Bericht vom 12. Dreiländergiro 173,0 km / 3300 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Maxx77
Von Maxx77 –
Nauders – Vor fünf Jahren verlor ich an diesem Ort auf gewisse Weise meine Unschuld. Seitdem bin ich einer von vielen tausenden Infizierten, die sich einem Hobby widmen, das viel abverlangt und noch viel mehr zurückgibt. Wieder stehe ich am Start eines Radmarathons unter 3000 Gleichgesinnten, um 173 km und 3300 Höhenmeter in Angriff zu nehmen. Diesmal ausgestattet mit einem MP3-Player, der die nötige Unterstützung für den bevorstehenden Kampf auf den Passstraßen geben soll. Und sich bereits jetzt bezahlt macht, indem er dem Gesang (?) von DJ Ötzi aus den Lautsprechern im Start-/Zielbereich einen der Tageszeit angemesseneren Sound entgegensetzt.
Um 6:30 Uhr ist es soweit, ein letztes Kusshändchen von meiner Freundin Sarah und auf geht’s! Die Zeitnahme beim Start erweist sich als unerwartetes Nadelöhr und obwohl ich mich in weiser Voraussicht des Gedränges weit vorne im Feld postiert habe – natürlich nicht so weit vorne wie jene bei solchen Veranstaltungen unvermeidbaren Zeitgenossen, die um fünf vor halb sieben ankommen und ihr Rad über die Absperrung in den gerammelt vollen Startbereich wuchten… – dauert es zwei Minuten, bis ich das Rennen aufnehmen kann. Der Dreiländergiro beginnt ohne Vorwarnung mit gut 100 Höhenmetern hinauf zum Reschenpass, und spätestens am Grenzübergang nach Südtirol kennt man die Bedeutung des Begriffs „Anlauflaktat“. Doch ich fühle mich hervorragend, Metallica’s Battery im Ohr putscht zusätzlich auf und entgegen jedem Gebot der Vernunft hangle ich mich von Gruppe zu Gruppe nach vorn, fahre Lücken zu, mache viel Arbeit im Wind, verausgabe mich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Mit Höllentempo rauscht das Peloton über den größten Schwemmkegel der Alpen, die Malser Haide, hinunter nach Glurns, wo ich zu meiner freudigen Überraschung zu einer großen Gruppe aufschließe, die vom Fahrzeug der Rennleitung angeführt wird. Die Spitzengruppe ist also eingeholt, ich habe auf den ersten 40 km zwei Minuten auf die Chefs gut gemacht! Das motiviert natürlich ungemein, zumindest weit mehr als der leicht metallische Geschmack im Mund… Ich muss mir daher selbst das Versprechen abringen, am Stilfser Joch keine Blödheiten zu probieren und einfach meinen Stiefel nach oben zu fahren, den anaeroben Bereich zu meiden, egal was um mich rum passiert. Und als ich mich im Windschatten der Gruppe erholt habe, freue ich mich – so pervers es klingen mag – auf den vor mir liegenden Anstieg wie ein kleines Kind auf Weihnachten. Passo dello Stelvio, 24 km, 1850 Höhenmeter, 48 Kehren – die Königin der Alpenpässe!
Und es ist eine uns Radlern wohlgesonnene Königin. Anders als etwa auf der garstigen Pustertaler Höhenstraße beim Lienzer Dolomitenmarathon oder gar dem Asphalt gewordenen Scharfrichter, dem Timmelsjoch beim „Ötztaler“, kann man am Fuß der Steigung eine dem Trainingszustand entsprechende Übersetzung wählen, sich gemütlich zurücklehnen und entspannt nach oben kurbeln. Nun ja, ganz so mühelos geht’s natürlich nicht – aber die Steigung ist angenehm gleichmäßig, abgesehen von einem kurzen Flachstück hinter Gomagoi und zwei kurzen, knackigen 15%-Passagen.
Wie erwartet bricht das Feld schon bald auseinander, die Chefs entschwinden in Richtung Passhöhe, während sich hinten im Kreis der Normalsterblichen ein kollektives Keuchen und Schwitzen erhebt. Ich finde rasch meinen Rhythmus und arbeite mich kontinuierlich nach vorn. Gut, natürlich gibt es immer noch Schnellere – ein ausgezehrter Enddreißiger, der den Winter augenscheinlich im selben Kraftraum wie „Chicken“ Rasmussen verbracht hat, fliegt an mir vorbei. Und leider auch ein junger Deutscher im Merckx-Trikot. Leider deshalb, weil der junge Mann zwar schneller ist als ich, aber halt nur ein ganz kleines bisschen. Bald gehen all meine guten Vorsätze den Weg, den gute Vorsätze meist gehen (nämlich über Bord) und ich erwähle sein Hinterrad als dasjenige aus, das mich auf den Pass ziehen wird. Der Puls bleibt anschließend nur mehr knapp unter 180, aber die Beine arbeiten hervorragend und es macht richtig Spaß, unter den Hängegletschern des Ortler-Massivs zu unserer Linken Kehre um Kehre nach oben zu klettern. 30x21 im Sitzen, 30x17 im Wiegetritt und im Ohr die Rockklänge diversester Interpreten - wobei ich rasch draufkomme, dass gewisse Lieder besser fürs Bergfahren geeignet sind als andere. In die erste Kategorie fällt das infernalische Hall of the Mountain King von Apocalyptica oder For Whom the Bell Tolls („Make his fight for the hill in the early day, constant chill deep inside”), in letztere Bitter End oder Protect me from what I want von Placebo…
Doch als ich Lemmy Kilmister, das Ace of Spades himself, singen höre „You know I’m born to lose – and gambling’s made for fools, but that’s the way I like it, baby ” wird mir langsam klar, dass mein bis jetzt angeschlagenes Tempo ein Hazardspiel ist, das nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, spätestens am Ofenpass am Straßenrand zu sitzen und mir die Krämpfe aus den Waden zu drücken. Egal, den emotionalen Höhenflug während dieses Power-Climbs aufs Stilfser Joch kann mir jetzt niemand mehr nehmen und irgendwie werd’ ich schon zurück nach Nauders kommen. Und wer weiß, vielleicht reicht die Kraft ja doch? „Playing for the high one, dancing with the devil – going with the flow, it’s all a game to me“…
Kurz unterhalb der Passhöhe, der Motor läuft mittlerweile im tiefroten Bereich, aber ich lasse Eddy’s Hinterrad nicht los, überhole ich plötzlich einen alten Bekannten, mit dem ich in den letzten Jahren ein ums andere Mal bei diversesten Radmarathons zusammengetroffen bin. Der Gute fährt hier an Position 60 oder 70 übers Stilfser Joch – und erzählt mir sichtlich ausgepowert, er sei heuer aufgrund einer Erkrankung erst seit zwei Monaten im Training. Junge, wie fährst du dann erst, wenn du fit bist?? Am Pass angekommen bin ich erst einmal überrascht, dass mich dort zwar der übliche Bratwurstduft und geschätzte 240.000 Motorradfahrer erwarten – aber keine Labestation! Die wurde nämlich einige Kilometer unterhalb eingerichtet und hätte ich gewusst, dass dort die letzte „Tankstelle vor der Grenze“ sein sollte, wäre ich dort nicht freundlich lächelnd vorbeigefahren. Aber durch eine aktuelle Werbekampagne weiß jeder Österreicher, was von „Hättiwari’s“ zu halten ist – also heißt’s anstelle von Verpflegung den Ärger schlucken und hinunter zum Umbrailpass zu fahren. Die grenzenlose Weitsicht der italienischen Behörden hat übrigens dazu geführt, dass für denselben Tag ein Motorradtreffen am Stilfser Joch genehmigt wurde. Also wurden wir am Start darauf aufmerksam gemacht, dass ab 10 Uhr nur ganz rechts und mit maximal 15 km/h bis zum Grenzübergang abgefahren werden dürfte. Ja, genau ;-)
Soll aber nicht mein Problem sein, noch ist die Straße frei und problemlos passierbar. Was nicht unbedingt für die Strecke Umbrailpass-St. Maria gilt. Könnte jemand bei Gelegenheit dem zuständigen Straßenerhalter mitteilen, dass Schotterstraßen im Hochgebirge dazu neigen, bei Starkregen Erosionsrillen zu entwickeln und daher auch ab und zu einmal ausgebessert werden sollten?
Heilfroh, die unsäglichen Schotterpassagen ohne Unfall überstanden zu haben, komme ich in St. Maria an, wo ich zuerst meine Trinkflaschen auffülle – und danach angestrengt darüber nachdenken muss, wann ich wohl den Großteil der Mitochondrien in meiner Beinmuskulatur in den Zeitausgleich entlassen habe… Hier kommt nun also der Mann mit dem Hammer und fordert den Tribut für die Parforcejagd aufs Stilfser Joch. Ich bin die Strecke etliche Male vorher gefahren, kann mich aber nicht entsinnen, einmal bereits hier so am Ende gewesen zu sein. Die Reifen scheinen am Asphalt zu kleben, jede Kurbelumdrehung schmerzt und ich muss aus irgendeinem Grund an die Ballade von John Maynard denken – noch 70 km bis Buffalo!
Aber mit der Zeit kurble ich mich aus dem Zwischentief, der Tritt wird wieder runder und der Ofenpass hat zumindest den Vorteil, dass viele seiner 800 Höhenmeter relativ unauffällig verteilt sind. Sobald die „richtige“ Steigung mit 10-11% beginnt, ist die Passhöhe auch schon fast erreicht.
Durchatmen, locker auspedalieren, essen, trinken. Und bemerken, dass das alles gar nicht so einfach ist, wenn die mittlerweile weniger gewordenen Mitfahrer unvermindert aufs Tempo drücken. Und wer bislang noch nie versucht hat, in einer kurvenreichen Abfahrt eine leere Trinkflasche aus der Halterung mit einer vollen aus der Trikottasche zu tauschen – nun ja, der sollte es auch dabei belassen…
Meine Kollegen stürzen sich in Richtung Zernez wie ein StuKa-Geschwader und nachdem ich in einer Kurve beinahe mit Tempo 80 den Außenspiegel eines entgegenkommenden Autos mit der Schulter streife beschließe ich, diese Wahnsinnigen ziehen zu lassen. Es wird zwar einige Anstrengung kosten, im Flachen wieder an die Gruppe heranzufahren, aber ein ungetrübtes Nahverhältnis zu intakten Knochen wird mir nicht ganz zu unrecht nachgesagt. Als ich die Jungs in Zernez wieder einhole und ihnen mein Erstaunen über derart offensichtliche Todesverachtung mitteile, blicke ich in verärgerte Gesichter: „Wär’ ja schneller gegangen, wenn uns dieser A*** mit seinem Auto nicht im Weg gewesen wäre“.
Nun gut, in diesem Fall also mein Dank an den anonymen A***, der mich vor einer drohenden Solofahrt durchs Unterengadin bewahrt hat. Unser Weg führt auf der linken Talseite entlang, 45 mehr oder weniger flache bzw. leicht bergab verlaufende Kilometer, die sich aber traditionellerweise in die Länge ziehen wie eine Legislaturperiode von George Bush. Und heuer hab’ ich zudem das Gefühl, einige Zwischen¬steigungen durchleiden zu müssen, die im Vorjahr noch nicht vorhanden waren. Zumindest scheint es meinen Mitstreitern nicht viel besser zu gehen, die kurzen Zwischensteigungen fahre ich meist an der Spitze an und werde zu meinem Erstaunen und meiner Beruhigung in deren Verlauf auch nicht überholt. Die Flachstücke sind vergleichsweise angenehm, wir wechseln in der Gruppe gut durch, unsere Zweckgemein¬schaft läuft wie ein Uhrwerk und ich habe in den Windschattenphasen Zeit, die Rennmaschine meines Vordermanns zu bewundern – Carbonrahmen, Carbonfelgen, Carbonsattel, Carbonbremszangen, die Carbonschalthebel zur Gewichtsreduktion direkt am Rahmen angebracht; geschätzte sechseinhalb Kilo mattschwarze Ingenieurskunst zu einem Grammpreis von €1.20…
Langsam nähert sich der letzte Anstieg des Tages, also rasch noch ein paar Stücke Trauben¬zucker einwerfen, die Muskeln lockern und bei AC/DC musikalische Inspiration holen – „I’m a rolling thunder, a pouring rain – I’m coming on like a hurricane“. Die Norbertshöhe ein herrlicher Pass, da sie erstens mit 400 Höhenmetern auf 6 Kilometern von überschaubarer Länge und Steigung ist und zweitens das Ziel in Nauders danach nur mehr wenige Meter entfernt liegt. Nach dem Grenzübergang in Martina heißt’s also You got me ringing Hell’s Bells – Kette aufs mittlere Blatt und los geht’s. Zwar bleibt ein gewisses Restrisiko, mit so einer brachialen Aktion den Ösophagus versehentlich auf Schubumkehr zu stellen, aber die wider Erwarten sehr guten Beine verleiten geradezu zur Attacke – und wieso soll es nicht klappen?
Am besten ist es in diesen Momenten, der Pulsuhr keinerlei Aufmerksamkeit mehr zu schenken und sich lieber an jenen Fahrern zu orientieren, die hier gerade die letzten Kilometer der „kurzen“ B-Tour (die 137-km-Schleife durchs Münstertal) absolvieren. Das klingt jetzt äußerst unsympathisch – aber es ist schon ein extrem geiles Gefühl, an Nachzüglern vorbeizuziehen wie ein Moped… Und wie auf Bestellung erheben sich in diesem Moment die ergreifenden Klänge von Wherever I May Roam: „And the road becomes my bride, I’ve stripped off all but pride – so in her I do confide and she keeps me satisfied, gives me all I need…“. Kurzer Blick nach unten in Kehre 4 und langsam wird’s zur Gewissheit, “die kriegen mich nicht mehr”! Kehre 3, noch zu einem Fahrer der A-Tour aufgeschlossen und ihn überholt, Kehre 2, Anfeuerungsrufe von den Zuschauern am Straßenrand, Kehre 1 … „And the earth becomes my throne…”, ein unbeschreibliches Gefühl hier mit der musikalischen Untermalung von Kirk Hammett, dem Hexenmeister des Gitarrenriffs über die Kuppe zu gehen und schließlich nach kurzer Abfahrt die Ziellinie zu überqueren.
5:51 Stunden, 55. Gesamtrang unter 1800 Startern – aber Zahlen sind eine einigermaßen unzureichende Form, um die Freude über das Geleistete zum Ausdruck zu bringen. Lemmy trifft den Punkt einmal mehr genauer: I am the One – Orgasmatron!
Um 6:30 Uhr ist es soweit, ein letztes Kusshändchen von meiner Freundin Sarah und auf geht’s! Die Zeitnahme beim Start erweist sich als unerwartetes Nadelöhr und obwohl ich mich in weiser Voraussicht des Gedränges weit vorne im Feld postiert habe – natürlich nicht so weit vorne wie jene bei solchen Veranstaltungen unvermeidbaren Zeitgenossen, die um fünf vor halb sieben ankommen und ihr Rad über die Absperrung in den gerammelt vollen Startbereich wuchten… – dauert es zwei Minuten, bis ich das Rennen aufnehmen kann. Der Dreiländergiro beginnt ohne Vorwarnung mit gut 100 Höhenmetern hinauf zum Reschenpass, und spätestens am Grenzübergang nach Südtirol kennt man die Bedeutung des Begriffs „Anlauflaktat“. Doch ich fühle mich hervorragend, Metallica’s Battery im Ohr putscht zusätzlich auf und entgegen jedem Gebot der Vernunft hangle ich mich von Gruppe zu Gruppe nach vorn, fahre Lücken zu, mache viel Arbeit im Wind, verausgabe mich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Mit Höllentempo rauscht das Peloton über den größten Schwemmkegel der Alpen, die Malser Haide, hinunter nach Glurns, wo ich zu meiner freudigen Überraschung zu einer großen Gruppe aufschließe, die vom Fahrzeug der Rennleitung angeführt wird. Die Spitzengruppe ist also eingeholt, ich habe auf den ersten 40 km zwei Minuten auf die Chefs gut gemacht! Das motiviert natürlich ungemein, zumindest weit mehr als der leicht metallische Geschmack im Mund… Ich muss mir daher selbst das Versprechen abringen, am Stilfser Joch keine Blödheiten zu probieren und einfach meinen Stiefel nach oben zu fahren, den anaeroben Bereich zu meiden, egal was um mich rum passiert. Und als ich mich im Windschatten der Gruppe erholt habe, freue ich mich – so pervers es klingen mag – auf den vor mir liegenden Anstieg wie ein kleines Kind auf Weihnachten. Passo dello Stelvio, 24 km, 1850 Höhenmeter, 48 Kehren – die Königin der Alpenpässe!
Und es ist eine uns Radlern wohlgesonnene Königin. Anders als etwa auf der garstigen Pustertaler Höhenstraße beim Lienzer Dolomitenmarathon oder gar dem Asphalt gewordenen Scharfrichter, dem Timmelsjoch beim „Ötztaler“, kann man am Fuß der Steigung eine dem Trainingszustand entsprechende Übersetzung wählen, sich gemütlich zurücklehnen und entspannt nach oben kurbeln. Nun ja, ganz so mühelos geht’s natürlich nicht – aber die Steigung ist angenehm gleichmäßig, abgesehen von einem kurzen Flachstück hinter Gomagoi und zwei kurzen, knackigen 15%-Passagen.
Wie erwartet bricht das Feld schon bald auseinander, die Chefs entschwinden in Richtung Passhöhe, während sich hinten im Kreis der Normalsterblichen ein kollektives Keuchen und Schwitzen erhebt. Ich finde rasch meinen Rhythmus und arbeite mich kontinuierlich nach vorn. Gut, natürlich gibt es immer noch Schnellere – ein ausgezehrter Enddreißiger, der den Winter augenscheinlich im selben Kraftraum wie „Chicken“ Rasmussen verbracht hat, fliegt an mir vorbei. Und leider auch ein junger Deutscher im Merckx-Trikot. Leider deshalb, weil der junge Mann zwar schneller ist als ich, aber halt nur ein ganz kleines bisschen. Bald gehen all meine guten Vorsätze den Weg, den gute Vorsätze meist gehen (nämlich über Bord) und ich erwähle sein Hinterrad als dasjenige aus, das mich auf den Pass ziehen wird. Der Puls bleibt anschließend nur mehr knapp unter 180, aber die Beine arbeiten hervorragend und es macht richtig Spaß, unter den Hängegletschern des Ortler-Massivs zu unserer Linken Kehre um Kehre nach oben zu klettern. 30x21 im Sitzen, 30x17 im Wiegetritt und im Ohr die Rockklänge diversester Interpreten - wobei ich rasch draufkomme, dass gewisse Lieder besser fürs Bergfahren geeignet sind als andere. In die erste Kategorie fällt das infernalische Hall of the Mountain King von Apocalyptica oder For Whom the Bell Tolls („Make his fight for the hill in the early day, constant chill deep inside”), in letztere Bitter End oder Protect me from what I want von Placebo…
Doch als ich Lemmy Kilmister, das Ace of Spades himself, singen höre „You know I’m born to lose – and gambling’s made for fools, but that’s the way I like it, baby ” wird mir langsam klar, dass mein bis jetzt angeschlagenes Tempo ein Hazardspiel ist, das nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, spätestens am Ofenpass am Straßenrand zu sitzen und mir die Krämpfe aus den Waden zu drücken. Egal, den emotionalen Höhenflug während dieses Power-Climbs aufs Stilfser Joch kann mir jetzt niemand mehr nehmen und irgendwie werd’ ich schon zurück nach Nauders kommen. Und wer weiß, vielleicht reicht die Kraft ja doch? „Playing for the high one, dancing with the devil – going with the flow, it’s all a game to me“…
Kurz unterhalb der Passhöhe, der Motor läuft mittlerweile im tiefroten Bereich, aber ich lasse Eddy’s Hinterrad nicht los, überhole ich plötzlich einen alten Bekannten, mit dem ich in den letzten Jahren ein ums andere Mal bei diversesten Radmarathons zusammengetroffen bin. Der Gute fährt hier an Position 60 oder 70 übers Stilfser Joch – und erzählt mir sichtlich ausgepowert, er sei heuer aufgrund einer Erkrankung erst seit zwei Monaten im Training. Junge, wie fährst du dann erst, wenn du fit bist?? Am Pass angekommen bin ich erst einmal überrascht, dass mich dort zwar der übliche Bratwurstduft und geschätzte 240.000 Motorradfahrer erwarten – aber keine Labestation! Die wurde nämlich einige Kilometer unterhalb eingerichtet und hätte ich gewusst, dass dort die letzte „Tankstelle vor der Grenze“ sein sollte, wäre ich dort nicht freundlich lächelnd vorbeigefahren. Aber durch eine aktuelle Werbekampagne weiß jeder Österreicher, was von „Hättiwari’s“ zu halten ist – also heißt’s anstelle von Verpflegung den Ärger schlucken und hinunter zum Umbrailpass zu fahren. Die grenzenlose Weitsicht der italienischen Behörden hat übrigens dazu geführt, dass für denselben Tag ein Motorradtreffen am Stilfser Joch genehmigt wurde. Also wurden wir am Start darauf aufmerksam gemacht, dass ab 10 Uhr nur ganz rechts und mit maximal 15 km/h bis zum Grenzübergang abgefahren werden dürfte. Ja, genau ;-)
Soll aber nicht mein Problem sein, noch ist die Straße frei und problemlos passierbar. Was nicht unbedingt für die Strecke Umbrailpass-St. Maria gilt. Könnte jemand bei Gelegenheit dem zuständigen Straßenerhalter mitteilen, dass Schotterstraßen im Hochgebirge dazu neigen, bei Starkregen Erosionsrillen zu entwickeln und daher auch ab und zu einmal ausgebessert werden sollten?
Heilfroh, die unsäglichen Schotterpassagen ohne Unfall überstanden zu haben, komme ich in St. Maria an, wo ich zuerst meine Trinkflaschen auffülle – und danach angestrengt darüber nachdenken muss, wann ich wohl den Großteil der Mitochondrien in meiner Beinmuskulatur in den Zeitausgleich entlassen habe… Hier kommt nun also der Mann mit dem Hammer und fordert den Tribut für die Parforcejagd aufs Stilfser Joch. Ich bin die Strecke etliche Male vorher gefahren, kann mich aber nicht entsinnen, einmal bereits hier so am Ende gewesen zu sein. Die Reifen scheinen am Asphalt zu kleben, jede Kurbelumdrehung schmerzt und ich muss aus irgendeinem Grund an die Ballade von John Maynard denken – noch 70 km bis Buffalo!
Aber mit der Zeit kurble ich mich aus dem Zwischentief, der Tritt wird wieder runder und der Ofenpass hat zumindest den Vorteil, dass viele seiner 800 Höhenmeter relativ unauffällig verteilt sind. Sobald die „richtige“ Steigung mit 10-11% beginnt, ist die Passhöhe auch schon fast erreicht.
Durchatmen, locker auspedalieren, essen, trinken. Und bemerken, dass das alles gar nicht so einfach ist, wenn die mittlerweile weniger gewordenen Mitfahrer unvermindert aufs Tempo drücken. Und wer bislang noch nie versucht hat, in einer kurvenreichen Abfahrt eine leere Trinkflasche aus der Halterung mit einer vollen aus der Trikottasche zu tauschen – nun ja, der sollte es auch dabei belassen…
Meine Kollegen stürzen sich in Richtung Zernez wie ein StuKa-Geschwader und nachdem ich in einer Kurve beinahe mit Tempo 80 den Außenspiegel eines entgegenkommenden Autos mit der Schulter streife beschließe ich, diese Wahnsinnigen ziehen zu lassen. Es wird zwar einige Anstrengung kosten, im Flachen wieder an die Gruppe heranzufahren, aber ein ungetrübtes Nahverhältnis zu intakten Knochen wird mir nicht ganz zu unrecht nachgesagt. Als ich die Jungs in Zernez wieder einhole und ihnen mein Erstaunen über derart offensichtliche Todesverachtung mitteile, blicke ich in verärgerte Gesichter: „Wär’ ja schneller gegangen, wenn uns dieser A*** mit seinem Auto nicht im Weg gewesen wäre“.
Nun gut, in diesem Fall also mein Dank an den anonymen A***, der mich vor einer drohenden Solofahrt durchs Unterengadin bewahrt hat. Unser Weg führt auf der linken Talseite entlang, 45 mehr oder weniger flache bzw. leicht bergab verlaufende Kilometer, die sich aber traditionellerweise in die Länge ziehen wie eine Legislaturperiode von George Bush. Und heuer hab’ ich zudem das Gefühl, einige Zwischen¬steigungen durchleiden zu müssen, die im Vorjahr noch nicht vorhanden waren. Zumindest scheint es meinen Mitstreitern nicht viel besser zu gehen, die kurzen Zwischensteigungen fahre ich meist an der Spitze an und werde zu meinem Erstaunen und meiner Beruhigung in deren Verlauf auch nicht überholt. Die Flachstücke sind vergleichsweise angenehm, wir wechseln in der Gruppe gut durch, unsere Zweckgemein¬schaft läuft wie ein Uhrwerk und ich habe in den Windschattenphasen Zeit, die Rennmaschine meines Vordermanns zu bewundern – Carbonrahmen, Carbonfelgen, Carbonsattel, Carbonbremszangen, die Carbonschalthebel zur Gewichtsreduktion direkt am Rahmen angebracht; geschätzte sechseinhalb Kilo mattschwarze Ingenieurskunst zu einem Grammpreis von €1.20…
Langsam nähert sich der letzte Anstieg des Tages, also rasch noch ein paar Stücke Trauben¬zucker einwerfen, die Muskeln lockern und bei AC/DC musikalische Inspiration holen – „I’m a rolling thunder, a pouring rain – I’m coming on like a hurricane“. Die Norbertshöhe ein herrlicher Pass, da sie erstens mit 400 Höhenmetern auf 6 Kilometern von überschaubarer Länge und Steigung ist und zweitens das Ziel in Nauders danach nur mehr wenige Meter entfernt liegt. Nach dem Grenzübergang in Martina heißt’s also You got me ringing Hell’s Bells – Kette aufs mittlere Blatt und los geht’s. Zwar bleibt ein gewisses Restrisiko, mit so einer brachialen Aktion den Ösophagus versehentlich auf Schubumkehr zu stellen, aber die wider Erwarten sehr guten Beine verleiten geradezu zur Attacke – und wieso soll es nicht klappen?
Am besten ist es in diesen Momenten, der Pulsuhr keinerlei Aufmerksamkeit mehr zu schenken und sich lieber an jenen Fahrern zu orientieren, die hier gerade die letzten Kilometer der „kurzen“ B-Tour (die 137-km-Schleife durchs Münstertal) absolvieren. Das klingt jetzt äußerst unsympathisch – aber es ist schon ein extrem geiles Gefühl, an Nachzüglern vorbeizuziehen wie ein Moped… Und wie auf Bestellung erheben sich in diesem Moment die ergreifenden Klänge von Wherever I May Roam: „And the road becomes my bride, I’ve stripped off all but pride – so in her I do confide and she keeps me satisfied, gives me all I need…“. Kurzer Blick nach unten in Kehre 4 und langsam wird’s zur Gewissheit, “die kriegen mich nicht mehr”! Kehre 3, noch zu einem Fahrer der A-Tour aufgeschlossen und ihn überholt, Kehre 2, Anfeuerungsrufe von den Zuschauern am Straßenrand, Kehre 1 … „And the earth becomes my throne…”, ein unbeschreibliches Gefühl hier mit der musikalischen Untermalung von Kirk Hammett, dem Hexenmeister des Gitarrenriffs über die Kuppe zu gehen und schließlich nach kurzer Abfahrt die Ziellinie zu überqueren.
5:51 Stunden, 55. Gesamtrang unter 1800 Startern – aber Zahlen sind eine einigermaßen unzureichende Form, um die Freude über das Geleistete zum Ausdruck zu bringen. Lemmy trifft den Punkt einmal mehr genauer: I am the One – Orgasmatron!
4 gefahrene Pässe
Stilfser Joch, Ofenpass, Umbrailpass, NorbertshöheIch bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
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