Cima Grappa 100,0 km / 1863 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von huwegener
Von huwegener –
„Cima Grappa?“ „Oui…“ „C`est dur, très dur“. Der freundliche italienische Fahrradmechaniker am Ortsausgang von Bassano macht mich in bestem Französisch (wir hatten uns auf Französisch als Verkehrssprache geeinigt) auf etwas aufmerksam, was ich längst weiß: dass der Aufstieg zum Monte Grappa schwer werden kann. Fast 30 km bergauf über 1600 Höhenmeter. Der letzte veritable Gipfel, auf den ich geklettert bin, war der Mont Ventoux – aber das ist jetzt schon 9 Jahre her. Damals war ich fast 50, heute bin ich eben diese 9 Jahre älter und scheine mir wohl beweisen zu wollen, dass immer noch was geht. Nach einigen Radtagen in den Euganeischen Hügeln in der Nähe von Padua soll es jetzt als Abschluss also auf den Monte Grappa gehen.
Die durch den Radkoffer leicht lädierte Schaltung ist fachmännisch repariert und der freundliche Mechaniker kassiert mit der Frage, ob ich denn wirklich bis ganz nach oben wolle, 5 Euro für die Reparatur. Sehe ich so aus, als könnte ich nicht? Klar will ich, aber... Ich radle langsam los, die Schaltung ist wieder perfekt, der nagelneue Rucksack mit allem, was ich vielleicht brauchen werde, ist kaum zu spüren. Aber ich bin nervös, unsicher, ob alles so ablaufen wird, wie ich es seit fast einem Jahr geplant habe.
Beim Frühstück im Hotel ging fast gar nichts, etwas Toast, viel Kaffee und ein watteähnliches Gefühl in den Beinen. Von der Terrasse des Hotelzimmers hätte ich das Massiv eigentlich direkt vor Augen haben müssen. Eigentlich. Aber alles, was ich sah, war die verwaschene Kontur eines mächtigen Steinhaufens. Denn das Wetter an diesem 2. Oktober 2006 ist zwar in der Ebene 24 Grad warm, aber diesig. Gestern Abend haben wir noch draußen unseren Aperitif genommen, heute Morgen ist alles in einen weißen Schleier getaucht. Ich ahne, dass es mit der atemberaubenden Aussicht auf die venezianische Ebene wohl nichts werden wird.
In Romano d'Ezzelino stopfe ich mein Langarmtrikot in meinen Rucksack, versuche mich an einer Banane und radle los. Am Ortsausgang geht es nach wenigen hundert Metern mit einer ersten Kehre direkt in den Berg. Mein Steigungsmesser zeigt mir Steigungsprozente zwischen 8 und 10 %. Die Steigung ist regelmäßig, was mir sehr entgegenkommt, die Straße ist breit und der Belag wirklich gut. Ich nehme einen kleinen Gang und finde schnell einen flüssigen Tritt. Ich bin nicht sehr schnell, aber ich komme voran.
Noch weiß ich nicht, ob das die nächsten 25 km so weiter gehen wird und konzentriere mich darauf nichts zu übertreiben. In der Tat lenkt mich bald auch nichts mehr davon ab, mich ausschließlich auf das Radfahren zu konzentrieren: ab einer Höhe von 400 Metern verschwinde ich und mit mir die mich umgebende Landschaft mehr und mehr in einem dichten Nebel, durch den die Sonne nur noch hin und wieder hindurch findet.
Es wird langsam gespenstisch. Ich überhole eine mutige Dame, die auf einem Rennrad ohne jede Ausrüstung wohl einige Kilometer in den Berg fährt, um dann umzukehren. Ansonsten kein Mensch auf der Straße, ab und zu ein Touristenauto, ein oder zwei Motorräder, die vorbei huschen und eilig vom Nebel verschluckt werden. Ich kann gerade mal 100 m weit sehen und fühle mich wie auf einer Insel in einem Meer von Dunst- und Nebelschwaden. Die Kehren tauchen fast unvermittelt auf. Eine Orientierung ist nur mit dem Höhenmesser möglich. Zum Glück registriert mein elektronischer Freund am Lenkrad jeden einzelnen Meter. Das gibt Moral und die Gewissheit, dass ich mich meinem Ziel stetig nähere.
Ansonsten hält sich der Unterhaltungswert dieser Fahrt sehr in Grenzen. Langsam wird es kalt. Nach 10 km bin ich auf 800 m angekommen und froh, aus meinem Rucksack Ärmlinge und Windweste hervorkramen zu können. Nach 2 Bananen geht es weiter. Ich ahne, dass es noch unangenehm werden wird, denn der Kollege, der mir gerade bergab entgegen kommt, kann sich vor Kälte kaum auf dem Rad halten.
Aber es geht gut. Ich komme gut voran, der Puls pendelt um 140 Schläge und es scheint, dass die 4000 km und 40.000 hm, die ich in den letzten 12 Monaten gefahren bin, nicht völlig umsonst gewesen sind. Ich kann mich also wieder ins Hochgebirge wagen. Bescheiden, aber immerhin sicher, dass ich an diesem Berg bestimmt nicht scheitern werde.
Auf einer Höhe von 850 m erreiche ich Campo Solagna, nach weiteren 150 Hm Ponte San Lorenzo. Die wenigen Ausflugslokale am Rande der Straße machen im kalten Nebel den Eindruck, als wären sie für die Ewigkeit geschlossen. Jetzt wird es für wenige Kilometer flacher, ich verliere sogar 40-50 m an Höhe und kann ein wenig Fahrt aufnehmen.
Bei km 20 geht es weiter bergauf, zunächst mit 6 %, dann pendelt sich die Steigung wieder bei 8 % ein. Die Kuhglocken, die ich jetzt höre, sagen mir, dass ich auf der Höhe der Almwiesen angekommen sein muss. Ich kann aber beim besten Willen keine Kuh erspähen. Sie bleiben unwirklich am Rande der Straße im Nebel verborgen – nur der vielstimmige Klang ihrer Glocken begleitet mich durch die nächsten Kehren.
Auf 1200 Meter Höhe passiere ich einen Arbeitstrupp, der Schneestangen setzt - Vorbereitung für die kommende Winter- und Skisaison. Sie lassen mich völlig desinteressiert passieren. Ich habe mir diesen Montag ja bewusst ausgesucht, weil ich gelesen hatte, dass der Monte Grappa an Wochenenden von den einheimischen Radsportlern emsig frequentiert wird. Mein Kalkül war einen Tag außerhalb eines Wochenendes zu nehmen, um nicht von Hunderten gut trainierter italienischer Rennradfahrer überholt zu werden. Dass ich allerdings nun seit mehr als 25 km völlig allein auf der Strecke bin, erstaunt mich dann aber doch etwas.
Auf den letzten 300 Höhenmetern nimmt die Steigung noch einmal zu und erreicht nach der Kreuzung Caupo / Cima Grappa Werte zwischen 10 und 12 %. Der Tritt wird ein wenig zäher, und man kann wirklich nicht behaupten, ich sei zügig unterwegs. Ich wage kaum auf meinen Tacho zu schauen. Zehn? Früher waren es mindestens zwölf. Aber das war früher, heute sind es zehn. Früher ist wohl vorbei. Zehn ist auch gut.
Nach fast 30 Kilometern Aufstieg habe ich dann die Passhöhe auf 1775 m erreicht und fahre an der Militärkaserne und dem Ausflugslokal vorbei auf den fast leeren Parkplatz unterhalb des großformatigen Denkmals, das an den 1. Weltkrieg, die Auseinandersetzung zwischen Italien und Österreich sowie 25.000 Tote auf beiden Seiten erinnert.
Hier oben reißt der Himmel das erste Mal auf. Ich kann kurzzeitig blaue Fetzen und ein Stück alpine Landschaft um mich herum erkennen und mache schnell ein paar Fotos, bevor sich der Himmel wieder mit Dunst und Nebel verhüllt. Ich werde mir darüber klar, dass ich wohl das obere Ende der Wolken erreicht habe, durch die ich knapp 1600 Höhenmeter wie in einem Meer aus Watte geklettert bin. Noch hundert Meter höher und die Sicht wäre vermutlich wie aus einem Flugzeug.
Es ist kalt und ich verzichte auf eine Besichtigung des Denkmals. Nachdem ich mir den gesamten Rest an Kleidung aus meinem Rucksack übergezogen und erstaunten Landsleuten erläutert habe wie ich denn hier rauf gekommen bin (ja, mit dem Rad, ja, in 2 ½ Stunden, ja von Bassano, nein, ohne Dope, selbst in meinem Alter...) mache ich mich an den nördlichen Abstieg Richtung Caupo (Seren del Grappa). Die Temperatur liegt gefühlt bei etwa 8 Grad, die Finger sind schon etwas steif. Ich tauche wieder in dichten Nebel ein, aber ich freue mich: jetzt geht es nur noch bergab.
Drei Kilometer später trete ich dann gegen den ersten Gegenanstieg. Von minus 8 geht es zurück auf plus 8-10 % über mehr als 2,5 km. Ich nehme den kleinsten Gang und fluche, so laut ich kann, die Beine haben keine Lust mehr und ich merke, wie es unter meiner Windjacke bei der erneuten Anstrengung nicht nur warm, sondern auch ziemlich nass wird.
Der Rest der Abfahrt ist wirklich kein Vergnügen. Ich bremse was das Zeug hält, weil nur selten zu erkennen ist, wohin genau die Straße führt. Der Nebel ist der eine Grund, der andere meine Gleitsichtbrille, die die äußere Nässe in einen dichten Schleier auf den Gläsern verwandelt, so dass ich mich nur noch über ihren Rand hinweg orientieren kann. Ich kann also kaum noch etwas sehen und die Finger sind vor Kälte so steif, dass ich Mühe habe, problemlos zu schalten und zu bremsen. Einige Kilometer bleibe ich auf einer Höhe von ca. 1400 m und bete, dass es doch jetzt endlich richtig bergab gehen möge. Die Straße wird eng, zwei oder drei Autos begegnen mir wie ein flüchtiger Schatten, ansonsten ist es menschenleer. Eigentlich unverantwortlich, dass ich hier allein herumfahre. Erst ab 1000 Meter wird die Temperatur langsam angenehmer. Nur die letzten großen Kehren hinunter nach Caupo (Seren del Grappa) machen wieder Spaß. Es wird deutlich heller und wärmer.
Nachdem ich in Caupo den überflüssigen Teil meiner feuchten Bekleidung in meinen Rucksack zurück gestopft habe, wird mir beim Studium meiner Karten klar, dass ich die für diesen Bereich vorgesehene Karte im Hotel gelassen habe. Keine Orientierung möglich. Ich folge also den Straßenschildern, die in Italien mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind. Bassano del Grappa: 40 km – und ich beginne auf der SS 50 in Richtung Bassano zu radeln – freilich mit dem konkreten Verdacht auf einer Schnellstraße gelandet zu sein, auf der ich als Radfahrer eigentlich nichts zu suchen habe.
Der erste Tunnel (beleuchtet, 600 m) macht mich stutzig, der zweite (unbeleuchtet, 400 m) beunruhigt mich ein wenig, aber es gibt keinerlei Alternativen. Ich halte an, kann aber auf meiner Karte meinen Standort nicht identifizieren. Also weiter. Nach wenigen Kilometern stehe ich vor einem Tunnel mit einer Länge von 3,6 km. Offensichtlich bin ich auf die SS 50 Bis geraten. Zurück geht nichts, also vorwärts. Das Zeitfahren durch den spärlich beleuchteten Tunnel fordert mir alles ab. Ich fühle mich wie beim Prolog der Tour de France – allerdings mit viel schlechterer Luft. Den Gedanken an einen möglichen Defekt verdränge ich so gut es geht. Dann ein weiterer kleiner Tunnel mit einer Linkskurve Richtung Bassano – und ich befinde mich auf der Einfahrt zur vierspurigen Schnellstraße SS 47, die in nord-südlicher Richtung das Tal der Brenta durchquert.
Mist – mit dem Rennrad auf einer Autobahn gelandet zu sein, ist nicht wirklich erfreulich – vor allem, weil die Leitplanken hier eine Höhe von mehr als 1,40 m haben und der Seitenstreifen keine 50 cm breit ist. Also: Zurück in den Tunnel ist keine Alternative. Entweder Hilfe per Handy holen oder frech weiter fahren. Nach nochmaligem Kartenstudium entdecke ich, dass in ca. 2 km ein Rastplatz eingezeichnet ist, von dem aus das gegenüberliegende Ufer der Brenta erreichbar sein muss. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Rennrad auf einer Autobahn ohne Seitenstreifen zu fahren. Immerhin überholen mich die Trucks mit respektvoller Distanz. Dieses zweite Zeitfahren ist zwar kürzer als im Tunnel, überzeugt mich aber, dass ich kurzzeitig noch Geschwindigkeiten deutlich über 40 km/h treten kann – und nach 2000 Metern ist der Spuk dann auch vorbei. Ich fahre über eine kleine Brücke auf das gegenüberliegende Ufer und anschließend auf einer ruhigen Uferstraße durch das Brenta-Tal Richtung Bassano.
Das Tal der Brenta ist eng, an beiden Seiten ragen die Felswände fast senkrecht in die Höhe. Die Schnellstraße, der ich zum Glück entkommen bin, ist stellenweise über den Fluss gebaut. Kein Wunder, dass es kaum Straßen in nord-südlicher Richtung gibt. In Valstagna nehme ich in einem kleinen Café an der Straße noch eine kurze Auszeit und zahle für drei Wasser 2,40 € bevor ich weiter in Richtung Hotel aufbreche.
Langsam öffnet sich das Tal, die seitlichen Felswände treten zurück, verschwinden langsam im Dunst. Die Rückkehr in die venezianische Ebene hat etwas Beruhigendes. Willkommen Bassano!
Die Durchquerung von Bassano Richtung Hotel fordert mir dann doch noch einiges ab. Die italienischen Autofahrer haben vor Rennradfahren offensichtlich keinerlei Respekt. Kein Vergleich mit dem limburgischen Hügelland, in dem ich sonst lebe und Rad fahre. Aber ich überstehe auch den letzten Teil der Fahrt problemlos. Nach 100 Km und mehr als 5 Stunden Fahrzeit bin ich wieder dort, wo ich losgefahren bin, überzeugt, dass es keine Meisterleistung war – aber mir hat es gefallen. Ich war nicht brillant und auch nicht wirklich schnell, aber es ist für meine Verhältnisse gut gelaufen. Das ist erfreulich, denn ich habe noch einige wenige Pläne, bevor ich 60 werde. Nächstes Jahr ist endlich der Galibier dran – der Flug nach Genf für Anfang September 2007 ist schon gebucht.
Die durch den Radkoffer leicht lädierte Schaltung ist fachmännisch repariert und der freundliche Mechaniker kassiert mit der Frage, ob ich denn wirklich bis ganz nach oben wolle, 5 Euro für die Reparatur. Sehe ich so aus, als könnte ich nicht? Klar will ich, aber... Ich radle langsam los, die Schaltung ist wieder perfekt, der nagelneue Rucksack mit allem, was ich vielleicht brauchen werde, ist kaum zu spüren. Aber ich bin nervös, unsicher, ob alles so ablaufen wird, wie ich es seit fast einem Jahr geplant habe.
Beim Frühstück im Hotel ging fast gar nichts, etwas Toast, viel Kaffee und ein watteähnliches Gefühl in den Beinen. Von der Terrasse des Hotelzimmers hätte ich das Massiv eigentlich direkt vor Augen haben müssen. Eigentlich. Aber alles, was ich sah, war die verwaschene Kontur eines mächtigen Steinhaufens. Denn das Wetter an diesem 2. Oktober 2006 ist zwar in der Ebene 24 Grad warm, aber diesig. Gestern Abend haben wir noch draußen unseren Aperitif genommen, heute Morgen ist alles in einen weißen Schleier getaucht. Ich ahne, dass es mit der atemberaubenden Aussicht auf die venezianische Ebene wohl nichts werden wird.
In Romano d'Ezzelino stopfe ich mein Langarmtrikot in meinen Rucksack, versuche mich an einer Banane und radle los. Am Ortsausgang geht es nach wenigen hundert Metern mit einer ersten Kehre direkt in den Berg. Mein Steigungsmesser zeigt mir Steigungsprozente zwischen 8 und 10 %. Die Steigung ist regelmäßig, was mir sehr entgegenkommt, die Straße ist breit und der Belag wirklich gut. Ich nehme einen kleinen Gang und finde schnell einen flüssigen Tritt. Ich bin nicht sehr schnell, aber ich komme voran.
Noch weiß ich nicht, ob das die nächsten 25 km so weiter gehen wird und konzentriere mich darauf nichts zu übertreiben. In der Tat lenkt mich bald auch nichts mehr davon ab, mich ausschließlich auf das Radfahren zu konzentrieren: ab einer Höhe von 400 Metern verschwinde ich und mit mir die mich umgebende Landschaft mehr und mehr in einem dichten Nebel, durch den die Sonne nur noch hin und wieder hindurch findet.
Es wird langsam gespenstisch. Ich überhole eine mutige Dame, die auf einem Rennrad ohne jede Ausrüstung wohl einige Kilometer in den Berg fährt, um dann umzukehren. Ansonsten kein Mensch auf der Straße, ab und zu ein Touristenauto, ein oder zwei Motorräder, die vorbei huschen und eilig vom Nebel verschluckt werden. Ich kann gerade mal 100 m weit sehen und fühle mich wie auf einer Insel in einem Meer von Dunst- und Nebelschwaden. Die Kehren tauchen fast unvermittelt auf. Eine Orientierung ist nur mit dem Höhenmesser möglich. Zum Glück registriert mein elektronischer Freund am Lenkrad jeden einzelnen Meter. Das gibt Moral und die Gewissheit, dass ich mich meinem Ziel stetig nähere.
Ansonsten hält sich der Unterhaltungswert dieser Fahrt sehr in Grenzen. Langsam wird es kalt. Nach 10 km bin ich auf 800 m angekommen und froh, aus meinem Rucksack Ärmlinge und Windweste hervorkramen zu können. Nach 2 Bananen geht es weiter. Ich ahne, dass es noch unangenehm werden wird, denn der Kollege, der mir gerade bergab entgegen kommt, kann sich vor Kälte kaum auf dem Rad halten.
Aber es geht gut. Ich komme gut voran, der Puls pendelt um 140 Schläge und es scheint, dass die 4000 km und 40.000 hm, die ich in den letzten 12 Monaten gefahren bin, nicht völlig umsonst gewesen sind. Ich kann mich also wieder ins Hochgebirge wagen. Bescheiden, aber immerhin sicher, dass ich an diesem Berg bestimmt nicht scheitern werde.
Auf einer Höhe von 850 m erreiche ich Campo Solagna, nach weiteren 150 Hm Ponte San Lorenzo. Die wenigen Ausflugslokale am Rande der Straße machen im kalten Nebel den Eindruck, als wären sie für die Ewigkeit geschlossen. Jetzt wird es für wenige Kilometer flacher, ich verliere sogar 40-50 m an Höhe und kann ein wenig Fahrt aufnehmen.
Bei km 20 geht es weiter bergauf, zunächst mit 6 %, dann pendelt sich die Steigung wieder bei 8 % ein. Die Kuhglocken, die ich jetzt höre, sagen mir, dass ich auf der Höhe der Almwiesen angekommen sein muss. Ich kann aber beim besten Willen keine Kuh erspähen. Sie bleiben unwirklich am Rande der Straße im Nebel verborgen – nur der vielstimmige Klang ihrer Glocken begleitet mich durch die nächsten Kehren.
Auf 1200 Meter Höhe passiere ich einen Arbeitstrupp, der Schneestangen setzt - Vorbereitung für die kommende Winter- und Skisaison. Sie lassen mich völlig desinteressiert passieren. Ich habe mir diesen Montag ja bewusst ausgesucht, weil ich gelesen hatte, dass der Monte Grappa an Wochenenden von den einheimischen Radsportlern emsig frequentiert wird. Mein Kalkül war einen Tag außerhalb eines Wochenendes zu nehmen, um nicht von Hunderten gut trainierter italienischer Rennradfahrer überholt zu werden. Dass ich allerdings nun seit mehr als 25 km völlig allein auf der Strecke bin, erstaunt mich dann aber doch etwas.
Auf den letzten 300 Höhenmetern nimmt die Steigung noch einmal zu und erreicht nach der Kreuzung Caupo / Cima Grappa Werte zwischen 10 und 12 %. Der Tritt wird ein wenig zäher, und man kann wirklich nicht behaupten, ich sei zügig unterwegs. Ich wage kaum auf meinen Tacho zu schauen. Zehn? Früher waren es mindestens zwölf. Aber das war früher, heute sind es zehn. Früher ist wohl vorbei. Zehn ist auch gut.
Nach fast 30 Kilometern Aufstieg habe ich dann die Passhöhe auf 1775 m erreicht und fahre an der Militärkaserne und dem Ausflugslokal vorbei auf den fast leeren Parkplatz unterhalb des großformatigen Denkmals, das an den 1. Weltkrieg, die Auseinandersetzung zwischen Italien und Österreich sowie 25.000 Tote auf beiden Seiten erinnert.
Hier oben reißt der Himmel das erste Mal auf. Ich kann kurzzeitig blaue Fetzen und ein Stück alpine Landschaft um mich herum erkennen und mache schnell ein paar Fotos, bevor sich der Himmel wieder mit Dunst und Nebel verhüllt. Ich werde mir darüber klar, dass ich wohl das obere Ende der Wolken erreicht habe, durch die ich knapp 1600 Höhenmeter wie in einem Meer aus Watte geklettert bin. Noch hundert Meter höher und die Sicht wäre vermutlich wie aus einem Flugzeug.
Es ist kalt und ich verzichte auf eine Besichtigung des Denkmals. Nachdem ich mir den gesamten Rest an Kleidung aus meinem Rucksack übergezogen und erstaunten Landsleuten erläutert habe wie ich denn hier rauf gekommen bin (ja, mit dem Rad, ja, in 2 ½ Stunden, ja von Bassano, nein, ohne Dope, selbst in meinem Alter...) mache ich mich an den nördlichen Abstieg Richtung Caupo (Seren del Grappa). Die Temperatur liegt gefühlt bei etwa 8 Grad, die Finger sind schon etwas steif. Ich tauche wieder in dichten Nebel ein, aber ich freue mich: jetzt geht es nur noch bergab.
Drei Kilometer später trete ich dann gegen den ersten Gegenanstieg. Von minus 8 geht es zurück auf plus 8-10 % über mehr als 2,5 km. Ich nehme den kleinsten Gang und fluche, so laut ich kann, die Beine haben keine Lust mehr und ich merke, wie es unter meiner Windjacke bei der erneuten Anstrengung nicht nur warm, sondern auch ziemlich nass wird.
Der Rest der Abfahrt ist wirklich kein Vergnügen. Ich bremse was das Zeug hält, weil nur selten zu erkennen ist, wohin genau die Straße führt. Der Nebel ist der eine Grund, der andere meine Gleitsichtbrille, die die äußere Nässe in einen dichten Schleier auf den Gläsern verwandelt, so dass ich mich nur noch über ihren Rand hinweg orientieren kann. Ich kann also kaum noch etwas sehen und die Finger sind vor Kälte so steif, dass ich Mühe habe, problemlos zu schalten und zu bremsen. Einige Kilometer bleibe ich auf einer Höhe von ca. 1400 m und bete, dass es doch jetzt endlich richtig bergab gehen möge. Die Straße wird eng, zwei oder drei Autos begegnen mir wie ein flüchtiger Schatten, ansonsten ist es menschenleer. Eigentlich unverantwortlich, dass ich hier allein herumfahre. Erst ab 1000 Meter wird die Temperatur langsam angenehmer. Nur die letzten großen Kehren hinunter nach Caupo (Seren del Grappa) machen wieder Spaß. Es wird deutlich heller und wärmer.
Nachdem ich in Caupo den überflüssigen Teil meiner feuchten Bekleidung in meinen Rucksack zurück gestopft habe, wird mir beim Studium meiner Karten klar, dass ich die für diesen Bereich vorgesehene Karte im Hotel gelassen habe. Keine Orientierung möglich. Ich folge also den Straßenschildern, die in Italien mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind. Bassano del Grappa: 40 km – und ich beginne auf der SS 50 in Richtung Bassano zu radeln – freilich mit dem konkreten Verdacht auf einer Schnellstraße gelandet zu sein, auf der ich als Radfahrer eigentlich nichts zu suchen habe.
Der erste Tunnel (beleuchtet, 600 m) macht mich stutzig, der zweite (unbeleuchtet, 400 m) beunruhigt mich ein wenig, aber es gibt keinerlei Alternativen. Ich halte an, kann aber auf meiner Karte meinen Standort nicht identifizieren. Also weiter. Nach wenigen Kilometern stehe ich vor einem Tunnel mit einer Länge von 3,6 km. Offensichtlich bin ich auf die SS 50 Bis geraten. Zurück geht nichts, also vorwärts. Das Zeitfahren durch den spärlich beleuchteten Tunnel fordert mir alles ab. Ich fühle mich wie beim Prolog der Tour de France – allerdings mit viel schlechterer Luft. Den Gedanken an einen möglichen Defekt verdränge ich so gut es geht. Dann ein weiterer kleiner Tunnel mit einer Linkskurve Richtung Bassano – und ich befinde mich auf der Einfahrt zur vierspurigen Schnellstraße SS 47, die in nord-südlicher Richtung das Tal der Brenta durchquert.
Mist – mit dem Rennrad auf einer Autobahn gelandet zu sein, ist nicht wirklich erfreulich – vor allem, weil die Leitplanken hier eine Höhe von mehr als 1,40 m haben und der Seitenstreifen keine 50 cm breit ist. Also: Zurück in den Tunnel ist keine Alternative. Entweder Hilfe per Handy holen oder frech weiter fahren. Nach nochmaligem Kartenstudium entdecke ich, dass in ca. 2 km ein Rastplatz eingezeichnet ist, von dem aus das gegenüberliegende Ufer der Brenta erreichbar sein muss. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Rennrad auf einer Autobahn ohne Seitenstreifen zu fahren. Immerhin überholen mich die Trucks mit respektvoller Distanz. Dieses zweite Zeitfahren ist zwar kürzer als im Tunnel, überzeugt mich aber, dass ich kurzzeitig noch Geschwindigkeiten deutlich über 40 km/h treten kann – und nach 2000 Metern ist der Spuk dann auch vorbei. Ich fahre über eine kleine Brücke auf das gegenüberliegende Ufer und anschließend auf einer ruhigen Uferstraße durch das Brenta-Tal Richtung Bassano.
Das Tal der Brenta ist eng, an beiden Seiten ragen die Felswände fast senkrecht in die Höhe. Die Schnellstraße, der ich zum Glück entkommen bin, ist stellenweise über den Fluss gebaut. Kein Wunder, dass es kaum Straßen in nord-südlicher Richtung gibt. In Valstagna nehme ich in einem kleinen Café an der Straße noch eine kurze Auszeit und zahle für drei Wasser 2,40 € bevor ich weiter in Richtung Hotel aufbreche.
Langsam öffnet sich das Tal, die seitlichen Felswände treten zurück, verschwinden langsam im Dunst. Die Rückkehr in die venezianische Ebene hat etwas Beruhigendes. Willkommen Bassano!
Die Durchquerung von Bassano Richtung Hotel fordert mir dann doch noch einiges ab. Die italienischen Autofahrer haben vor Rennradfahren offensichtlich keinerlei Respekt. Kein Vergleich mit dem limburgischen Hügelland, in dem ich sonst lebe und Rad fahre. Aber ich überstehe auch den letzten Teil der Fahrt problemlos. Nach 100 Km und mehr als 5 Stunden Fahrzeit bin ich wieder dort, wo ich losgefahren bin, überzeugt, dass es keine Meisterleistung war – aber mir hat es gefallen. Ich war nicht brillant und auch nicht wirklich schnell, aber es ist für meine Verhältnisse gut gelaufen. Das ist erfreulich, denn ich habe noch einige wenige Pläne, bevor ich 60 werde. Nächstes Jahr ist endlich der Galibier dran – der Flug nach Genf für Anfang September 2007 ist schon gebucht.
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Monte GrappaIch bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
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