Ein kleiner Dreitausender 97,0 km / 3010 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Lothar63
Von Lothar63 –
Das Studium der Wetterberichte in der NZZ, dem Schweizer Radio auf Schwyzerdütsch und Italienisch war nicht umsonst und das tagelange Warten auf passendes Fahrradwetter hatte sich gelohnt. Was zählt die heimische Pfalz mit ihren kurzen Anstiegen auf Donnersberg und Kalmit, was ist schon das alljährliche Anrollen auf Mallorca gegen eine richtige Passfahrt in den Alpen? Ja, endlich muss etwas Größeres auf dem Rad geleistet werden! Es muss Ruhe einkehren und eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob ich so eine Tour auch drauf habe.
Der Respekt vor der mythischen Aura von Gotthard, Furka und Nufenen drückt wie ein harter Rennsattel auf meine radsportlichen Ambitionen als sich an einem Mittwoch Ende August ein stabiler Hochsommertag ankündigt. Gestärkt durch zahlreiche Vortouren rund um Luganer See und Lago Maggiore sowie angereichert mit zahlreichen Kalorien aus einem üppigen, aber viel zu frühen Frühstück geht es endlich los. Nach der drangvollen Enge des morgendlichen Berufsverkehrs rund um Lugano, fahre ich die Autobahn hinauf nach Norden, Richtung Airolo. In Ambri wird das Rennrad aus dem Auto gezogen, die Flaschen gefüllt und die viel zu kleinen Trikottaschen mit dem notwendigen Kleinkram voll gestopft. Jetzt aber los, die Sonne scheint schon warm auf den Asphalt und ich steige tatendurstig auf meinen blauen Drahtesel, der mich zunächst willig auf leichten Steigungen nach Airolo, dem südlichen Portal des Gotthardtunnels, trägt.
Im Städtchen Airolo gibt es die erste kleine Steigung, eine Vorwarnung auf das, was jetzt kommt. Auf mich wartet der wahre Rennradfahrer-Albtraum: 14 km Granit - Kopfsteinpflaster und das stramm bergauf! Freiwillig Kopfsteinpflaster mit dem Rennrad fahren – da kann man ja nur bekloppt sein! Aber die Fahrt durch das legendäre Val di Tremola erweist sich als eine wahre Schatztruhe, eine wunderbar geschwungene Meisterleistung des Straßenbaus – eine Sinfonie in weicher Kurvenführung und kurzen Geraden, ein echtes Muss für jeden ambitionierten Radler. Allerdings wird auch hier nichts verschenkt. Das stetige Geruckel, die unruhige Fahrt kosten Kraft. Ich muss mich darauf einstellen, dann aber kann ich echte Freude an dieser Fahrt gewinnen. Während sich auf der neuen Passstraße der Verkehr windet, treffen sich hier nur ein paar Radbegeisterte, ein paar wenige Motorräder sowie der größte schweizerische Trachtenverein.
Eine herrliche Ruhe umgibt mich, während mein Herz lautstark das notwendige Blut in meine Beine pumpt. Weit vor mir fährt bereits eine schnelle Bergziege, ein roter Punkt in der Landschaft. „Wie ist die Form heute, gehe ich auch nicht zu schnell an, habe ich das Richtige gegessen, sollte ich nicht schon jetzt mehr Trinken, was macht eigentlich mein rechtes Knie?“ Die Gedanken über meine Kondition werden plötzlich unterbrochen. Da wagt doch einer mich zu überholen. „Soll ich mithalten?“ Einen Moment bin ich unentschlossen. Doch dann siegt die Vernunft. „Der ist doch eh’ jünger wie ich und war bestimmt früher Schweizer Jugendmeister.“ Also lasse ich ihn ziehen. Das ist auch gut so, denn später stellt sich heraus, dass er den Pass wieder Richtung Airolo abfährt.
Zwischendurch muss ich einfach mal zum Fotografieren anhalten. Die Straße ist im oberen Teil der Auffahrt so geschmeidig, fast erotisch in den steilen Hang gelegt, dass es eine wahre Pracht ist. Der erfreuliche Nebeneffekt dieser Ingenieurkunst vergangener Tage ist auch die Tatsache, dass sich die Steigung im moderaten Niveau hält. Nach 24 Serpentinen und einer Fahrzeit von einer Stunde und neun Minuten wir es merklich kühler, die flache Passhöhe des Gotthards wird unspektakulär auf 2109 Metern erreicht. Jetzt schnell in Weste, Arm- und Beinlinge, damit ich nicht auskühle. Ich treffe die beiden anderen Rennradler, die mit mir die Tremola befahren haben. Ihre geölten Oberschenkel beeindrucken mich genauso wie ihre schicken Karbonrenner.
Nach den obligatorischen Beweisfotos und einem netten Plausch unter Gleichgesinnten stürze ich mich Richtung Norden nach Andermatt, jetzt gemeinsam mit den Autos auf der Bundesstraße. Kurz vor dem Restaurant Mättli gibt es die einzigen Kurven. Mit Schaudern schaue ich auf meinen Tacho: gute 75 km/h veranlassen mich, in die Bremsen zu gehen. Schnell ist Hospental erreicht. Ein Schluck aus der Pulle, ein knatschiger Energieriegel, ein Blick nach Osten zum Oberalppass und meine Konzentration richtet sich auf die nächste Aufgabe, den Aufstieg zum Furkapass über die Ostrampe. Zunächst muss hinter Realp ein steiler Vorbau überwunden werden. Hier warten bereits zweistellige Steigungsraten. Die Parole heißt auch hier schön im Rhythmus bleiben. Bloß nicht zu schnell werden mit der Euphorie des Gotthards in den noch willigen Beinen. Ruhig schlängelt sich die Straße in großen Serpentinen hoch. Auch ein junges Schweizer Pärchen mit viel Gepäck schraubt sich ganz langsam bergauf. Er fährt ein paar hundert Meter mit mir mit, bevor er sich wieder zu seiner zierlichen Freundin zurück fallen lässt. Sie haben es nicht eilig, ihr Ziel liegt im Wallis, das schaffen sie gewiss.
Nach 450 Höhenmetern und 8 Kehren erreiche ich auf 1993 Meter das verlassene Hotel Galenstock und die Landschaft öffnet sich zu einem malerischen Hochtal. Die nächsten Kilometer bis zur Passhöhe verlaufen jetzt in einer lang gezogenen Rampe. Im Bereich des Hotels Tiefenbach kann ich etwas durchschnaufen und mein Blick schweift hinauf zu den phantastischen Kletterbergen Furkahorn und Galenstock, die sich majestätisch in den blauen Himmel recken. Die Beine sind immer noch brauchbar und ich komme gut voran. Immer wieder was trinken und noch ein klebriger Energieriegel. Das Wissen, dass hier Etappen der Tour de Swiss lang fahren, beflügelt mich zusätzlich. Kurz vor der Passhöhe heißt es nochmals zubeißen – sicher so 12 %. Die Motorräder ziehen allerdings mühelos vorbei. Aber die zählen einfach nicht. Außer mir fährt hier kein weiterer Radfahrer. Wo sind die heute nur geblieben - bei dem phantastischen Wetter? Dann kommt schon die Passhöhe, gut eine Stunde nach der Durchfahrt von Realp. Die gammeligen Gebäude auf 2436 Meter sind grauselig anzuschauen und zudem wird es windig. Die Motorradfahrer haben aber auch ihr Gutes. Sie machen bereitwillig Bilder von mir und entpuppen sich als echte Fans. In Ihren Augen ist es bereits eine fantastische Leistung mit dem Rad ins Schwimmbad zu fahren und jetzt mehrere Alpenpässe und das echt freiwillig und alles mit so einem dürren Rennrädchen?
Ich schwinge mich wieder auf den Sattel und weiter geht’s in Richtung Wallis. Nach wenigen Metern stockt mir der Atem vor so viel alpiner Pracht. Nach einer Kurve eröffnet sich abrupt ein atemberaubendes Panorama: Der Blick wandert von Dom und Weißhorn weit hinten im Wallis über das dominante Finsteraarhorn hoch über dem Grimselpaß bis zu den eisigen Zwillingen Schreck- und Lauteraarhorn. Ich genieße diese Aussicht ganz besonders, wie eine Belohnung für meine Mühen. Langsam bemerke ich ein bedrohliches Hungergefühl im Bauch, ich muss mich losreißen vom Fotografieren und Staunen. Am tiefer gelegenen, berühmten Hotel Belvedere wäre ich besser gleich vorbei gefahren, aber die Neugier treibt mich in den seitlich gelegenen Touristen-Schuppen, von dessen Terrasse man einen letzten Blick auf den schwindsüchtigen Rhonegletscher werfen kann. Ich werfe mich schnell wieder aufs Rad und gleite in atemberaubendem Tempo nach Gletsch, um mich in meiner Mittagspause einem Teller Nudeln zu widmen. Nach der schlechtesten Pasta meines Lebens – sie war zudem auch noch eine der teuersten – schütte ich mir noch ein weiteres Glas lauwarme Cola rein und fliege weiter abwärts ins junge Rhonetal. Das geht rasant und schnell – dabei wird mir allerdings auch klar, dass ich die verlorene Höhe später wieder hinauf fahren muss. Ab Oberwald benutze ich bis Ulrichen einen Fahrradweg endlang der jungen Rhone, der ruhigste und beschaulichste Teil des Tages. In Ulrichen biegt meine Straße jäh nach Süden ab und bevor ich mich richtig besinne fängt das Finale furioso an, der Aufstieg zum Nufenen.
Auf 14 km müssen 1132 Höhenmeter überwunden werden. Ich war gewarnt worden: Als dritter Pass des Tages ist der Nufenen ein echter Hammer. Er ist steiler als Furka und Gotthard, mit unangenehmen, ewig langen Rampen. Zudem trifft man oft auf Gegenwind, also eine echte Herausforderung zum Schluss. Viel Verkehr gibt es hier nicht. Umso mehr freue ich mich, als ich am Ortsausgang auf zwei weitere Radfahrer treffe. Schnell stellt sich heraus, dass einer unser Tempo nicht mitgehen kann. Dafür ist der andere Kollege sehr stark und bald zieht er vor mir seine Spur. Die ersten 300 Hm führen in sonnenüberfluteten Serpentinen am südlichen Rand des Wallistals empor. Danach erreiche ich eine kurze, flachere Zone, eine kurze Verschnaufpause vor dem heftigen Schlussanstieg. Hoffentlich geht das gut, die Beine melden bereits einen kritischen Alarmzustand und schnell stopfe ich mir ein klebriges Powergel rein. Die Zuckermischung soll ja Wunder wirken!
Mit der Hoffnung auf ein kleines Leistungswunder blicke ich auf die kommende Aufgabe: ab jetzt wird es richtig ernst. Was aus der Ferne so harmlos aussieht, entpuppt sich in der Nähe als eine elendig lange, steile Rampe. Bis zur nächsten Kurve sind es satte zwei Kilometer mit 350 Hm im Gegenwind - echt zermürbend. Mein Blick verengt sich, die wenige Autos um mich herum sind mir schnuppe, das Wichtigste ist die nächste Kurve. Irgendwann kommt sie dann doch – nach endlosen Minuten. Ohne Blick und Interesse für die wilde Berglandschaft peile ich die nächste Kehre an. Eigentlich müsste ich jetzt ein wenig Rückenwind haben, nur ich merke nichts davon. Der Puls hämmert, die Atmung scheint nicht genügend Sauerstoff zu liefern. Nur der größer werdende Abstand zu meinem Leidensgefährten zeigt mir, dass ich vielleicht doch nicht so lahm bin. „Wann kommt bloß die nächste Kurve? Ist sie vielleicht ein wenig flacher? Der Nufenen hat ja nicht viele Kurven, vielleicht kann ich bei der nächsten bereits die Passhöhe sehen und dann nochmals beschleunigen. Jetzt nur nicht schwächeln oder gar absteigen. Soll ich was trinken? Lieber nicht, ich verschlucke mich nur und komme aus dem Rhythmus – Hauptsache das Tempo halten. Verdammt, gerade noch 8 km/h - das müssen konstant 10 bis 12 Prozent sein.“
Ich hatte mir fest vorgenommen, für das Finale noch etwas Saft übrig zu behalten. Mit kräftigem Antritt und einem sportlichen Grinsen wollte ich über meine imaginäre Ziellinie fahren, aber Pustekuchen! Nichts geht mehr, alle Kraft und Energie muss ich aufwenden, um das Tempo leidlich zu halten. So muss es sich wohl anfühlen, wenn der stundenlang Führende zum Schluss kurz vor dem Gipfel von der heranstürmenden Meute der Favoriten überholt wird.
Endlich, endlich nach einer Stunde und 25 Minuten harter Arbeit kündigen bunte Schilder die letzte Passhöhe des Tages an. Mit 2478 Meter Höhe ist der Nufenen sogar etwas höher als der Furka. Zufrieden aber etwas wackelig stelle ich meinen braven Renner in den Windschatten des Passrestaurants. Mein Blick schweift vom nahen Blinnenhorn über das tief liegende Wallis rüber zu den Giganten des Berner Oberlandes. Befriedigt stelle ich fest, wie schnell sich der Puls beruhigt und das Interesse an meiner Umwelt wieder steigt. Es dauert eine geraume Zeit bis unser dritter Mann die heutige Ziellinie erreicht, aber wir wollen ihm ein würdiges Finish bereiten und feuern ihn auf seinen letzten Metern an. Wolken kommen auf, es wird kühler. Danach noch das obligate Gipfelfoto und ich fahre voll bekleidet, aber frierend hinab ins Val Bedretto.
Die ersten Passagen der 25 Kilometer langen Abfahrt nach Airolo sind unangenehm. Es ist windig, Wolken verdecken mittlerweile die Nachmittagssonne und die Betonplatten der Straße verhindern eine genussvolle Abfahrt. Bloß nicht zu viel riskieren und sich zum Schluss noch ablegen! Also runter vom Tempo und hochkonzentriert die Kurven bis Alpe di Cruina meistern. Später wird der Belag besser und wäre nicht der Gegenwind so könnten die 75 km/h vom Gotthard in Gefahr kommen. Bei All’ Aqua entscheide ich mich für eine kurze Rast. Auf der Terrasse sitzend lasse ich bei einem Capuccino die letzten Stunden Revue passieren. Aus „Sicherheitsgründen“ halte ich ausreichend Abstand zu allen anderen Gästen. Die restliche Fahrt nach Airolo und weiter nach Ambri ist ein Kinderspiel. Lediglich der Ehrgeiz, den Schnitt auf über 20 km/h zu heben, treibt mich nochmals an – aber vergeblich. Nach 115 Kilometern und 6 Stunden Fahrzeit mit 3213 Hm im Hochgebirge geht ein ereignisreicher Tag zu Ende. Gut zu wissen, dass ich mein Ziel, was ich seit Jahren im Auge hatte, endlich erreichen konnte. Aber nach dem Spiel ist vor dem Spiel: was kommt als nächstes? All das geht mir durch den Kopf während mich das Auto wieder zurück an den Luganer See bringt. Irgendwie ist es doch ein Wunder, dass ich nur mit einem einzigen Pedaldruck die Maschine mühelos an das schweizerische Tempolimit beschleunigen kann.
Der Respekt vor der mythischen Aura von Gotthard, Furka und Nufenen drückt wie ein harter Rennsattel auf meine radsportlichen Ambitionen als sich an einem Mittwoch Ende August ein stabiler Hochsommertag ankündigt. Gestärkt durch zahlreiche Vortouren rund um Luganer See und Lago Maggiore sowie angereichert mit zahlreichen Kalorien aus einem üppigen, aber viel zu frühen Frühstück geht es endlich los. Nach der drangvollen Enge des morgendlichen Berufsverkehrs rund um Lugano, fahre ich die Autobahn hinauf nach Norden, Richtung Airolo. In Ambri wird das Rennrad aus dem Auto gezogen, die Flaschen gefüllt und die viel zu kleinen Trikottaschen mit dem notwendigen Kleinkram voll gestopft. Jetzt aber los, die Sonne scheint schon warm auf den Asphalt und ich steige tatendurstig auf meinen blauen Drahtesel, der mich zunächst willig auf leichten Steigungen nach Airolo, dem südlichen Portal des Gotthardtunnels, trägt.
Im Städtchen Airolo gibt es die erste kleine Steigung, eine Vorwarnung auf das, was jetzt kommt. Auf mich wartet der wahre Rennradfahrer-Albtraum: 14 km Granit - Kopfsteinpflaster und das stramm bergauf! Freiwillig Kopfsteinpflaster mit dem Rennrad fahren – da kann man ja nur bekloppt sein! Aber die Fahrt durch das legendäre Val di Tremola erweist sich als eine wahre Schatztruhe, eine wunderbar geschwungene Meisterleistung des Straßenbaus – eine Sinfonie in weicher Kurvenführung und kurzen Geraden, ein echtes Muss für jeden ambitionierten Radler. Allerdings wird auch hier nichts verschenkt. Das stetige Geruckel, die unruhige Fahrt kosten Kraft. Ich muss mich darauf einstellen, dann aber kann ich echte Freude an dieser Fahrt gewinnen. Während sich auf der neuen Passstraße der Verkehr windet, treffen sich hier nur ein paar Radbegeisterte, ein paar wenige Motorräder sowie der größte schweizerische Trachtenverein.
Eine herrliche Ruhe umgibt mich, während mein Herz lautstark das notwendige Blut in meine Beine pumpt. Weit vor mir fährt bereits eine schnelle Bergziege, ein roter Punkt in der Landschaft. „Wie ist die Form heute, gehe ich auch nicht zu schnell an, habe ich das Richtige gegessen, sollte ich nicht schon jetzt mehr Trinken, was macht eigentlich mein rechtes Knie?“ Die Gedanken über meine Kondition werden plötzlich unterbrochen. Da wagt doch einer mich zu überholen. „Soll ich mithalten?“ Einen Moment bin ich unentschlossen. Doch dann siegt die Vernunft. „Der ist doch eh’ jünger wie ich und war bestimmt früher Schweizer Jugendmeister.“ Also lasse ich ihn ziehen. Das ist auch gut so, denn später stellt sich heraus, dass er den Pass wieder Richtung Airolo abfährt.
Zwischendurch muss ich einfach mal zum Fotografieren anhalten. Die Straße ist im oberen Teil der Auffahrt so geschmeidig, fast erotisch in den steilen Hang gelegt, dass es eine wahre Pracht ist. Der erfreuliche Nebeneffekt dieser Ingenieurkunst vergangener Tage ist auch die Tatsache, dass sich die Steigung im moderaten Niveau hält. Nach 24 Serpentinen und einer Fahrzeit von einer Stunde und neun Minuten wir es merklich kühler, die flache Passhöhe des Gotthards wird unspektakulär auf 2109 Metern erreicht. Jetzt schnell in Weste, Arm- und Beinlinge, damit ich nicht auskühle. Ich treffe die beiden anderen Rennradler, die mit mir die Tremola befahren haben. Ihre geölten Oberschenkel beeindrucken mich genauso wie ihre schicken Karbonrenner.
Nach den obligatorischen Beweisfotos und einem netten Plausch unter Gleichgesinnten stürze ich mich Richtung Norden nach Andermatt, jetzt gemeinsam mit den Autos auf der Bundesstraße. Kurz vor dem Restaurant Mättli gibt es die einzigen Kurven. Mit Schaudern schaue ich auf meinen Tacho: gute 75 km/h veranlassen mich, in die Bremsen zu gehen. Schnell ist Hospental erreicht. Ein Schluck aus der Pulle, ein knatschiger Energieriegel, ein Blick nach Osten zum Oberalppass und meine Konzentration richtet sich auf die nächste Aufgabe, den Aufstieg zum Furkapass über die Ostrampe. Zunächst muss hinter Realp ein steiler Vorbau überwunden werden. Hier warten bereits zweistellige Steigungsraten. Die Parole heißt auch hier schön im Rhythmus bleiben. Bloß nicht zu schnell werden mit der Euphorie des Gotthards in den noch willigen Beinen. Ruhig schlängelt sich die Straße in großen Serpentinen hoch. Auch ein junges Schweizer Pärchen mit viel Gepäck schraubt sich ganz langsam bergauf. Er fährt ein paar hundert Meter mit mir mit, bevor er sich wieder zu seiner zierlichen Freundin zurück fallen lässt. Sie haben es nicht eilig, ihr Ziel liegt im Wallis, das schaffen sie gewiss.
Nach 450 Höhenmetern und 8 Kehren erreiche ich auf 1993 Meter das verlassene Hotel Galenstock und die Landschaft öffnet sich zu einem malerischen Hochtal. Die nächsten Kilometer bis zur Passhöhe verlaufen jetzt in einer lang gezogenen Rampe. Im Bereich des Hotels Tiefenbach kann ich etwas durchschnaufen und mein Blick schweift hinauf zu den phantastischen Kletterbergen Furkahorn und Galenstock, die sich majestätisch in den blauen Himmel recken. Die Beine sind immer noch brauchbar und ich komme gut voran. Immer wieder was trinken und noch ein klebriger Energieriegel. Das Wissen, dass hier Etappen der Tour de Swiss lang fahren, beflügelt mich zusätzlich. Kurz vor der Passhöhe heißt es nochmals zubeißen – sicher so 12 %. Die Motorräder ziehen allerdings mühelos vorbei. Aber die zählen einfach nicht. Außer mir fährt hier kein weiterer Radfahrer. Wo sind die heute nur geblieben - bei dem phantastischen Wetter? Dann kommt schon die Passhöhe, gut eine Stunde nach der Durchfahrt von Realp. Die gammeligen Gebäude auf 2436 Meter sind grauselig anzuschauen und zudem wird es windig. Die Motorradfahrer haben aber auch ihr Gutes. Sie machen bereitwillig Bilder von mir und entpuppen sich als echte Fans. In Ihren Augen ist es bereits eine fantastische Leistung mit dem Rad ins Schwimmbad zu fahren und jetzt mehrere Alpenpässe und das echt freiwillig und alles mit so einem dürren Rennrädchen?
Ich schwinge mich wieder auf den Sattel und weiter geht’s in Richtung Wallis. Nach wenigen Metern stockt mir der Atem vor so viel alpiner Pracht. Nach einer Kurve eröffnet sich abrupt ein atemberaubendes Panorama: Der Blick wandert von Dom und Weißhorn weit hinten im Wallis über das dominante Finsteraarhorn hoch über dem Grimselpaß bis zu den eisigen Zwillingen Schreck- und Lauteraarhorn. Ich genieße diese Aussicht ganz besonders, wie eine Belohnung für meine Mühen. Langsam bemerke ich ein bedrohliches Hungergefühl im Bauch, ich muss mich losreißen vom Fotografieren und Staunen. Am tiefer gelegenen, berühmten Hotel Belvedere wäre ich besser gleich vorbei gefahren, aber die Neugier treibt mich in den seitlich gelegenen Touristen-Schuppen, von dessen Terrasse man einen letzten Blick auf den schwindsüchtigen Rhonegletscher werfen kann. Ich werfe mich schnell wieder aufs Rad und gleite in atemberaubendem Tempo nach Gletsch, um mich in meiner Mittagspause einem Teller Nudeln zu widmen. Nach der schlechtesten Pasta meines Lebens – sie war zudem auch noch eine der teuersten – schütte ich mir noch ein weiteres Glas lauwarme Cola rein und fliege weiter abwärts ins junge Rhonetal. Das geht rasant und schnell – dabei wird mir allerdings auch klar, dass ich die verlorene Höhe später wieder hinauf fahren muss. Ab Oberwald benutze ich bis Ulrichen einen Fahrradweg endlang der jungen Rhone, der ruhigste und beschaulichste Teil des Tages. In Ulrichen biegt meine Straße jäh nach Süden ab und bevor ich mich richtig besinne fängt das Finale furioso an, der Aufstieg zum Nufenen.
Auf 14 km müssen 1132 Höhenmeter überwunden werden. Ich war gewarnt worden: Als dritter Pass des Tages ist der Nufenen ein echter Hammer. Er ist steiler als Furka und Gotthard, mit unangenehmen, ewig langen Rampen. Zudem trifft man oft auf Gegenwind, also eine echte Herausforderung zum Schluss. Viel Verkehr gibt es hier nicht. Umso mehr freue ich mich, als ich am Ortsausgang auf zwei weitere Radfahrer treffe. Schnell stellt sich heraus, dass einer unser Tempo nicht mitgehen kann. Dafür ist der andere Kollege sehr stark und bald zieht er vor mir seine Spur. Die ersten 300 Hm führen in sonnenüberfluteten Serpentinen am südlichen Rand des Wallistals empor. Danach erreiche ich eine kurze, flachere Zone, eine kurze Verschnaufpause vor dem heftigen Schlussanstieg. Hoffentlich geht das gut, die Beine melden bereits einen kritischen Alarmzustand und schnell stopfe ich mir ein klebriges Powergel rein. Die Zuckermischung soll ja Wunder wirken!
Mit der Hoffnung auf ein kleines Leistungswunder blicke ich auf die kommende Aufgabe: ab jetzt wird es richtig ernst. Was aus der Ferne so harmlos aussieht, entpuppt sich in der Nähe als eine elendig lange, steile Rampe. Bis zur nächsten Kurve sind es satte zwei Kilometer mit 350 Hm im Gegenwind - echt zermürbend. Mein Blick verengt sich, die wenige Autos um mich herum sind mir schnuppe, das Wichtigste ist die nächste Kurve. Irgendwann kommt sie dann doch – nach endlosen Minuten. Ohne Blick und Interesse für die wilde Berglandschaft peile ich die nächste Kehre an. Eigentlich müsste ich jetzt ein wenig Rückenwind haben, nur ich merke nichts davon. Der Puls hämmert, die Atmung scheint nicht genügend Sauerstoff zu liefern. Nur der größer werdende Abstand zu meinem Leidensgefährten zeigt mir, dass ich vielleicht doch nicht so lahm bin. „Wann kommt bloß die nächste Kurve? Ist sie vielleicht ein wenig flacher? Der Nufenen hat ja nicht viele Kurven, vielleicht kann ich bei der nächsten bereits die Passhöhe sehen und dann nochmals beschleunigen. Jetzt nur nicht schwächeln oder gar absteigen. Soll ich was trinken? Lieber nicht, ich verschlucke mich nur und komme aus dem Rhythmus – Hauptsache das Tempo halten. Verdammt, gerade noch 8 km/h - das müssen konstant 10 bis 12 Prozent sein.“
Ich hatte mir fest vorgenommen, für das Finale noch etwas Saft übrig zu behalten. Mit kräftigem Antritt und einem sportlichen Grinsen wollte ich über meine imaginäre Ziellinie fahren, aber Pustekuchen! Nichts geht mehr, alle Kraft und Energie muss ich aufwenden, um das Tempo leidlich zu halten. So muss es sich wohl anfühlen, wenn der stundenlang Führende zum Schluss kurz vor dem Gipfel von der heranstürmenden Meute der Favoriten überholt wird.
Endlich, endlich nach einer Stunde und 25 Minuten harter Arbeit kündigen bunte Schilder die letzte Passhöhe des Tages an. Mit 2478 Meter Höhe ist der Nufenen sogar etwas höher als der Furka. Zufrieden aber etwas wackelig stelle ich meinen braven Renner in den Windschatten des Passrestaurants. Mein Blick schweift vom nahen Blinnenhorn über das tief liegende Wallis rüber zu den Giganten des Berner Oberlandes. Befriedigt stelle ich fest, wie schnell sich der Puls beruhigt und das Interesse an meiner Umwelt wieder steigt. Es dauert eine geraume Zeit bis unser dritter Mann die heutige Ziellinie erreicht, aber wir wollen ihm ein würdiges Finish bereiten und feuern ihn auf seinen letzten Metern an. Wolken kommen auf, es wird kühler. Danach noch das obligate Gipfelfoto und ich fahre voll bekleidet, aber frierend hinab ins Val Bedretto.
Die ersten Passagen der 25 Kilometer langen Abfahrt nach Airolo sind unangenehm. Es ist windig, Wolken verdecken mittlerweile die Nachmittagssonne und die Betonplatten der Straße verhindern eine genussvolle Abfahrt. Bloß nicht zu viel riskieren und sich zum Schluss noch ablegen! Also runter vom Tempo und hochkonzentriert die Kurven bis Alpe di Cruina meistern. Später wird der Belag besser und wäre nicht der Gegenwind so könnten die 75 km/h vom Gotthard in Gefahr kommen. Bei All’ Aqua entscheide ich mich für eine kurze Rast. Auf der Terrasse sitzend lasse ich bei einem Capuccino die letzten Stunden Revue passieren. Aus „Sicherheitsgründen“ halte ich ausreichend Abstand zu allen anderen Gästen. Die restliche Fahrt nach Airolo und weiter nach Ambri ist ein Kinderspiel. Lediglich der Ehrgeiz, den Schnitt auf über 20 km/h zu heben, treibt mich nochmals an – aber vergeblich. Nach 115 Kilometern und 6 Stunden Fahrzeit mit 3213 Hm im Hochgebirge geht ein ereignisreicher Tag zu Ende. Gut zu wissen, dass ich mein Ziel, was ich seit Jahren im Auge hatte, endlich erreichen konnte. Aber nach dem Spiel ist vor dem Spiel: was kommt als nächstes? All das geht mir durch den Kopf während mich das Auto wieder zurück an den Luganer See bringt. Irgendwie ist es doch ein Wunder, dass ich nur mit einem einzigen Pedaldruck die Maschine mühelos an das schweizerische Tempolimit beschleunigen kann.
3 gefahrene Pässe
Furkapass, St. Gotthardpass, NufenenpassIch bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am