Stelvio-Gavia-Mortirolo 136,1 km / 4503 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Renko
Von Renko –
Beinharte Traumtagestour mit drei der berühmtesten Pässe der Alpen!
In der West-Ost Richtung kommt man sogar auf gegen 5000Hm, mit dem steilen Mortirolo am Anfang! In diesem Fall ist Vorsicht geboten in den 48 Kehren der letzten Abfahrt, sie sind enger als man denkt!
18. Juni 2005. Ein Tag der "Firsts"...
Am Vorabend, Freitag, fahre ich erstmals seit der Wiederaufnahme des Radfahrens über den Ofenpass. Erstmals ist dies überhaupt möglich: die Eröffnung des Vereinatunnels zwischen dem Prättigauer Kurort Klosters und Sagliains im Unterengadin verkürzt die Reise aus Zürich um zweieinhalb Stunden! Übernachtet wird erstmals im Obervinschgau: Wegen einer Veranstaltung sind die Hotels in Prad ausgebucht, ich finde schliesslich ein Zimmer in einem Bauernhaus.
Am morgen esse ich Frühstück mit der Bäuerin, heute soll wahrheitlich ein Tag der Superlativen, eben ein Tag der Firsts sein. Es geht erstmals den "Stairway to Heaven" hoch, die wohl einmalige Serpentinenpassage zum 2757m hohen Stilfser Joch, dann erstmals nach Bormio, dann erstmals über den sagenumwobenen Gávia. Am Ende des Tages auch ein First, die Südauffahrt zum Passo Mortirolo, oder "Murtaröl" in Veltliner Dialekt, der allererste Besuch des durch den Giro d'Italia berühmt gewordenen, durch die Militarisierung Italiens gebauten Strassenübergangs. Ob das alles an einem Tag machbar ist?
Um 8:40 ist es soweit, die Tour beginnt. Durch den 900m hohen Prad beginnt es. 1996 bin ich mit einem Kollegen den Stairway to Heaven runtergefahren auf einem tonnenschweren MTB, nun fahre ich erstmals hoch. Die neue Radkarriere ist noch relativ jung, ich bin noch am Lernen, über Radfahren und vor allen Dingen über mich selbst. Die heutigen Bedingungen, so sollte ich in den kommenden Jahren erfahren, sind für mich optimal: bewölkt und lau, weder Regen noch Sonne, weder Hitze noch Kälte. Die ersten zwei Kilometer verlaufen etwas unruhig, dann schaltet sich der Rythmus ein. Mit Autopilot rolle ich an Stilfs vorbei, Gomagoi und schliesslich Trafoi. Mit den Kehren steigt die Spannung und Spass, ehe erstmals Sicht auf den Pass frei ist. Wie kommt man hier überhaupt hoch?
Neue Erkenntnisse: der Kampf ist an zwei Fronten: Körper und Kopf. Steile Strassen belasten den Körper, aber im Kopf können sie durch die Rarität motivieren. Aber endlos in die Höhe ragende Strassen belasten den Kopf enorm. Bis weit nach dem Hotel Franzenshöhe kämpfe ich gegen die riesig wirkende Entfernung des Passes, merke die Kehren kaum noch.
Irgendwann halte ich an und hole den Apparat. Heute gibt es nicht nur Firsts, sondern einen "Last": der Analogapparat ist das letzte Mal mit dabei, denn das digitale Alter hat auch mich erfasst. Aber irgendwie wirken die analogen Aufnahmen schöner: nicht so akkurat, sondern fast wie Gemälde.
Ich blicke hinab auf jede Menge Kehren und das Hotel Franzenshöhe. "Das alles habe ich hinter mir - die können mir nicht mehr weh tun!" Das ist ein Gefühl, das nicht bei jeder Auffahrt aufkommt, aber in manchen noch mir bevorstehenden Situationen mich retten sollte!
Erst in den letzten Kehren macht sich der Sauerstoffmangel merkbar. Wie letztes Jahr, 2003, am Col de l'Isèran, genau so hoch...
Am Pass ist bereits der Himmel los. Motorradfahrer, Autofahrer, Reisebusse. Kaum zu glauben, plötzlich reisst die Wolkendecke auf und gibt Sicht frei auf den vergletscherten Ortler. König des Tirols in majestätischer weisser Pracht!
An einem Kiosk kaufe ich ein Trikott: darauf sind "Stélvio-Gávia-Mortirolo", nun habe ich mich für die Drei-Pässe-Tagesfahrt verpflichtet! Die Qualität ist nichts spezielles: trotzdem hat er es bis ins Jahr 2009 geschafft, nicht weggeworfen zu werden.
Friedlich ist es weg von den Läden. Aber früher wohl nicht so. Hier verlief die Grenze zwischen der K. u. K. Monarchie und Italien bis zum Ersten Weltkrieg. Eine berühmte Aufnahme aus den ersten Tagen des Bergkriegs zeigt die italienischen Alpini am Pass selber, kurz danach wurden sie zurückgeworfen, später verlief die Frontlinie etwas weiter unten, wenig oberhalb des Pass Umbrail. Damals beim Kriegsausbruch stand ein einziges Hotel am Pass, heute dagegen gibt es für die Sommerskifahrer einige Möglichkeiten.
Bis Ende Oktober bleibt die Strasse offen, was nicht immer einfach ist (das sollte ich in den kommenden Radjahren zweimal zu spüren bekommen). In den letzten Tagen vor der Schliessung werden die Skifahrer aus Südtirol gar über den Umbrail umgeleitet, wenn die Sicherheit am Steilhang unterhalb des Passes, eben am "Stairway to Heaven", nicht mehr gewährleistet werden kann.
So weit, so gut: die Auffahrt war lediglich ein "Storm in a Teacup", keine Müdigkeitserscheinungen, und nun scheint die Sonne! Volle Freude, werfe ich mich in die Abfahrt. Da und dort Fotostopps, sonst ruhig runter, ohne sich zu beeilen. Eine Kehrengruppe folgt, die Geschwindigkeit geht entsprechend zurück, da geniesse ich die Ruhe. Ich halte an, schiesse ein Foto, fahre ein Stück weiter. Etwas stimmt nicht, ich weiss nicht was, weiss nur, dass ich es bald wissen werde.
Die Kehren sind hinter mir, nun folgen die weiterhin in einem schlechten Zustand befindlichen Galerien. Instinktiv fahre ich nun sehr langsam, und nun weiss ich warum: seit einer Viertelstunde kommen keine Fahrzeuge entgegen. Oh je!
1997 wurde ich an der Seilbahnstation Pischa, unterwegs in Richtung Flüelapass von der Polizei angehalten, da eine Untersuchung im Gange war. Am Vorabend war ein Motorradfahrer ins Schleudern geraten und kam dabei ums Leben. Wenn hier oberhalb von Bormio ähnliches passiert ist, dann wohl nicht am Vorabend, sondern in den letzten fünfzehn Minuten!
Plötzlich sehe ich die erwartete, stehende Autokolonne. Ich radle im Gehtritt weiter, überhole die stehenden Fahrzeuge und komme vorne zum Stillstand. Ein Motorradfahrer liegt auf dem Asphalt und wird medizinisch versorgt. Er kann sich etwas bewegen und vor allem kann noch sprechen. Das ganze ist trotzdem eine ernüchternde Sache, gibt schon zu denken.
Zehn Minuten später ist es soweit: der Mann ist in einem "Blutwagen", der fährt mit blauem Licht runter nach Bormio. Die Carabinieri schliessen ihre Teilnahme ab, und der Verkehr kann rollen. Minuten später erreiche ich Bormio, es ist genau zwölf Uhr.
Zuerst etwas Pizza essen, dann ein Eis. Neue Erkenntnisse hier auch: so lecker italienisches Eis schmeckt, so schwerfällig ich danach wirke.
Halb eins geht es los. Nun steht der Gávia auf dem Programm. Aber das Eis und nun die zunehmende Hitze machen mich zu schaffen. Mehrmals halte ich an, ehe ich Santa Caterina erreiche. Ich mache kurz halt um aus dem Sonnenschein mich etwas zu erholen.
Dann geht es weiter und nun ist etwas Energie wieder mit dabei.
Was danach folgt, gehört zu den drei schönsten bis dahin besuchten Alpenstrassen. Im Vorjahr gab es einen Traumherbsttag am Col de la Cayolle, gefolgt am nächsten Tag von einem gewaltigen Schneesturm am Col de la Bonnette. Auch dort neue Erkenntnisse - nichts motiviert mehr als das Abenteuer...drei Wochen später fahre ich auf den Pragelpass an einem glasklaren Herbsttag. Die ausgedehnten Wälder an der Westseite müssen einmal gesehen werden.
Der Gávia dagegen ist in frühsommerlicher Stimmung. Die schmale, schlängelnde Trassenführung spricht mir wahnsinnig an, und beeinflusst die künftige Strassen- und Tourenwahl: lieber Nebenstrassen, selbst wenn die Asphaltierung schlecht oder gar nicht vorhanden ist. Dieses schmale Strässchen schlängelt zuerst hoch, dann kehrt rechts und führt in den Wald. Aber der Wald ist nicht all so dicht, sodass eine tolle, stets ändernde Mischung aus Sonne und Schatten entsteht! Herrlich - und dies bei sanfter Steigung...ein kompletter Leckerbissen!
Weiter oben schlängelt die Strasse vom Frühsommer in eine zunehmend braune Welt. Hier geht die Energie recht schnell aus, zudem wird die Steigung beträchtlich. "Hitting the Wall", nennt man dies in Ami-Englisch...
Scharf links, dann 15%, dann etwas flacher, dann wieder 15%. Erinnerungen an ein Debakel am Galibier zwei Jahren zuvor werden wach. Auch hier habe ich nichts zum Essen, wo ist doch der Pass? Zum Glück schiesse ich ein paar Fotos, denn die Freude an dieser traumhaften Bergwelt ist kaum noch vorhanden, da wäre alles sonst vergessen gegangen! Und die Landschaft verdient sie!
Totmüde erreiche ich schliesslich die Passhöhe. Ein tolles "Radler-Essen" folgt: Linzertorte und Cola. Was braucht man sonst? Es dauert aber eine halbe Stunde ehe die Müdigkeit sich aufzulösen beginnt...
Aber welch eine Auffahrt! Mit der Energie kehrt auch die Freude zurück. Blicke auf die Königsspitze, die Grenze zu Südtirol, die Grenze zwischen lateinischer und germansicher Welten. Gletscher auch unweit des Passes. Und was wird die Südseite bringen? Eine Enttäuschung wie eigentlich die Abfahrt vom Stilfser Joch nach Bormio? Oder etwas ähnliches wie diese sensationelle Auffahrt aus Santa Caterina?
Was folgt, sprengt schon alles je Erlebte auf dem Fahrrad, und macht mich zu einem, wie es in der Schweiz heisst, "begeisterten Velofahrer". Zuerst senkt die Strasse sanft und macht ihren weiten Bogen. Dann plötzlich die Aussicht: unten ein türkisblauer Bergsee. Und dahinter stürzt das Land senkrecht in die Tiefe! Mir raubt's schlicht den Atem! Und weit dahinter am Horizont ragen die eisgepanzerten Adamello-Spitzen.
Minuten vergehen, schliesslich fahre ich weiter. Anders als das Land bleibt die Strasse am Hang wie geklebt. Ich radle langsam weiter, bald erreiche ich einen Tunnelportal. Der kann zum Glück umgangen werden. Das geschotterte Teilstück ist wie nichts je gesehenes oder erlebtes. Wie hätten Autos hier je fahren können? Und mit dieser provisorischen Absicherung? Bald das Resultat: ein Monument für eine Gruppe Soldaten, die hier in die Tiefe stürzten. Denkmal für Soldaten aus Bolzano, und einige mit nicht ganz echt klingelnden, italienisierten Namen. Auch ein Denkmal an die Geschichte...
Hinter dem unteren Tunnelportal geht die Abfahrt weiter. Die Strasse ist richtig heikel, da der Platz für den Radler und das entgegen kommende Auto recht knapp ist. Motorradfahrer bilden die grössere Gefahr. Für "Fahrt mit Schwung" fehlt einfach der Platz.
Die Strasse ist genial, die Ausblicke vorne und hinten unglaublich. Und die schlängelnde Strasse ist nur einspurig. Das ist Radfahren!!
Dann folgen Kehren, das Gefälle ist teilweise beträchtlich, und dann ist der einspurige Abschnitt zu Ende. Ich verspreche mir in diesem Moment, den Gávia möglichst schnell wieder zu besuchen.
Weiter geht es hinter Ponte di Legno bei zunehmendem Verkehrsaufkommen. Die Hitze ist heftig, Müdigkeit nimmt wieder zu. Schliesslich erreiche ich den Abzweig zum Murtaröl, ob die Energien noch ausreichen?
In Monno halte ich wegen Hunger an. Es ist schon sechs Uhr, die Sonne brennt weiterhin an diesem Südhang. Nach der Pause komme ich nicht mehr in Schwung, die Müdigkeit nimmt immer mehr zu. Die Steigung ist sanfter als die berüchtigte Westauffahrt aus Mazzo, aber für einen totmüden Radler mehr als schlimm.
Scharf rechts, ich habe keine Energie mehr, bin komplett ausgebrannt. Wo soll ich denn heute übernachten? Komme ich überhaupt vor Dunkelheit hoch?
Atembeschwerden setzen langsam ein, in der Luftrohre stimmt etwas nicht. Erfahrungslos weiss ich nicht was tun. Habe ich eine Grenze überschritten? Kann man in einer Auffahrt zusammenbrechen, leide ich an Flüssigkeitsmangel? Zahle ich den Preis dafür, dass ich nicht früh genug aufhöre? Dass die Angst, zuwenig getan zu haben, mich in eine gefährliche Situation treibt? Dumm von Natur aus?
Immer wieder halte ich an und huste, aber die Probleme bleiben. Nun folgt eine Gruppe steiler Serpentinen, ich komme kaum vorwärts. Wenig danach kommt ein Gebäude ins Visier, es ist ein Rifugio, und ich gebe auf, 1,5km vor dem Murtaröl. Es ist kurz vor acht.
In der Nacht folgt ein Albtraum. Nach nur drei Stunden bin ich wieder wach. Eine Wasserflasche ist ganz in der Nähe aber ich bin zu schwach um sie zu fassen. Auch Erfahrung gesammelt - die Gefahren von Flüssigkeit- und Salzmangel. Um sechs schlafe ich wieder ein, eine Stunde später stehe ich dann auf.
Nach dem Frühstück fahre ich die wenigen Meter zum Pass. Strahlend schönes Wetter. Dann die Abfahrt. Ich will herausfinden, ob die steile Mazzo-Auffahrt überhaupt machbar ist für mich, die Abfahrt soll dies etwa klären. Steil ist sie, aber in der Auffahrt vielleicht nicht unmöglich? Gegenverkehr zwingt zur Konzentration, Ausblicke auf das Veltlin selten, aber toll.
Von Tirano fahre ich weiter bei zunehmender Hitze, aber Power ist keiner dabei. Die Bernina-Strasse ist breit, schnell und rege befahren. Eine Art von Strasse, die man lieber meidet. Oder besser nur in der Zwischensaison fährt? In Poschiavo zwingen Magenbeschwerden zur Aufgabe. Der Zug kann den Last übernehmen.
Der Stairway to Heaven, der Gávia-Himmel, der steile Murtaröl. Ich verspreche mir, möglichst bald zurückzukehren.
Somit die Tour Stélvio-Gávia-Mortirolo. Der Tag, an dem das Gelegenheitsradfahren zur Leidenschaft wurde. An dem der Radler das Analog-Alter verliess
Ziemlich genau vier Monate später ist es soweit. Inzwischen mit gut achtzig neuen Pässen in der Sammlung bin ich vergleichsweise top-fit. Ich reise mit dem Zug an und übernachte am Berninapass. Mitte Oktober ist schon bedenklich spät für die Hochalpen, aber fit und motiviert bin ich.
Viertel vor sieben geht es los, die Abfahrt in der Dunkelheit vom Bernina ist brutal kalt. In Poschiavo kann ich nicht weiter und suche ein Café auf. Eine halbe Stunde später ist es hell und ich radle weiter.
Samstag morgen in Tirano, jeder Mensch scheint unterwegs zu sein, die Atmosphäre ist toll, lebendig. Der Weg nach Mazzo ist kurz, dann geht es erstmals den Mortirolo hoch. Die erste Rampe ist steil wie am Pragel, dann eine Verschnaufpause, dann wird's echt steil. Aber der Mann ist in seinem Element, das Fahrrad hat eine grosszügige Übersetzung...
Die 20%ige Rampe folgt, kurz Wiegetritt, dann wieder im Sattel. Wann wird es hart? In der Mitte lässt sich die andauernde Steigung ein wenig spüren, dann ist die Strasse aus Grósio erreicht, dann der bildhübsche See, dann der Pass. War das wirklich der Beinbrecher Murtaröl?
Auf Impulse biege ich rechts in die Kammstrasse nach Trivigno. Im Herbst ist der Ausblick frei über das gold-rot-gelbe Veltlin auf die Bernina-Gruppe und den Monte Disgrazia. Atemberaubend...
Dann Trivigno, Aprica, die lange Abfahrt und sanfte Auffahrt nach Ponte di Legno. Mittagessen folgt, tolle Pasta nach Veltliner Rezept. Dann weiter.
Der Schock: der Gávia hat Wintersperre! Am 1. und 2. Oktober war ich mit den Eltern gewesen in Zermatt, da hatte es geschneit und seither nicht mehr. Und da sperrte man sofort den Gávia! Nach einem einzigen Schneefall!
Klar: bis zum Stilfser Joch wird es nicht mehr heute reichen. Was machen?
Ich entscheide schliesslich für die Auffahrt, bis sie nicht mehr geht. Was dann folgt, eine Solo-Fahrt an der Südseite des Gávia, ohne jeglichen Auto- oder Radverkehr, gar ohne Wanderer, mich allein an der schönsten Auffahrt der Alpen, bleibt unvergesslich...
In der West-Ost Richtung kommt man sogar auf gegen 5000Hm, mit dem steilen Mortirolo am Anfang! In diesem Fall ist Vorsicht geboten in den 48 Kehren der letzten Abfahrt, sie sind enger als man denkt!
18. Juni 2005. Ein Tag der "Firsts"...
Am Vorabend, Freitag, fahre ich erstmals seit der Wiederaufnahme des Radfahrens über den Ofenpass. Erstmals ist dies überhaupt möglich: die Eröffnung des Vereinatunnels zwischen dem Prättigauer Kurort Klosters und Sagliains im Unterengadin verkürzt die Reise aus Zürich um zweieinhalb Stunden! Übernachtet wird erstmals im Obervinschgau: Wegen einer Veranstaltung sind die Hotels in Prad ausgebucht, ich finde schliesslich ein Zimmer in einem Bauernhaus.
Am morgen esse ich Frühstück mit der Bäuerin, heute soll wahrheitlich ein Tag der Superlativen, eben ein Tag der Firsts sein. Es geht erstmals den "Stairway to Heaven" hoch, die wohl einmalige Serpentinenpassage zum 2757m hohen Stilfser Joch, dann erstmals nach Bormio, dann erstmals über den sagenumwobenen Gávia. Am Ende des Tages auch ein First, die Südauffahrt zum Passo Mortirolo, oder "Murtaröl" in Veltliner Dialekt, der allererste Besuch des durch den Giro d'Italia berühmt gewordenen, durch die Militarisierung Italiens gebauten Strassenübergangs. Ob das alles an einem Tag machbar ist?
Um 8:40 ist es soweit, die Tour beginnt. Durch den 900m hohen Prad beginnt es. 1996 bin ich mit einem Kollegen den Stairway to Heaven runtergefahren auf einem tonnenschweren MTB, nun fahre ich erstmals hoch. Die neue Radkarriere ist noch relativ jung, ich bin noch am Lernen, über Radfahren und vor allen Dingen über mich selbst. Die heutigen Bedingungen, so sollte ich in den kommenden Jahren erfahren, sind für mich optimal: bewölkt und lau, weder Regen noch Sonne, weder Hitze noch Kälte. Die ersten zwei Kilometer verlaufen etwas unruhig, dann schaltet sich der Rythmus ein. Mit Autopilot rolle ich an Stilfs vorbei, Gomagoi und schliesslich Trafoi. Mit den Kehren steigt die Spannung und Spass, ehe erstmals Sicht auf den Pass frei ist. Wie kommt man hier überhaupt hoch?
Neue Erkenntnisse: der Kampf ist an zwei Fronten: Körper und Kopf. Steile Strassen belasten den Körper, aber im Kopf können sie durch die Rarität motivieren. Aber endlos in die Höhe ragende Strassen belasten den Kopf enorm. Bis weit nach dem Hotel Franzenshöhe kämpfe ich gegen die riesig wirkende Entfernung des Passes, merke die Kehren kaum noch.
Irgendwann halte ich an und hole den Apparat. Heute gibt es nicht nur Firsts, sondern einen "Last": der Analogapparat ist das letzte Mal mit dabei, denn das digitale Alter hat auch mich erfasst. Aber irgendwie wirken die analogen Aufnahmen schöner: nicht so akkurat, sondern fast wie Gemälde.
Ich blicke hinab auf jede Menge Kehren und das Hotel Franzenshöhe. "Das alles habe ich hinter mir - die können mir nicht mehr weh tun!" Das ist ein Gefühl, das nicht bei jeder Auffahrt aufkommt, aber in manchen noch mir bevorstehenden Situationen mich retten sollte!
Erst in den letzten Kehren macht sich der Sauerstoffmangel merkbar. Wie letztes Jahr, 2003, am Col de l'Isèran, genau so hoch...
Am Pass ist bereits der Himmel los. Motorradfahrer, Autofahrer, Reisebusse. Kaum zu glauben, plötzlich reisst die Wolkendecke auf und gibt Sicht frei auf den vergletscherten Ortler. König des Tirols in majestätischer weisser Pracht!
An einem Kiosk kaufe ich ein Trikott: darauf sind "Stélvio-Gávia-Mortirolo", nun habe ich mich für die Drei-Pässe-Tagesfahrt verpflichtet! Die Qualität ist nichts spezielles: trotzdem hat er es bis ins Jahr 2009 geschafft, nicht weggeworfen zu werden.
Friedlich ist es weg von den Läden. Aber früher wohl nicht so. Hier verlief die Grenze zwischen der K. u. K. Monarchie und Italien bis zum Ersten Weltkrieg. Eine berühmte Aufnahme aus den ersten Tagen des Bergkriegs zeigt die italienischen Alpini am Pass selber, kurz danach wurden sie zurückgeworfen, später verlief die Frontlinie etwas weiter unten, wenig oberhalb des Pass Umbrail. Damals beim Kriegsausbruch stand ein einziges Hotel am Pass, heute dagegen gibt es für die Sommerskifahrer einige Möglichkeiten.
Bis Ende Oktober bleibt die Strasse offen, was nicht immer einfach ist (das sollte ich in den kommenden Radjahren zweimal zu spüren bekommen). In den letzten Tagen vor der Schliessung werden die Skifahrer aus Südtirol gar über den Umbrail umgeleitet, wenn die Sicherheit am Steilhang unterhalb des Passes, eben am "Stairway to Heaven", nicht mehr gewährleistet werden kann.
So weit, so gut: die Auffahrt war lediglich ein "Storm in a Teacup", keine Müdigkeitserscheinungen, und nun scheint die Sonne! Volle Freude, werfe ich mich in die Abfahrt. Da und dort Fotostopps, sonst ruhig runter, ohne sich zu beeilen. Eine Kehrengruppe folgt, die Geschwindigkeit geht entsprechend zurück, da geniesse ich die Ruhe. Ich halte an, schiesse ein Foto, fahre ein Stück weiter. Etwas stimmt nicht, ich weiss nicht was, weiss nur, dass ich es bald wissen werde.
Die Kehren sind hinter mir, nun folgen die weiterhin in einem schlechten Zustand befindlichen Galerien. Instinktiv fahre ich nun sehr langsam, und nun weiss ich warum: seit einer Viertelstunde kommen keine Fahrzeuge entgegen. Oh je!
1997 wurde ich an der Seilbahnstation Pischa, unterwegs in Richtung Flüelapass von der Polizei angehalten, da eine Untersuchung im Gange war. Am Vorabend war ein Motorradfahrer ins Schleudern geraten und kam dabei ums Leben. Wenn hier oberhalb von Bormio ähnliches passiert ist, dann wohl nicht am Vorabend, sondern in den letzten fünfzehn Minuten!
Plötzlich sehe ich die erwartete, stehende Autokolonne. Ich radle im Gehtritt weiter, überhole die stehenden Fahrzeuge und komme vorne zum Stillstand. Ein Motorradfahrer liegt auf dem Asphalt und wird medizinisch versorgt. Er kann sich etwas bewegen und vor allem kann noch sprechen. Das ganze ist trotzdem eine ernüchternde Sache, gibt schon zu denken.
Zehn Minuten später ist es soweit: der Mann ist in einem "Blutwagen", der fährt mit blauem Licht runter nach Bormio. Die Carabinieri schliessen ihre Teilnahme ab, und der Verkehr kann rollen. Minuten später erreiche ich Bormio, es ist genau zwölf Uhr.
Zuerst etwas Pizza essen, dann ein Eis. Neue Erkenntnisse hier auch: so lecker italienisches Eis schmeckt, so schwerfällig ich danach wirke.
Halb eins geht es los. Nun steht der Gávia auf dem Programm. Aber das Eis und nun die zunehmende Hitze machen mich zu schaffen. Mehrmals halte ich an, ehe ich Santa Caterina erreiche. Ich mache kurz halt um aus dem Sonnenschein mich etwas zu erholen.
Dann geht es weiter und nun ist etwas Energie wieder mit dabei.
Was danach folgt, gehört zu den drei schönsten bis dahin besuchten Alpenstrassen. Im Vorjahr gab es einen Traumherbsttag am Col de la Cayolle, gefolgt am nächsten Tag von einem gewaltigen Schneesturm am Col de la Bonnette. Auch dort neue Erkenntnisse - nichts motiviert mehr als das Abenteuer...drei Wochen später fahre ich auf den Pragelpass an einem glasklaren Herbsttag. Die ausgedehnten Wälder an der Westseite müssen einmal gesehen werden.
Der Gávia dagegen ist in frühsommerlicher Stimmung. Die schmale, schlängelnde Trassenführung spricht mir wahnsinnig an, und beeinflusst die künftige Strassen- und Tourenwahl: lieber Nebenstrassen, selbst wenn die Asphaltierung schlecht oder gar nicht vorhanden ist. Dieses schmale Strässchen schlängelt zuerst hoch, dann kehrt rechts und führt in den Wald. Aber der Wald ist nicht all so dicht, sodass eine tolle, stets ändernde Mischung aus Sonne und Schatten entsteht! Herrlich - und dies bei sanfter Steigung...ein kompletter Leckerbissen!
Weiter oben schlängelt die Strasse vom Frühsommer in eine zunehmend braune Welt. Hier geht die Energie recht schnell aus, zudem wird die Steigung beträchtlich. "Hitting the Wall", nennt man dies in Ami-Englisch...
Scharf links, dann 15%, dann etwas flacher, dann wieder 15%. Erinnerungen an ein Debakel am Galibier zwei Jahren zuvor werden wach. Auch hier habe ich nichts zum Essen, wo ist doch der Pass? Zum Glück schiesse ich ein paar Fotos, denn die Freude an dieser traumhaften Bergwelt ist kaum noch vorhanden, da wäre alles sonst vergessen gegangen! Und die Landschaft verdient sie!
Totmüde erreiche ich schliesslich die Passhöhe. Ein tolles "Radler-Essen" folgt: Linzertorte und Cola. Was braucht man sonst? Es dauert aber eine halbe Stunde ehe die Müdigkeit sich aufzulösen beginnt...
Aber welch eine Auffahrt! Mit der Energie kehrt auch die Freude zurück. Blicke auf die Königsspitze, die Grenze zu Südtirol, die Grenze zwischen lateinischer und germansicher Welten. Gletscher auch unweit des Passes. Und was wird die Südseite bringen? Eine Enttäuschung wie eigentlich die Abfahrt vom Stilfser Joch nach Bormio? Oder etwas ähnliches wie diese sensationelle Auffahrt aus Santa Caterina?
Was folgt, sprengt schon alles je Erlebte auf dem Fahrrad, und macht mich zu einem, wie es in der Schweiz heisst, "begeisterten Velofahrer". Zuerst senkt die Strasse sanft und macht ihren weiten Bogen. Dann plötzlich die Aussicht: unten ein türkisblauer Bergsee. Und dahinter stürzt das Land senkrecht in die Tiefe! Mir raubt's schlicht den Atem! Und weit dahinter am Horizont ragen die eisgepanzerten Adamello-Spitzen.
Minuten vergehen, schliesslich fahre ich weiter. Anders als das Land bleibt die Strasse am Hang wie geklebt. Ich radle langsam weiter, bald erreiche ich einen Tunnelportal. Der kann zum Glück umgangen werden. Das geschotterte Teilstück ist wie nichts je gesehenes oder erlebtes. Wie hätten Autos hier je fahren können? Und mit dieser provisorischen Absicherung? Bald das Resultat: ein Monument für eine Gruppe Soldaten, die hier in die Tiefe stürzten. Denkmal für Soldaten aus Bolzano, und einige mit nicht ganz echt klingelnden, italienisierten Namen. Auch ein Denkmal an die Geschichte...
Hinter dem unteren Tunnelportal geht die Abfahrt weiter. Die Strasse ist richtig heikel, da der Platz für den Radler und das entgegen kommende Auto recht knapp ist. Motorradfahrer bilden die grössere Gefahr. Für "Fahrt mit Schwung" fehlt einfach der Platz.
Die Strasse ist genial, die Ausblicke vorne und hinten unglaublich. Und die schlängelnde Strasse ist nur einspurig. Das ist Radfahren!!
Dann folgen Kehren, das Gefälle ist teilweise beträchtlich, und dann ist der einspurige Abschnitt zu Ende. Ich verspreche mir in diesem Moment, den Gávia möglichst schnell wieder zu besuchen.
Weiter geht es hinter Ponte di Legno bei zunehmendem Verkehrsaufkommen. Die Hitze ist heftig, Müdigkeit nimmt wieder zu. Schliesslich erreiche ich den Abzweig zum Murtaröl, ob die Energien noch ausreichen?
In Monno halte ich wegen Hunger an. Es ist schon sechs Uhr, die Sonne brennt weiterhin an diesem Südhang. Nach der Pause komme ich nicht mehr in Schwung, die Müdigkeit nimmt immer mehr zu. Die Steigung ist sanfter als die berüchtigte Westauffahrt aus Mazzo, aber für einen totmüden Radler mehr als schlimm.
Scharf rechts, ich habe keine Energie mehr, bin komplett ausgebrannt. Wo soll ich denn heute übernachten? Komme ich überhaupt vor Dunkelheit hoch?
Atembeschwerden setzen langsam ein, in der Luftrohre stimmt etwas nicht. Erfahrungslos weiss ich nicht was tun. Habe ich eine Grenze überschritten? Kann man in einer Auffahrt zusammenbrechen, leide ich an Flüssigkeitsmangel? Zahle ich den Preis dafür, dass ich nicht früh genug aufhöre? Dass die Angst, zuwenig getan zu haben, mich in eine gefährliche Situation treibt? Dumm von Natur aus?
Immer wieder halte ich an und huste, aber die Probleme bleiben. Nun folgt eine Gruppe steiler Serpentinen, ich komme kaum vorwärts. Wenig danach kommt ein Gebäude ins Visier, es ist ein Rifugio, und ich gebe auf, 1,5km vor dem Murtaröl. Es ist kurz vor acht.
In der Nacht folgt ein Albtraum. Nach nur drei Stunden bin ich wieder wach. Eine Wasserflasche ist ganz in der Nähe aber ich bin zu schwach um sie zu fassen. Auch Erfahrung gesammelt - die Gefahren von Flüssigkeit- und Salzmangel. Um sechs schlafe ich wieder ein, eine Stunde später stehe ich dann auf.
Nach dem Frühstück fahre ich die wenigen Meter zum Pass. Strahlend schönes Wetter. Dann die Abfahrt. Ich will herausfinden, ob die steile Mazzo-Auffahrt überhaupt machbar ist für mich, die Abfahrt soll dies etwa klären. Steil ist sie, aber in der Auffahrt vielleicht nicht unmöglich? Gegenverkehr zwingt zur Konzentration, Ausblicke auf das Veltlin selten, aber toll.
Von Tirano fahre ich weiter bei zunehmender Hitze, aber Power ist keiner dabei. Die Bernina-Strasse ist breit, schnell und rege befahren. Eine Art von Strasse, die man lieber meidet. Oder besser nur in der Zwischensaison fährt? In Poschiavo zwingen Magenbeschwerden zur Aufgabe. Der Zug kann den Last übernehmen.
Der Stairway to Heaven, der Gávia-Himmel, der steile Murtaröl. Ich verspreche mir, möglichst bald zurückzukehren.
Somit die Tour Stélvio-Gávia-Mortirolo. Der Tag, an dem das Gelegenheitsradfahren zur Leidenschaft wurde. An dem der Radler das Analog-Alter verliess
Ziemlich genau vier Monate später ist es soweit. Inzwischen mit gut achtzig neuen Pässen in der Sammlung bin ich vergleichsweise top-fit. Ich reise mit dem Zug an und übernachte am Berninapass. Mitte Oktober ist schon bedenklich spät für die Hochalpen, aber fit und motiviert bin ich.
Viertel vor sieben geht es los, die Abfahrt in der Dunkelheit vom Bernina ist brutal kalt. In Poschiavo kann ich nicht weiter und suche ein Café auf. Eine halbe Stunde später ist es hell und ich radle weiter.
Samstag morgen in Tirano, jeder Mensch scheint unterwegs zu sein, die Atmosphäre ist toll, lebendig. Der Weg nach Mazzo ist kurz, dann geht es erstmals den Mortirolo hoch. Die erste Rampe ist steil wie am Pragel, dann eine Verschnaufpause, dann wird's echt steil. Aber der Mann ist in seinem Element, das Fahrrad hat eine grosszügige Übersetzung...
Die 20%ige Rampe folgt, kurz Wiegetritt, dann wieder im Sattel. Wann wird es hart? In der Mitte lässt sich die andauernde Steigung ein wenig spüren, dann ist die Strasse aus Grósio erreicht, dann der bildhübsche See, dann der Pass. War das wirklich der Beinbrecher Murtaröl?
Auf Impulse biege ich rechts in die Kammstrasse nach Trivigno. Im Herbst ist der Ausblick frei über das gold-rot-gelbe Veltlin auf die Bernina-Gruppe und den Monte Disgrazia. Atemberaubend...
Dann Trivigno, Aprica, die lange Abfahrt und sanfte Auffahrt nach Ponte di Legno. Mittagessen folgt, tolle Pasta nach Veltliner Rezept. Dann weiter.
Der Schock: der Gávia hat Wintersperre! Am 1. und 2. Oktober war ich mit den Eltern gewesen in Zermatt, da hatte es geschneit und seither nicht mehr. Und da sperrte man sofort den Gávia! Nach einem einzigen Schneefall!
Klar: bis zum Stilfser Joch wird es nicht mehr heute reichen. Was machen?
Ich entscheide schliesslich für die Auffahrt, bis sie nicht mehr geht. Was dann folgt, eine Solo-Fahrt an der Südseite des Gávia, ohne jeglichen Auto- oder Radverkehr, gar ohne Wanderer, mich allein an der schönsten Auffahrt der Alpen, bleibt unvergesslich...
3 gefahrene Pässe
Stilfser Joch, Passo di Gavia, Passo del MortiroloStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am