85 fühle ich mich wohl, 90 und darüber scheint mir nichts zu bringen***. Liegt wohl an meiner rennradlosen Zeit bis zum dreissigsten Lebensjahr. Zudem ist mein Tritt eher eckig, vor allem wenn ich am Limit fahre. Hie und da versuche ich bei den Ausfahrten auf den Tritt zu achten, aber zum eleganten Techniker werde ich wohl nie mutieren, leider.
...Gleich komme ich zur zweiten Zwischenzeit bei der Brücke, gefühlt bin ich dieses Stück mit mehr Druck gefahren als sonst. Was sagt die Uhr? 16:44 min. Grossartig! So schnell war ich noch nie! Ob ich dieses Tempo halten kann?...
Mein erster richtiger Versuch ist nicht von Erfolg beschieden. Die Beine sind schwerer als üblich und dazu gesellt sich noch leichter Gegenwind. Jammern auf hohem Niveau, ich geniesse dennoch die Auseinandersetzung mit dem Berg und meiner Physis. Noch weniger gut verläuft der zweite Versuch, bei dem ich mit Kopfweh starte und absolut chancenlos bin. Bei jeder Zwischenzeit büsse ich etwa eine Minute ein und komme ausgelaugt oben an in 1:10:53 h. So geht das nun mal gar nicht.
Wenig später ist der Susten offiziell offen, leider. Damit ist die Einsamkeit dahin, ausser man fährt sehr früh am Morgen oder in der Nacht.
Am 23. Mai nach der Arbeit die nächste Attacke. Zu schnell fahre ich los, möchte bereits nach zwanzig Minuten aufgeben, doch die guten Zwischenzeiten lassen dies nicht zu. Entkräftet komme ich in 1:07:01 h oben an und bin damit bloss 21 Sekunden zu langsam. Hätte ich diese paar Sekunden nicht noch irgendwie herausfahren können? Ich lege mich ein paar Minuten auf den Asphalt, um mich zu erholen. Ein freundlicher Motorradfahrer erkundigt sich besorgt nach meinem Befinden. Wir wechseln ein paar Worte und ich bedanke mich bei ihm. Es gibt sie noch, die nachsichtigen Töfffahrer! Dieser Versuch stärkt mein Selbstvertrauen: An einem guten Tag fällt die 4000er Mauer!
Der nächste Versuch geht früh am Morgen über die Bühne: Allerdings hat meine designierte Bäckerei am Sonntag nicht genug früh offen und damit ist die Aktion mangels Energie schon von Beginn weg zum Scheitern verurteilt. Mir scheint auch die Tageszeit nicht optimal zu sein, mein Körper will die letzten paar Prozent Leistung noch nicht herausrücken, obwohl die Temperaturen für persönliche Bestzeiten natürlich geeigneter wären als gegen Abend.
Leider handle ich mir danach eine Verletzung am rechten Piriformus ein, was mein Ziel in weite Ferne rücken lässt. Das muss zuerst ausheilen, dann schauen wir weiter.
...Auf der langen Geraden nach Sustenbrüggli, Puls 190. Nicht nachlassen! Keuchend wie ein Kettenraucher in Höchstform trete ich in die Pedalen, das Trikot offen, der kalte Nebel kühlt effizient. Gespenstige Stimmung am Pass, ich fahre am Anschlag, die Beine sind übersäuert, es geht einfach nicht mehr schneller. Nach der letzten Kehre ist mir klar: Es wird reichen! Innerlich bereits jubilierend mobilisiere ich noch die verbliebenen Energiereserven. Die letzten Meter im Wiegetritt sprinte ich zum Tunnel, fünf Meter davor ist der höchste Punkt, ich stoppe die Uhr: 1:05:16 h! Wieso nur ist es heute so gut gelaufen?...
Epilog
Was hat mein Bergzeitfahren jetzt gebracht? Wie alles im Leben war auch diese Aktion intrinsisch sinnlos, den Sinn habe ich für mich separat hinzudefiniert. Insgesamt bin ich sieben Mal angelaufen, die ersten zwei Mal allerdings nur bis zum Sustenbrüggli. Zum Vergleich: Um schwere Sportkletterrouten zu begehen, habe ich viel häufiger probiert, bis es dann irgendwann mal geklappt hat – oder auch nicht. Meine schwerste Sportkletterroute hat über hundert Attacken standgehalten, bis sie endlich gefallen ist. Allerdings konnte ich da auch dreimal am Tag probieren, beim Susten war ich nach einem Mal natürlich ausgezählt.
Könnte ich noch schneller werden? Mit gezieltem Training scheint mir die Stundengrenze in Schlagdistanz zu sein, zumindest wenn ich mir ein neues, leichtes Rad gönnen würde. Aber ich brauche eine Abwechslung, es ist an der Zeit, andere Ziele anzugehen, und ich freue mich darauf.
(*) Noch zwei amüsante Episoden des freipass.ch – 2008 Tages:
Zu Beginn des Passes, kurz vor dem letzten Tunnel, überhole ich eine Frau, die mit Rollerblades bewaffnet einen Kinderwagen den Berg hoch schiebt. Das kann doch jetzt nicht wahr sein, 17 km einen Kinderwagen den Berg hoch stossen, und wie geht es dann wieder hinunter? Auf meinem Rückweg zurück nach Wassen ist die Frau allerdings nicht mehr zu sehen.
Die meisten Velofahrer sind gemütlich unterwegs, so auch zwei Männer, die ich in Färnigen überhole. Da ruft der eine: „Das ist jetzt Nummer neun, aber wir haben auch schon jemanden überholt!“
(**) Man braucht unvorstellbare 3:14:44 h!
(***) Ich habe mich schon gefragt, wie das mit der allseits angepriesenen hohen Trittfrequenz an den Pässen funktionieren soll. Nehmen wir einen durchschnittlichen Pass mit 8% Durchschnittssteigung. Wenn man jetzt 90 U/min treten will, dann ergibt dass bei 2m Radumfang und kleinstem Gang 34:25 pro Stunde die Strecke 14.7 km. Bei der Steigung ist man nicht mehr weit von 1200 hm/h entfernt, was bestimmt nicht mehr allzu viele über längere Zeit bewältigen können.