Ferragosto 2012 - Zoncolan "triplo" 60,6 km / 0 Hm
Öffentliche Nutzertour von Renko
Von Renko –
Tagwache 6 Uhr unweit von Sutrio, Friaul. Eine halbe Stunde später ist die Abzweigung zum Skigebiet Monte Zoncolàn erreicht. Und zum Rad-Zitadel des Friaul...
Am Vortag hatte ich den Berg auf normalen Strassen umrundet. Von Österreich kommend fuhr ich von Sutrio auf den Sella Ravascletto, weiter über den Monte Crostis und dann hinab nach Comegliàns und Ovaro. Von dort weiter durch das Canale di Gorto hinab zum Rad-Mechaniker in Tolmezzo, dann zurück nach Sutrio. Eine komplette Umrundung des neuen „heiligen Bergs“ des Giro d’Italia.
Nun geht es in der Früh los. Schon in den ersten Kilometern weiss ich, dass es heute nicht so gut klappen wird. Der Traum wäre, alle drei Auffahrten an einem Tag zu beradeln. Aber die Beine tun weh, obwohl die Sutrio-Auffahrt die mit Abstand einfachste der Zoncolàn-Troika bildet. Mit den Gedanken anderswo ist die Konzentration nicht da, das Gepäck, gute acht Kilo, wiegt heute recht schwer. Ein anderer Mechaniker, der vor zwei Tagen in Kärnten die Bremsen zu reparieren versuchte, hatte den Sattel noch etwas höher gestellt. Ich halte an, senke den Sattel etwas zu deutlich ab, beim Weiterfahren melden sich beide Knie sofort. Nochmals anhalten, Sattel wieder erhöhen, dann motivationsarm weiter.
Die Sutrio-Auffahrt ist halt ein Zwillingsbruder des Alpe d'Huez: für Radler wurde er nicht gebaut, sondern für Autos mit beschränkter Bergtauglichkeit. Gute Asphaltierung, sehr breit, bequeme Kehren mit Breite von gar zehn Metern, deshalb minimale Spannung für Radfahrer.
Die Strasse kenne ich, jedoch nicht in der Auffahrt. Spät Oktober 2005 fuhr ich hier zweimal in achtzehn Stunden hinab. Eine tolle Express-Abfahrt ergibt eine langweilige Auffahrt...
Kehre nach Kehre: bald wird die 1'000 Meter Höhengrenze angekündigt, weiter steigt die Strasse mit 8 oder 9% an, sehr konstant, sehr spannungsarm, da könnte man beinahe einschlafen...nur der Autopilot fehlt am Fahrrad...
Schliesslich ist doch das Skigebiet Monte Zoncolàn erreicht, ich drehe dumm und dämmlich eine Runde am Parkplatz für die Wintersportler, im Sommer eine öde Wüste. Wo fährt denn die Strasse weiter? Die Antwort: durch ein neues, langes, quer zur Strasse gebautes Wintersporthotel.
Hundert Meter danach steht ein nettes Bergrestaurant in rustikalem Stil: Zeit zum Frühstücken. Noch nicht einmal neun Uhr, heute Ferragosto, die Besitzerfamilie ist schon tüchtig an der Arbeit, die Tochter trägt bereits friulische Tracht.
Frühstück: Croissants, Cappucino, Cola. Die Wirkung ist magisch und schlagartig: Hoffnung und „self-belief“ wecken schnell auf. Ich bin schon oben! Zwar nur auf 1'400 Metern über Meereshöhe, aber immerhin!
Die Sonne ist zu dieser Tageszeit und nach einer für die Jahreszeit eher kühlen Nacht sehr willkommen. Wie ein Reptil lasse ich von der Sonne gierig Energie auftanken.
Es ist halb zehn Uhr, Zeit zum Losfahren. Ich weiss, was mir bevorsteht: hier stand ich am Morgen des 25. Oktober 2005. 3,8 Kilometer, drei sehr anspruchsvolle Rampen, besonders die letzte, längste, mit einer Spitze von 23% Steigung. Heute habe ich nicht den Colnago, sondern ein Mountainbike, fast 11 Kilo schwer, mit Offroad-Bereifung, 8 Kilo Gepäck. Für den Einsatz der ersten zwei „Granny-Gears“ bin ich einfach zu stolz, im dritten Gang muss der Berg bezwungen werden.
Los geht’s: gerade hinter dem letzten Ski-Gebäude biegt die “Geheimpiste” aus Priola ein, die ursprüngliche Ostauffahrt, deren schmale Trasse nun die Fortsetzung auf den Gipfel bildet. Im Vorfeld der ersten Rampe nimmt die Steigung zu, vielleicht zehn prozent, dann beginnt die Rampe. Lang ist sie, 18% steil, mit dem Gepäck eine richtig anspruchsvolle Sache. Hart in die Pedale treten, Gang drei hält, aber ganz heftige Arbeit ist es. Die Rampe dauert an, die Steigung auch, ich komme richtig ins Schwitzen. Wanderer kommen mir entgegen, die üblichen “Vai! Vai!”, ich trete so hart ich kann. Dann flacht die Rampe endlich ab.
Bequemer setzt sich die Strasse fort, eine Rechtskurve, rechts steht das neue, ebenfalls in einheimischem Stil gebaute Hotel Goles. Dann beginnt die Strasse erneut deutlich anzusteigen - es folgt eine kraftraubende Serie von Haarnadelkurven. Wieder heftig in die Pedale treten. Wiegetritt geht nicht, denn wegen Knieprobleme lasse ich den linken Fuss seit gut drei Wochen nicht mehr in den Klickpedal einbinden. Lenker nach rechts, fest in die Pedale, dann lenker nach links.
Dann wieder flacher. Was gibt es noch? Die Erinnerungen aus 2005 sind nur mehr recht oberflächlich. Bald folgt die Antwort: die letzte Rampe. Hier wurde die Strasse auf kurze Distanz umtrassiert, damit eine Skipiste gebaut werden konnte. Die Strasse führt nun scharf links und kurz recht steil, dann rechts bei geringerer Steigung, überquert die in einer Art Rohr führende Skipiste, biegt dann scharf nach links und beginnt ein drittes und letztes Mal sehr deutlich an Höhe zu gewinnen. Das Rohr ist im Sommer ein Lagerraum für Skiposten usw. Ich habe eine Idee: hier könnte ich mein Gepäck unter einem Dach im trockenen lagern.
Zehn Minuten später beginnt diese dritte und letzte Rampe, nun ohne Gepäck. Der Unterschied ist enorm: dritter Gang ist jetzt keine Qual mehr, selbst 23% geht mit nur leicht zitterndem Vorderrad.
Oben am Berg. Zoncolàn eins ist abgeschlossen! Und das Gepäck ist oben, nicht unten – psychisch ein wichtiger Faktor. Egal wo ich übernachten soll: das Gepäck kommt runter, nicht rauf!
Dann beginnt die Abfahrt nach Ovaro. Seit 2005 habe ich sie nicht mehr gesehen, sondern nur im Internet von Neuasphaltierung, Rodung von Bäumen, Bau von Ausweichstellen, Erstellen von Plakaten über Radhelden der Vergangenheit usw. gelesen. Für einen Radler, der der Tourismusentwicklung in den Alpen tendenziell eher skeptisch gegenübersteht, habe ich eine gewisse Zurückhaltung. Aber auch Neugier: auf dieser Auffahrt habe ich auf einer Art gelitten wie sonst nirgendwo in den Alpen. Wie sieht es aus in der Abfahrt?
Die ersten Serpentinen waren 2005 gerade neu asphaltiert worden: die schwarze Farbe sah eher „grossstädtisch“ aus und wollte nicht ganz in das klassische Bild der Bergwelt passen. Heute ist der Asphalt mit den Jahren heller geworden. Die Abfahrt beginnt, dann folgen die drei Tunnel. 2005 waren sie schon über 60 Jahre alt, schmutzig, auch nass und dunkel. Auch gab es keinen Strassenbelag, dafür tiefere Schlaglöcher. Heute ist der Unterschied nur erfreulich: sie sind beleuchtet mit Sensoren, die Wände und die Decken wurden gereinigt und restauriert, auf dem Boden hat es anstelle des Erdbelags eine leicht rumpelige Betonschicht.
Danach ist die Piste flach, nach der Abzweigung zum Malga Pozôf beginnt dann der Sinkflug: das berühmte Kernstück mit 900m Höhenunterschied auf nur sechs Kilometern. In der Abfahrt staune ich: man könnte eine Auffahrt fast sachlicher beschreiben, wenn man sie zuerst als Abfahrt befährt. Denn hier auf Zoncolàn-West ist es einfach am steilsten wo ich mich nicht mehr so sicher im Sattel fühle: bei der markierten 4,5km Schild sowie bei 1,5km. 2005 hatte ich vor allem eine Horror-Rampe weiter oben als allersteilste in Erinnerung. Aber der Bike entscheidet: wo er mich aus dem Sattel zu werfen droht, muss es halt am steilsten sein.
In der Abfahrt staune ich auch über die Sanierungsarbeiten, denn sie fallen weit sanfter aus als befürchtet. Ausweichstellen sind es nur ganz wenige, die Rodung der Bäume hält sich in engen Grenzen. Scheinbar wurden manche der hässlichen Betonmauern durch hübsche Steinmauern ersetzt. Und der uralten Asphaltierung mit ihren zahllosen Frostspalten, Schlaglöchern, ihrem Split und Dreck ist ein bequem zu fahrendes Giro-Teppich gewichen.
Die letzte Kehre vor Liariis, danach die letzte Rampe vor dem Dörfchen Liariis. Sie ist deutlich weniger steil, das hatte ich auch nicht ganz so in Erinnerung. Dann ist Liariis erreicht, es folgt die auch nicht gerade steigungsfreie Schlussabfahrt nach Ovaro.
Auf der Hauptstrasse sind an diesem Ferragosto zahlreiche Strassenbenützer unterwegs. Ich suche ein am Vortag gesehenes Strassenschild, das den Weg zu einem „Casa del Ciclismo“ weist. Auch diesmal finde ich nichts, fahre dann erneut hinauf nach Liariis. In der Auffahrt komme ich mit zwei Slowenen-Radlern ins Gespräch. Sie fragen mich, ob man gemeinsam den Berg bezwingen wollen. Ich überlege: zu dritt wäre es einfacher, die zwei sitzen auch auf Mountainbikes. Aber nein: erstens weil ich den Berg aus eigener Kraft bezwingen will. Hat nicht einmal Reinhold Messner gesagt, wer Hilfe brauche, den Berg zu bezwingen, der degradiere den Berg! Und zweitens, weil ich einen leeren Magen habe: diesen Fehler hatte ich vor sieben Jahren genau hier begangen.
Das Restaurant in Liariis serviert einen bescheidenen Teller von dunklem Pasta mit Prosciutto-Streifen und einer Wild-Sauce. Die Wirkung ist so schlagartig wie das Frühstück, die Menge ideal: zuviel führt zur Lethargie; zu wenig wird halt nicht reichen. 40 Minuten später rolle ich mit „Akku voll“ durch Liariis.
Und nun, 500 Meter nach dem Restaurant, steht wieder die erste Rampe des 6km langen Kernstücks bevor, dort wo die Piste in den Wald verschwindet. “Strada Liariis – Monte Zoncolan”, das gleiche Schild wie im 2005. Heute sieht er noch furchterregender aus als im 2005, denn im 2012 kenne ich die Strasse, damals bewohnte ich noch die Welt des „Blissful Ignorance“.
24. Oktober 2005. Etwa halb vier nachmittags. Auf den Zoncolàn will ich noch nicht, denn ich weiss von der nahe gelegenen "Panoramica delle Vette" auf dem Hang des Monte Crostis und möchte die Strecke befahren. Aber ein Hotel finde ich im Tal nicht, auch nach einem Restaurant in Ovaro habe ich gerade vergebens gesucht. Also, wohl ohne die notwendigen Entschlossenheit und Energiereserven fahre ich in die ungefesselte Hölle des Zoncolàn. Kein Problem: ich habe seit Ende März schon gegen 90 Pässe in den Beinen, fuhr nur zwölf Tage zuvor erstmals den Giro-Liebling Passo del Mortirolo aus Mazzo, fragte mich danach, was so schwer an der Auffahrt sein soll? Steile Rampen, dann moderater, selbst die kurze 20% Rampe gegen Mitte der Auffahrt wird rasch durch moderatere Steigung abgelöst. In der Mitte und danach ist er recht lange ziemlich steil, dann mit der Einmündung in die Piste aus Grosio wieder angenehmer. Oben angekommen: was soll das Problem mit der Auffahrt sein?
Siegessicher in die erste Rampe des von der Zeit vergessenen Zoncolàn. Nur wenige Sekunden später wird Gang drei zu zwei, keine Minute später dann Colnago-Campagnolo-Dreifach-Gang eins, der selbst auf dem 24% steilen Nigerjoch-Strasse nicht zum Einsatz kommen musste. Die raue Brutalität der Rampe überrascht, die Länge, keine Milderung, keine Kehre, konstant brutal hoch. Der Puls donnert, die Welt um mich herum verschwindet aus der Wahrnehmung, denn alle Gedanken und Energien werden vom Zoncolàn beansprucht. Ich hätte schon besser wissen sollen: schon die Rampe von Ovaro hinauf nach Liariis fiel härter auf als sie vielleicht sein sollte...
Endlich folgt dann die erste Kehre, die grosse Freude auf die endliche Milderung der Auffahrt.
Schon allein diese erste Kehre reicht, um den Unterschied zwischen dem veltliner Mortirolo und seinem friulischen Konkurrenten Zoncolàn abschliessend zu definieren. Nach den steilen Rampen des ersteren wird es jeweils einfacher. Nach der ersten langen, steilen Rampe des Zoncolàn nimmt die Steigung noch weiter zu.
Sieben Jahre später, mit Pasta im Magen, mit Erinnerung aus der Auffahrt von 2005 und der Abfahrt vor zwei Stunden, ist die Sache ein wenig anders. Die neue Asphaltierung wirkt angenehm, der hässliche Belag aus 2005 war wie ein zusätzliches Hindernis. Die erste Kehre kommt, dann die erwähnte, sehr deutliche Zunahme der Steigung. Der Zoncolàn 2012 ist kein neues Lied: er verlangt ganz schön viel Energie, aber man weiss wohin er führt. Nach der ersten Kehre ist die Steigung bald bei über 20%, der dritte Gang wird selbst ohne Gepäck zur Härteprobe.
Weiter dauert die Auffahrt an. Wie in der vorigen Abfahrt besticht sie vor allem durch die Länge - es gibt einfach keinen Unterbruch. Auch heute muss gekämpft werden, zudem kommt die Sonne dank der Entfernung von Bäumen gut durch. Schweiss in den Augen, mit Sonnencrème gemischt. Wunderbar...
Dann drehe ich den Colnago-Lenker nach links, die Steigung geht auf 0% zurück. Die Freude! Wasserflasche greifen, Beine schütteln, ausatmen, der Puls kann ein wenig herunterkommen. Ist der Berg nun bezwungen? War das der Zoncolàn? Damals gab es keine Beschreibung der Auffahrt ausser einer kurzen Erwähnung auf der bekannten „Challenging Climbs“-Liste im Internet. Ein Profil gab es bei salite.ch, etwas schwerer als der Mortirolo, nur ein flüchtiger Blick auf ihn, Höchststeigung auf kurzer Distanz angeblich in der zweiten Hälfte des Kernstücks: 20,7%. Selbst auf der Landkarte konnte ich den Zonchi nicht finden. Der Geheimberg des Friaul...
Heute rolle ich entspannter in das kurze Flachstück ein. Auf beiden Seiten stehen jene schöne Steinmauern, die so viel zur visuellen Aufwertung der Auffahrt beigetragen haben. Hier keine hässlichen Betonmauern mehr, die viele sonst tolle Auffahrten wie das Kaiserjägersträsschen im oberen Val Sugana, der nahe gelegene Monte Crostis oder andere Perlen der Alpensüdseite so übel haben aussehen lassen.
Ich drehe den MTB-Lenker nach rechts, fahre in die nächste Rampe. Ja: DIES ist die Rampe!
Den Colnago-Lenker drehe ich erneut nach rechts mit einem unwohlen Gefühl. Im Unterbewusstsein ahne ich, dass der Berg noch nicht bezwungen ist. Der Tachometer misst Uhrzeit, Geschwindigkeit und Distanz, mehr nicht. Begonnen hat der Tag nicht in Ovaro, sondern rund neunzig Kilometer westlich in Auronzo, am hübschen See mit Drei-Zinnen-Blick. Wie viele Kilometer noch bis zum Berg? Ich habe die Distanz ab Ovaro oder Liariis nicht zur Kenntnis genommen. Warum denn auch? Der Berg ist ja nur einer dieser überbewerteten Mortirolo-Rattenwege...
Rechts durch die Kehre, dann der erste Blick auf das weitere Geschehen. Mein Herz steht einfach still. Massive Zunahme der Steigung, die Strasse schlängelt den Hang hoch; eine, diese Rampe beendende Kehre nicht in Sicht. Scheusslicher Belag, nasskaltes Wetter, Nebel. In diesem Moment, für ein paar Sekunden, habe ich ein Gefühl von Trauer, nichts anderes. Schon nach Ovaro hat der Berg mit seiner Härte richtig überrascht, ab Liariis hat er mich einfach voll aus der Komfortzone herausgerissen. Hier habe ich aber auf die Herausforderung voll geantwortet, ohne zu motzen oder anzuhalten oder sonst jemanden anders zu blamieren. Für einmal habe ich mein bestes gegeben, hier auf diesem gottverlassenen friulischen Berg. Aber für die erneute Zunahme auf 20% Steigung? Wie lange bin ich schon an der Arbeit? Ich ahne, dass die Energiereserven nicht sehr viel länger ausreichen werden: so eine Bergstrasse kann man nicht endlos fahren. Die Pässe dieses Jahres gehen durch den Kopf: Ende März im Schnee auf der Schwägalp, Ausflüge über den Simplon, in den Chablais, Gotthard-Gebiet, Pragel, die Pyrenäen, Mont Ventoux, die grossen Berge der See- und der Cottischen Alpen, das Ötztaler Radmarathon. Auch der Mortirolo, eine Odyssee durch Schnee über den sagenumwobenen Passo del Gavia, auch das Süd Tiroler Nigerjoch östlich von Bozen. Der Zoncolàn ist aber scheinbar ein Berg zu gross für mich: auf diesem Berg habe ich den unbezwingbaren Gegner gefunden. Ich bin diesem Berg halt nicht würdig.
Empathie herrscht: vielleicht geht es so bei Bergsteigern? Irgendwann kommt dann der Berg, den sie nicht erklimmen können? Der Waliser Bergsteiger Eric Jones nahm es 1982 mit dem Eiger auf, wollte den Berg alleine besteigen. Die BBC filmte ihn: an zwei Stellen wurde ein Kameramann von einem Helikopter auf die Nordwand herabgelassen. Der Bergsteiger aus einem Bergbaudorf sagte schon am Anfang, wenn es zu Schwierigkeiten käme, solle man ihn nicht zu retten versuchen. Und so kam es auch: er geriet in Schwierigkeiten, durch Übermut, konnte die Sache schliesslich alleine richten. Seine Worte bleiben in meinem Gedächtnis bis heute: man kann seine geistige Härte einfach nicht fassen. Einer, der nicht andere blamiert oder sich auf andere abhängigartig verlässt wenn es nicht so richtig geht wie geplant, sondern die volle Selbstständigkeit hat und im Berg-Alltag konsequent lebt - bis hin zum Tod. Die britische Antwort auf die tapfersten Söhne der Alpen, wie Kaspar Ritz oder Andreas Hofer.
Das Vorderrad des Colnago ist kaum noch auf dem Boden zu halten. Ich lehne mich inzwischen so lange so weit nach vorne, dass der untere Rücken schon grausam schmerzt. Über das problematische linke Knie denke ich nicht, denn der eifersüchtige Zoncolàn verlangt den totalen Einsatz des Radlers.
Dann der erneute Blick nach vorne, dann der Horror: die Strasse wird NOCH STEILER...
Heute freue ich mich auf die Wiederbegegnung wie beim Besuch eines alten, schon Jahre nicht mehr gesehenen Freunds. Der Berg ist genau wie vor sieben Jahren: nur das Wetter ist schöner, wie auch der Zustand der Strasse. Wie vor sieben Jahren ist der Punkt, wo die Strasse NOCH STEILER wird, ganz klar auszumachen. Wie vor sieben Jahren.
Der Blick nach vorne ist erschütternd, aber auch erleichternd: weiter im Sattel kann ich auf dem splittbedeckten Strässchen nicht. Der Puls donnert im roten Bereich. Nur der Wiegetritt bleibt als Option, eine Art „Flucht nach vorne“. Komme was wolle...hier hat man nichts mehr zu verlieren.
Das Mountainbike leidet nicht unter den Stabilitätsproblemen des Colnago: das Vorderrad bleibt auch hier, auf dem 20,7% Steigung auf dem Teer. Der Sattel stammt vom damaligen Colnago: mit 160 Gramm nicht gerade der bequemste für die lange Tour. Aber das MTB ist einfach bequemer, und allen voran entschieden stabiler. Die Sonne scheint noch, der Schweiss tröpfelt wieder in die Augen. Die Rampe hat es aber auch heute richtig in sich - sie hat einfach kein Ende.
Ab in den Wiegetritt. Was macht nun das Hinterrad? Der Puls? Die Steigung ist einfach horrend, die Strasse ist plötzlich splittbedeckt, kaum findet man einen passablen Weg durch den Dreck. Dies ist plötzlich sehr heikel: das Hinterrad wird nun unruhig. Dann ist der Spuck vorbei, die Steigung ist immer noch brutal, auf den Pedalen stehen kann ich aber nicht weiter.
Im Sattel wieder. Die Steigung lässt einen Hauch nach. Der erschütternde, enttäuschende Blick auf den Tachometer: 4,2 km/h. Also, das ist der Zoncolàn in Zahlen. Gang: eins. Puls: 180. Geschwindigkeit: 4,2 km/h. Die maximale aus dem Körper zu holende Leistung hier, heute, in dem jetzigen körperlichen Zustand ergibt eine Geschwindigkeit von vier-komma-zwei Stundenkilometern.
Endlich ist die Kehre erreicht, ich halte kurz an, wische Schweiss aus den Augen. Ein schnelles Foto mit meinem digitalen Apparat, der nur noch zwei Tage Leben hat. Dann erneut auf den Sattel und weiter. Mit dem MTB kann ich niemanden überholen, auch ohne Gepäck.
Die Steigung geht auf null zurück. Ich hole die Wasserflasche, schaffe etwas Bewegung in den arg verkrampften Rücken. Der Wald macht auf und bietet Ausblicke auf nur eins: Nebel. Aus der Trikot-Tasche hole ich den Fotoapparat, für den ich während der Hölle einfach keine Gedanken übrig hatte. Zwei Clicks, dann leicht nach links. Eine kurze, sehr steile Rampe kommt in Sichtweite: nun kommt aber nicht mehr Furcht, sondern Siegesgewissheit. Der Berg ist bald gezwungen. Etwas Emotion kommt raus, denn die grausamen sechs Kilometer können mir nicht mehr Weh tun. Sie sind hinter mir.
Wieder die kurze steile Rampe. Drei besoffene Einheimische sind zu Fuss unterwegs. Die Rampe wirkt aber härter als im 2005, denn ich kann heute wegen des linken Knies nicht in den Wiegetritt. Danach dreht die Strasse wieder flach nach links...
Nun kommt das nächste Stück Abenteuer des Zoncolàn. Als ich in den ersten Tunnel fahre, da merke ich, dass die Strasse nicht mehr aspahltiert ist. Der Tunnel ist dunkel, schmutzig, stinkend. Dann ein mit Wasser gefühltes Schlagloch. Fast gestürzt...dann wieder Tageslicht. Dann der zweite Tunnel des „Parcours Zoncolàn“, dann der dritte Tunnel.
Es folgt die letzte Kehrenpassage vor dem Cima. Leute sind heute zahlreich, nicht gerade die 100‘000 beim Giro 2010, aber immerhin viele Tagesausflügler. Ich drücke hart in die Pedale, es folgt die letzte Kehre, dann die Ankunft auf dem Berg.
Oben steht eine Radfahrerin, ich gratuliere auf Italienisch. Sie ist aber Slowenin, gehört zu jenen Radlern, die ich in Liariis begegnet hatte. Sie sei aber aus Sutrio hochgefahren, da sie sich nicht getraut habe, den Berg aus Ovaro zu befahren.
Die letzten Kehren vor dem Berg. Etwas Entspannung, der Berg ist geschafft. Eine nach links, immer noch ziemlich steil, dann nach rechts. Dann erneut nach links, dann noch eine Rampe, nach rechts, und die letzten Meter. Dann geht die Steigung definitiv entgültig für immer und die Ewigkeit auf null zurück.
Oben. Absolute Stille. Kein Mensch, sondern nur ein hässliches Asphaltfeld. Kein Bergrestaurant, sondern nur eine Statue der Heiligen Maria. Keine Ausblicke, sondern nur Nebel.
Ein Kollege aus Montenegro sollte dabei sein, finde ich. Ihm würde das „nichts-schenken“ des Zoncolan ansprechen. Ein kurzes Kopfnicken der Anerkennung, dann weiter, so wie wir Männer sein sollten. Ich weiss hier oben nicht ganz was tun. Alles Leid während Auffahrten geht mit der Ankunft auf den Pässen zu Ende - so war es bis jetzt immer. Aber der Zoncolàn nicht: der Berg ist irgendwie anders als die anderen Alpenberge und -pässe. Zeit und Distanz lassen sich einfach nicht mit Minuten und Metern quantifizieren.
Ich ziehe den Trikot ab und lasse den Körper austrocknen. Zehn Minuten später habe ich einen frischen Trikot angezogen und werfe mich in die Abfahrt. Sie war im 2005 wegen Bautätigkeit recht schmutzig und entsprechend heikel. Das MTB mit Off-Road-Reifen ist aber ein anderes Tier als das schlanke Colnago-Gehpard.
3,8 Kilometer Abfahrt, da ist der Abzweig nach Priola erreicht. Jene nach Sutrio bin ich 2005 schon zweimal gefahren. Die Piste nach Priola ist nun komplett asphaltiert: zuerst nur moderat steil. Aber rasch wird sie steiler, wie ich sie in Erinnerung habe. Oben ist sie mit den Lärchen-Nadeln des vorigen Jahres auch recht schmutzig. Steiler wird sie, dann ist Priola schnell erreicht.
Ich ziehe meine Winterjacke an und verlasse den Gipfel in Richtung Ostabfahrt. Addio Zoncolàn...Dies ist die Seite, die im Giro von 2003 in der Auffahrt befahren wurde, hier begann der Mythos Zoncolàn. Steil...steiler...dann ausgesprochen steil und auch schmutzig - akute Sturzgefahr. Dann flacher, dann eine weitere Rampe mit hohem Gefälle. Dann ist die Skistation erreicht. Die weitere Abfahrt nach Sutrio erlaubt mich, viel der aufgestauten Aggression loszuwerden: die Kehren sind superbreit, das Gefälle 9%, eine Strasse für höhere Geschwindigkeiten. Von Kehre zu Kehre sprinte ich wild im Wiegetritt mit keiner Rücksicht mehr auf persönliche Sicherheit. Kurz danach stehe ich unter einer Dusche und kann vom heissen Wasser nicht genug bekommen. Aus dem Körper kommt Kälte und Zoncolan-Trauma...
Von einem Café hole ich Cola und Paprika-Chips. Mehr nicht: es ist schon vier Uhr gewesen. Nur ein paar Einheimische sind im Café: sonst wird es bereits ein bisschen ruhiger. Halb fünf bin ich soweit – die dritte Auffahrt auf den Zoncolàn möge beginnen.
Von hier unten nur 8,9 Kilometer bis zum Gipfel. Steigung aber 13%: noch steiler als die Ovaro-Auffahrt...
Es ist der Tag nach Ovaro. Eine weitere Strasse aus Sutrio auf den Zoncolan soll es geben: das möchte ich finden. In Priola soll er beginnen: da fahre ich, wieder bei Hochnebel zum Dorf. Eine Strasse gibt es mit einem vollkommen verrosteten Warnschild. Die Art der Strasse verrät ihre Destination.
Katastrophale Asphaltdecke, beinahe unbefahrbar. Zweimal steige ich wegen Splitt und Laub ab. Dann die Überraschung: die Strasse wird neu asphaltiert.
Heute morgen bin ich körperlich erholt, geistig noch müde. Vielleicht ist es einfach ein wenig früh. Unten ausgesprochen steil, recht lange so, dann etwas moderater, dann wieder steiler, dann ein flacher Kilometer, zumindest relativ flach, vor der Ski-Station.
Sieben Jahre später scheint die Sonne, der Radler ist geistig und physisch wohl auf. Die Strasse steigt schon steil aus dem Dorf. Dann folgt eine enge Kehre, dann eine weitere.
Nun nimmt die Steigung deutlich zu, die Rampe steuert relativ gerade den Hang hoch. Keine Kehren mehr, nur eine stetige Zunahme der Steigung. Die Rampe wird zu einer immer härteren Kraftprobe: dies dürfte das härteste Teilstück des Tages werden.
Endlich lässt die Steigung nach, dann folgt eine scharfe Kehre. Freude kommt rasch auf: die schmale Piste ist einfach eine geniale Bergstrasse. Und so wird sie bleiben: sie ist schon durch die neuere, breitere und weniger steile Strasse aus Sutrio ersetzt.
Die Piste steigt den Berg mittels Kehren weiter an. Gute Asphaltierung, kein Verkehr, hohe Steigungswerte: was will man sonst? Jemand in Slowenien hatte mich offen gefragt, warum der in der Schweiz wohnhafte Radler nicht dort Radurlaub macht. Nun die simple Antwort: dort sind die Pass-Strassen einfach zu gut. Richtiges Radfahren findet man auf Strassen wie Priola-Zoncolan...
Im Vorfeld der Ski-Station lässt die Steigung etwas nach, dann ist die Modernität erreicht. Ich radle schnell zum Restaurant wo ich gefrühstückt hatte. Es ist schon sechs Uhr. Das Mädchen sieht mich, rennt zu seiner Mutter. „Mama, il signor da Londra è qui!“ Mutter und Vater sind mit den noch zahlreichen Gästen. Sie können nicht fassen, dass nun die dritte Auffahrt des Tages im Gange ist.
Essen kann ich noch wenn ich mich beeile. Wir einigen auf 40 Minuten. Ich fahre dann los. Wie am Anfang des Tages nimmt die Steigung zu, dann beginnt die erste Rampe.
Mich staunt, wie der Tag gelaufen ist. Wie mühsam und hoffnungslos die Sutrio-Auffahrt war. Wie vergleichsweise mild die Ovaro-Auffahrt war. Und wie spassvoll und erfüllend die Priola-Auffahrt ist. Die Beine sind immer noch gut, dies nach 3‘500 Höhenmetern. Der Trumpf schon seit zehn Uhr in der Hand: kein Gepäck...
Wieder die erste, steile Rampe, wieder der flache Abschnitt am Hotel Goles vorbei. Seltsam: keine halbtote Leistung, keine letzten Energiereserven, sondern nur Ruhe, Abendstimmung, keine Autos mehr. Flachstücke zwischen den Rampen...diese Rampen mit über 20% Steigung haben die Radwelt aufgeschüttelt. Was die Radwelt nicht wusste: dieses Stück ist deutlich einfacher als die Kilometer oberhalb von Priola – meine Beine wissen das prima. Ein letztes Mal über das Skipistenrohr, dann die dritte und letzte Rampe der Ostseite. Zehn Minuten später ist auch sie bezwungen, zum dritten Mal an diesem Ferragosto stehe ich auf dem Zoncolàn.
Oben ist keine Heldenankunft zu erwarten, denn kein einziger Mensch ist hier. Auch die Ausblicke sind weg, denn wie im 2005 hat der Nebel den Berg wieder eingenommen. Nichts zu sehen, wie im 2005 schenkt der Zoncolan seinem Bezwinger einfach nichts.
Dann runter zum Skirohr, frische Bekleidung, dann zurück zum Restaurant. Ich gebe mich mit Panini zufrieden, da kocht aber der Ehemann einen Grill. Poulet, Polenta, gegrillte Pfeffer, eine Art Teig mit Schinken. Ich hätte auf das Abendessen zwar verzichten können, der Teller ist aber sehr rasch leer.
Andere Gäste kommen, man spricht über dies und jenes. Der Pächter ist eigentlich Elektriker. Sein Arbeitspensum muss ganz schön heftig sein. Auf dem Zoncolan kommen viele Skifahrer im Winter, auch viele aus dem Osten. Die Ski-Kannonen garantieren den Winterspass, auch im auf der Alpensüdseite katastrophal schneearmen Winter 2012.
Nach sieben ist es bald zehn Uhr. Wenig Regen fällt, der Mann bringt mich hoch in seinem Espace. Im Rohr ist es nicht nur trocken, sondern gut gelüftet. Ich rolle die Schlafmatte aus, ziehe mich in den Schlafsack und schlafe sanft ein.
Am nächsten Morgen bin ich um sechs wach, weil die ersten Sonnenstrahlen direkt in meine Augen scheinen. Wunderbar. Wenige als eine Stunde später stehe ich erneut am Zoncolan. Diesmal ist alles klar, nur Dunst liegt über den Tälern. Dann folgt die Abfahrt zum zweiten Mal nach Ovaro.
Das war Ferragosto am Monte Zoncolàn. Der Berg, der 2003 vom Giro d’Italia entdeckt wurde. Der nur entdeckt wurde, weil jemand plötzlich die Idee hatte, eine Etappe von dem geplanten Ende an der Ski-Station bis auf den Gipfel zu verlängern. Aus dem Entscheid ist eine Giro-Legende geboren.
Am anderen Ende des Alpenbogens steht ein anderer Berg mit drei Aufstiegen – Mont Ventoux. Drei Auffahrten, keine mehr als 11% steil, da hat man im Land der politesse schöne Strassen gebaut mit keinen groben Steigungswerten. Hier im dynamischen Italien hat es auch drei Auffahrten, zwei davon mit über 20% Steigung. Mit zwei der härtesten Rattenwege der Alpen. Keine internationale Radtour befährt bis heute etwas härteres.
Allerdings haben die Giro-Veranstalter eine neue Heldenauffahrt gefunden. Sie soll noch härter sein als die zwei alten Strassen auf den Zoncolan.
Und wo befindet sich der neu entdeckte Rattenweg? Im tiefsten Kalabrien? Hinter Neapel oder Rom? In der Toskana oder Ligurien? Oder in Piemont?
Nein. Das neue Killer-Strässchen des Giro d’Italia beginnt in......Ovaro.
Am Vortag hatte ich den Berg auf normalen Strassen umrundet. Von Österreich kommend fuhr ich von Sutrio auf den Sella Ravascletto, weiter über den Monte Crostis und dann hinab nach Comegliàns und Ovaro. Von dort weiter durch das Canale di Gorto hinab zum Rad-Mechaniker in Tolmezzo, dann zurück nach Sutrio. Eine komplette Umrundung des neuen „heiligen Bergs“ des Giro d’Italia.
Nun geht es in der Früh los. Schon in den ersten Kilometern weiss ich, dass es heute nicht so gut klappen wird. Der Traum wäre, alle drei Auffahrten an einem Tag zu beradeln. Aber die Beine tun weh, obwohl die Sutrio-Auffahrt die mit Abstand einfachste der Zoncolàn-Troika bildet. Mit den Gedanken anderswo ist die Konzentration nicht da, das Gepäck, gute acht Kilo, wiegt heute recht schwer. Ein anderer Mechaniker, der vor zwei Tagen in Kärnten die Bremsen zu reparieren versuchte, hatte den Sattel noch etwas höher gestellt. Ich halte an, senke den Sattel etwas zu deutlich ab, beim Weiterfahren melden sich beide Knie sofort. Nochmals anhalten, Sattel wieder erhöhen, dann motivationsarm weiter.
Die Sutrio-Auffahrt ist halt ein Zwillingsbruder des Alpe d'Huez: für Radler wurde er nicht gebaut, sondern für Autos mit beschränkter Bergtauglichkeit. Gute Asphaltierung, sehr breit, bequeme Kehren mit Breite von gar zehn Metern, deshalb minimale Spannung für Radfahrer.
Die Strasse kenne ich, jedoch nicht in der Auffahrt. Spät Oktober 2005 fuhr ich hier zweimal in achtzehn Stunden hinab. Eine tolle Express-Abfahrt ergibt eine langweilige Auffahrt...
Kehre nach Kehre: bald wird die 1'000 Meter Höhengrenze angekündigt, weiter steigt die Strasse mit 8 oder 9% an, sehr konstant, sehr spannungsarm, da könnte man beinahe einschlafen...nur der Autopilot fehlt am Fahrrad...
Schliesslich ist doch das Skigebiet Monte Zoncolàn erreicht, ich drehe dumm und dämmlich eine Runde am Parkplatz für die Wintersportler, im Sommer eine öde Wüste. Wo fährt denn die Strasse weiter? Die Antwort: durch ein neues, langes, quer zur Strasse gebautes Wintersporthotel.
Hundert Meter danach steht ein nettes Bergrestaurant in rustikalem Stil: Zeit zum Frühstücken. Noch nicht einmal neun Uhr, heute Ferragosto, die Besitzerfamilie ist schon tüchtig an der Arbeit, die Tochter trägt bereits friulische Tracht.
Frühstück: Croissants, Cappucino, Cola. Die Wirkung ist magisch und schlagartig: Hoffnung und „self-belief“ wecken schnell auf. Ich bin schon oben! Zwar nur auf 1'400 Metern über Meereshöhe, aber immerhin!
Die Sonne ist zu dieser Tageszeit und nach einer für die Jahreszeit eher kühlen Nacht sehr willkommen. Wie ein Reptil lasse ich von der Sonne gierig Energie auftanken.
Es ist halb zehn Uhr, Zeit zum Losfahren. Ich weiss, was mir bevorsteht: hier stand ich am Morgen des 25. Oktober 2005. 3,8 Kilometer, drei sehr anspruchsvolle Rampen, besonders die letzte, längste, mit einer Spitze von 23% Steigung. Heute habe ich nicht den Colnago, sondern ein Mountainbike, fast 11 Kilo schwer, mit Offroad-Bereifung, 8 Kilo Gepäck. Für den Einsatz der ersten zwei „Granny-Gears“ bin ich einfach zu stolz, im dritten Gang muss der Berg bezwungen werden.
Los geht’s: gerade hinter dem letzten Ski-Gebäude biegt die “Geheimpiste” aus Priola ein, die ursprüngliche Ostauffahrt, deren schmale Trasse nun die Fortsetzung auf den Gipfel bildet. Im Vorfeld der ersten Rampe nimmt die Steigung zu, vielleicht zehn prozent, dann beginnt die Rampe. Lang ist sie, 18% steil, mit dem Gepäck eine richtig anspruchsvolle Sache. Hart in die Pedale treten, Gang drei hält, aber ganz heftige Arbeit ist es. Die Rampe dauert an, die Steigung auch, ich komme richtig ins Schwitzen. Wanderer kommen mir entgegen, die üblichen “Vai! Vai!”, ich trete so hart ich kann. Dann flacht die Rampe endlich ab.
Bequemer setzt sich die Strasse fort, eine Rechtskurve, rechts steht das neue, ebenfalls in einheimischem Stil gebaute Hotel Goles. Dann beginnt die Strasse erneut deutlich anzusteigen - es folgt eine kraftraubende Serie von Haarnadelkurven. Wieder heftig in die Pedale treten. Wiegetritt geht nicht, denn wegen Knieprobleme lasse ich den linken Fuss seit gut drei Wochen nicht mehr in den Klickpedal einbinden. Lenker nach rechts, fest in die Pedale, dann lenker nach links.
Dann wieder flacher. Was gibt es noch? Die Erinnerungen aus 2005 sind nur mehr recht oberflächlich. Bald folgt die Antwort: die letzte Rampe. Hier wurde die Strasse auf kurze Distanz umtrassiert, damit eine Skipiste gebaut werden konnte. Die Strasse führt nun scharf links und kurz recht steil, dann rechts bei geringerer Steigung, überquert die in einer Art Rohr führende Skipiste, biegt dann scharf nach links und beginnt ein drittes und letztes Mal sehr deutlich an Höhe zu gewinnen. Das Rohr ist im Sommer ein Lagerraum für Skiposten usw. Ich habe eine Idee: hier könnte ich mein Gepäck unter einem Dach im trockenen lagern.
Zehn Minuten später beginnt diese dritte und letzte Rampe, nun ohne Gepäck. Der Unterschied ist enorm: dritter Gang ist jetzt keine Qual mehr, selbst 23% geht mit nur leicht zitterndem Vorderrad.
Oben am Berg. Zoncolàn eins ist abgeschlossen! Und das Gepäck ist oben, nicht unten – psychisch ein wichtiger Faktor. Egal wo ich übernachten soll: das Gepäck kommt runter, nicht rauf!
Dann beginnt die Abfahrt nach Ovaro. Seit 2005 habe ich sie nicht mehr gesehen, sondern nur im Internet von Neuasphaltierung, Rodung von Bäumen, Bau von Ausweichstellen, Erstellen von Plakaten über Radhelden der Vergangenheit usw. gelesen. Für einen Radler, der der Tourismusentwicklung in den Alpen tendenziell eher skeptisch gegenübersteht, habe ich eine gewisse Zurückhaltung. Aber auch Neugier: auf dieser Auffahrt habe ich auf einer Art gelitten wie sonst nirgendwo in den Alpen. Wie sieht es aus in der Abfahrt?
Die ersten Serpentinen waren 2005 gerade neu asphaltiert worden: die schwarze Farbe sah eher „grossstädtisch“ aus und wollte nicht ganz in das klassische Bild der Bergwelt passen. Heute ist der Asphalt mit den Jahren heller geworden. Die Abfahrt beginnt, dann folgen die drei Tunnel. 2005 waren sie schon über 60 Jahre alt, schmutzig, auch nass und dunkel. Auch gab es keinen Strassenbelag, dafür tiefere Schlaglöcher. Heute ist der Unterschied nur erfreulich: sie sind beleuchtet mit Sensoren, die Wände und die Decken wurden gereinigt und restauriert, auf dem Boden hat es anstelle des Erdbelags eine leicht rumpelige Betonschicht.
Danach ist die Piste flach, nach der Abzweigung zum Malga Pozôf beginnt dann der Sinkflug: das berühmte Kernstück mit 900m Höhenunterschied auf nur sechs Kilometern. In der Abfahrt staune ich: man könnte eine Auffahrt fast sachlicher beschreiben, wenn man sie zuerst als Abfahrt befährt. Denn hier auf Zoncolàn-West ist es einfach am steilsten wo ich mich nicht mehr so sicher im Sattel fühle: bei der markierten 4,5km Schild sowie bei 1,5km. 2005 hatte ich vor allem eine Horror-Rampe weiter oben als allersteilste in Erinnerung. Aber der Bike entscheidet: wo er mich aus dem Sattel zu werfen droht, muss es halt am steilsten sein.
In der Abfahrt staune ich auch über die Sanierungsarbeiten, denn sie fallen weit sanfter aus als befürchtet. Ausweichstellen sind es nur ganz wenige, die Rodung der Bäume hält sich in engen Grenzen. Scheinbar wurden manche der hässlichen Betonmauern durch hübsche Steinmauern ersetzt. Und der uralten Asphaltierung mit ihren zahllosen Frostspalten, Schlaglöchern, ihrem Split und Dreck ist ein bequem zu fahrendes Giro-Teppich gewichen.
Die letzte Kehre vor Liariis, danach die letzte Rampe vor dem Dörfchen Liariis. Sie ist deutlich weniger steil, das hatte ich auch nicht ganz so in Erinnerung. Dann ist Liariis erreicht, es folgt die auch nicht gerade steigungsfreie Schlussabfahrt nach Ovaro.
Auf der Hauptstrasse sind an diesem Ferragosto zahlreiche Strassenbenützer unterwegs. Ich suche ein am Vortag gesehenes Strassenschild, das den Weg zu einem „Casa del Ciclismo“ weist. Auch diesmal finde ich nichts, fahre dann erneut hinauf nach Liariis. In der Auffahrt komme ich mit zwei Slowenen-Radlern ins Gespräch. Sie fragen mich, ob man gemeinsam den Berg bezwingen wollen. Ich überlege: zu dritt wäre es einfacher, die zwei sitzen auch auf Mountainbikes. Aber nein: erstens weil ich den Berg aus eigener Kraft bezwingen will. Hat nicht einmal Reinhold Messner gesagt, wer Hilfe brauche, den Berg zu bezwingen, der degradiere den Berg! Und zweitens, weil ich einen leeren Magen habe: diesen Fehler hatte ich vor sieben Jahren genau hier begangen.
Das Restaurant in Liariis serviert einen bescheidenen Teller von dunklem Pasta mit Prosciutto-Streifen und einer Wild-Sauce. Die Wirkung ist so schlagartig wie das Frühstück, die Menge ideal: zuviel führt zur Lethargie; zu wenig wird halt nicht reichen. 40 Minuten später rolle ich mit „Akku voll“ durch Liariis.
Und nun, 500 Meter nach dem Restaurant, steht wieder die erste Rampe des 6km langen Kernstücks bevor, dort wo die Piste in den Wald verschwindet. “Strada Liariis – Monte Zoncolan”, das gleiche Schild wie im 2005. Heute sieht er noch furchterregender aus als im 2005, denn im 2012 kenne ich die Strasse, damals bewohnte ich noch die Welt des „Blissful Ignorance“.
24. Oktober 2005. Etwa halb vier nachmittags. Auf den Zoncolàn will ich noch nicht, denn ich weiss von der nahe gelegenen "Panoramica delle Vette" auf dem Hang des Monte Crostis und möchte die Strecke befahren. Aber ein Hotel finde ich im Tal nicht, auch nach einem Restaurant in Ovaro habe ich gerade vergebens gesucht. Also, wohl ohne die notwendigen Entschlossenheit und Energiereserven fahre ich in die ungefesselte Hölle des Zoncolàn. Kein Problem: ich habe seit Ende März schon gegen 90 Pässe in den Beinen, fuhr nur zwölf Tage zuvor erstmals den Giro-Liebling Passo del Mortirolo aus Mazzo, fragte mich danach, was so schwer an der Auffahrt sein soll? Steile Rampen, dann moderater, selbst die kurze 20% Rampe gegen Mitte der Auffahrt wird rasch durch moderatere Steigung abgelöst. In der Mitte und danach ist er recht lange ziemlich steil, dann mit der Einmündung in die Piste aus Grosio wieder angenehmer. Oben angekommen: was soll das Problem mit der Auffahrt sein?
Siegessicher in die erste Rampe des von der Zeit vergessenen Zoncolàn. Nur wenige Sekunden später wird Gang drei zu zwei, keine Minute später dann Colnago-Campagnolo-Dreifach-Gang eins, der selbst auf dem 24% steilen Nigerjoch-Strasse nicht zum Einsatz kommen musste. Die raue Brutalität der Rampe überrascht, die Länge, keine Milderung, keine Kehre, konstant brutal hoch. Der Puls donnert, die Welt um mich herum verschwindet aus der Wahrnehmung, denn alle Gedanken und Energien werden vom Zoncolàn beansprucht. Ich hätte schon besser wissen sollen: schon die Rampe von Ovaro hinauf nach Liariis fiel härter auf als sie vielleicht sein sollte...
Endlich folgt dann die erste Kehre, die grosse Freude auf die endliche Milderung der Auffahrt.
Schon allein diese erste Kehre reicht, um den Unterschied zwischen dem veltliner Mortirolo und seinem friulischen Konkurrenten Zoncolàn abschliessend zu definieren. Nach den steilen Rampen des ersteren wird es jeweils einfacher. Nach der ersten langen, steilen Rampe des Zoncolàn nimmt die Steigung noch weiter zu.
Sieben Jahre später, mit Pasta im Magen, mit Erinnerung aus der Auffahrt von 2005 und der Abfahrt vor zwei Stunden, ist die Sache ein wenig anders. Die neue Asphaltierung wirkt angenehm, der hässliche Belag aus 2005 war wie ein zusätzliches Hindernis. Die erste Kehre kommt, dann die erwähnte, sehr deutliche Zunahme der Steigung. Der Zoncolàn 2012 ist kein neues Lied: er verlangt ganz schön viel Energie, aber man weiss wohin er führt. Nach der ersten Kehre ist die Steigung bald bei über 20%, der dritte Gang wird selbst ohne Gepäck zur Härteprobe.
Weiter dauert die Auffahrt an. Wie in der vorigen Abfahrt besticht sie vor allem durch die Länge - es gibt einfach keinen Unterbruch. Auch heute muss gekämpft werden, zudem kommt die Sonne dank der Entfernung von Bäumen gut durch. Schweiss in den Augen, mit Sonnencrème gemischt. Wunderbar...
Dann drehe ich den Colnago-Lenker nach links, die Steigung geht auf 0% zurück. Die Freude! Wasserflasche greifen, Beine schütteln, ausatmen, der Puls kann ein wenig herunterkommen. Ist der Berg nun bezwungen? War das der Zoncolàn? Damals gab es keine Beschreibung der Auffahrt ausser einer kurzen Erwähnung auf der bekannten „Challenging Climbs“-Liste im Internet. Ein Profil gab es bei salite.ch, etwas schwerer als der Mortirolo, nur ein flüchtiger Blick auf ihn, Höchststeigung auf kurzer Distanz angeblich in der zweiten Hälfte des Kernstücks: 20,7%. Selbst auf der Landkarte konnte ich den Zonchi nicht finden. Der Geheimberg des Friaul...
Heute rolle ich entspannter in das kurze Flachstück ein. Auf beiden Seiten stehen jene schöne Steinmauern, die so viel zur visuellen Aufwertung der Auffahrt beigetragen haben. Hier keine hässlichen Betonmauern mehr, die viele sonst tolle Auffahrten wie das Kaiserjägersträsschen im oberen Val Sugana, der nahe gelegene Monte Crostis oder andere Perlen der Alpensüdseite so übel haben aussehen lassen.
Ich drehe den MTB-Lenker nach rechts, fahre in die nächste Rampe. Ja: DIES ist die Rampe!
Den Colnago-Lenker drehe ich erneut nach rechts mit einem unwohlen Gefühl. Im Unterbewusstsein ahne ich, dass der Berg noch nicht bezwungen ist. Der Tachometer misst Uhrzeit, Geschwindigkeit und Distanz, mehr nicht. Begonnen hat der Tag nicht in Ovaro, sondern rund neunzig Kilometer westlich in Auronzo, am hübschen See mit Drei-Zinnen-Blick. Wie viele Kilometer noch bis zum Berg? Ich habe die Distanz ab Ovaro oder Liariis nicht zur Kenntnis genommen. Warum denn auch? Der Berg ist ja nur einer dieser überbewerteten Mortirolo-Rattenwege...
Rechts durch die Kehre, dann der erste Blick auf das weitere Geschehen. Mein Herz steht einfach still. Massive Zunahme der Steigung, die Strasse schlängelt den Hang hoch; eine, diese Rampe beendende Kehre nicht in Sicht. Scheusslicher Belag, nasskaltes Wetter, Nebel. In diesem Moment, für ein paar Sekunden, habe ich ein Gefühl von Trauer, nichts anderes. Schon nach Ovaro hat der Berg mit seiner Härte richtig überrascht, ab Liariis hat er mich einfach voll aus der Komfortzone herausgerissen. Hier habe ich aber auf die Herausforderung voll geantwortet, ohne zu motzen oder anzuhalten oder sonst jemanden anders zu blamieren. Für einmal habe ich mein bestes gegeben, hier auf diesem gottverlassenen friulischen Berg. Aber für die erneute Zunahme auf 20% Steigung? Wie lange bin ich schon an der Arbeit? Ich ahne, dass die Energiereserven nicht sehr viel länger ausreichen werden: so eine Bergstrasse kann man nicht endlos fahren. Die Pässe dieses Jahres gehen durch den Kopf: Ende März im Schnee auf der Schwägalp, Ausflüge über den Simplon, in den Chablais, Gotthard-Gebiet, Pragel, die Pyrenäen, Mont Ventoux, die grossen Berge der See- und der Cottischen Alpen, das Ötztaler Radmarathon. Auch der Mortirolo, eine Odyssee durch Schnee über den sagenumwobenen Passo del Gavia, auch das Süd Tiroler Nigerjoch östlich von Bozen. Der Zoncolàn ist aber scheinbar ein Berg zu gross für mich: auf diesem Berg habe ich den unbezwingbaren Gegner gefunden. Ich bin diesem Berg halt nicht würdig.
Empathie herrscht: vielleicht geht es so bei Bergsteigern? Irgendwann kommt dann der Berg, den sie nicht erklimmen können? Der Waliser Bergsteiger Eric Jones nahm es 1982 mit dem Eiger auf, wollte den Berg alleine besteigen. Die BBC filmte ihn: an zwei Stellen wurde ein Kameramann von einem Helikopter auf die Nordwand herabgelassen. Der Bergsteiger aus einem Bergbaudorf sagte schon am Anfang, wenn es zu Schwierigkeiten käme, solle man ihn nicht zu retten versuchen. Und so kam es auch: er geriet in Schwierigkeiten, durch Übermut, konnte die Sache schliesslich alleine richten. Seine Worte bleiben in meinem Gedächtnis bis heute: man kann seine geistige Härte einfach nicht fassen. Einer, der nicht andere blamiert oder sich auf andere abhängigartig verlässt wenn es nicht so richtig geht wie geplant, sondern die volle Selbstständigkeit hat und im Berg-Alltag konsequent lebt - bis hin zum Tod. Die britische Antwort auf die tapfersten Söhne der Alpen, wie Kaspar Ritz oder Andreas Hofer.
Das Vorderrad des Colnago ist kaum noch auf dem Boden zu halten. Ich lehne mich inzwischen so lange so weit nach vorne, dass der untere Rücken schon grausam schmerzt. Über das problematische linke Knie denke ich nicht, denn der eifersüchtige Zoncolàn verlangt den totalen Einsatz des Radlers.
Dann der erneute Blick nach vorne, dann der Horror: die Strasse wird NOCH STEILER...
Heute freue ich mich auf die Wiederbegegnung wie beim Besuch eines alten, schon Jahre nicht mehr gesehenen Freunds. Der Berg ist genau wie vor sieben Jahren: nur das Wetter ist schöner, wie auch der Zustand der Strasse. Wie vor sieben Jahren ist der Punkt, wo die Strasse NOCH STEILER wird, ganz klar auszumachen. Wie vor sieben Jahren.
Der Blick nach vorne ist erschütternd, aber auch erleichternd: weiter im Sattel kann ich auf dem splittbedeckten Strässchen nicht. Der Puls donnert im roten Bereich. Nur der Wiegetritt bleibt als Option, eine Art „Flucht nach vorne“. Komme was wolle...hier hat man nichts mehr zu verlieren.
Das Mountainbike leidet nicht unter den Stabilitätsproblemen des Colnago: das Vorderrad bleibt auch hier, auf dem 20,7% Steigung auf dem Teer. Der Sattel stammt vom damaligen Colnago: mit 160 Gramm nicht gerade der bequemste für die lange Tour. Aber das MTB ist einfach bequemer, und allen voran entschieden stabiler. Die Sonne scheint noch, der Schweiss tröpfelt wieder in die Augen. Die Rampe hat es aber auch heute richtig in sich - sie hat einfach kein Ende.
Ab in den Wiegetritt. Was macht nun das Hinterrad? Der Puls? Die Steigung ist einfach horrend, die Strasse ist plötzlich splittbedeckt, kaum findet man einen passablen Weg durch den Dreck. Dies ist plötzlich sehr heikel: das Hinterrad wird nun unruhig. Dann ist der Spuck vorbei, die Steigung ist immer noch brutal, auf den Pedalen stehen kann ich aber nicht weiter.
Im Sattel wieder. Die Steigung lässt einen Hauch nach. Der erschütternde, enttäuschende Blick auf den Tachometer: 4,2 km/h. Also, das ist der Zoncolàn in Zahlen. Gang: eins. Puls: 180. Geschwindigkeit: 4,2 km/h. Die maximale aus dem Körper zu holende Leistung hier, heute, in dem jetzigen körperlichen Zustand ergibt eine Geschwindigkeit von vier-komma-zwei Stundenkilometern.
Endlich ist die Kehre erreicht, ich halte kurz an, wische Schweiss aus den Augen. Ein schnelles Foto mit meinem digitalen Apparat, der nur noch zwei Tage Leben hat. Dann erneut auf den Sattel und weiter. Mit dem MTB kann ich niemanden überholen, auch ohne Gepäck.
Die Steigung geht auf null zurück. Ich hole die Wasserflasche, schaffe etwas Bewegung in den arg verkrampften Rücken. Der Wald macht auf und bietet Ausblicke auf nur eins: Nebel. Aus der Trikot-Tasche hole ich den Fotoapparat, für den ich während der Hölle einfach keine Gedanken übrig hatte. Zwei Clicks, dann leicht nach links. Eine kurze, sehr steile Rampe kommt in Sichtweite: nun kommt aber nicht mehr Furcht, sondern Siegesgewissheit. Der Berg ist bald gezwungen. Etwas Emotion kommt raus, denn die grausamen sechs Kilometer können mir nicht mehr Weh tun. Sie sind hinter mir.
Wieder die kurze steile Rampe. Drei besoffene Einheimische sind zu Fuss unterwegs. Die Rampe wirkt aber härter als im 2005, denn ich kann heute wegen des linken Knies nicht in den Wiegetritt. Danach dreht die Strasse wieder flach nach links...
Nun kommt das nächste Stück Abenteuer des Zoncolàn. Als ich in den ersten Tunnel fahre, da merke ich, dass die Strasse nicht mehr aspahltiert ist. Der Tunnel ist dunkel, schmutzig, stinkend. Dann ein mit Wasser gefühltes Schlagloch. Fast gestürzt...dann wieder Tageslicht. Dann der zweite Tunnel des „Parcours Zoncolàn“, dann der dritte Tunnel.
Es folgt die letzte Kehrenpassage vor dem Cima. Leute sind heute zahlreich, nicht gerade die 100‘000 beim Giro 2010, aber immerhin viele Tagesausflügler. Ich drücke hart in die Pedale, es folgt die letzte Kehre, dann die Ankunft auf dem Berg.
Oben steht eine Radfahrerin, ich gratuliere auf Italienisch. Sie ist aber Slowenin, gehört zu jenen Radlern, die ich in Liariis begegnet hatte. Sie sei aber aus Sutrio hochgefahren, da sie sich nicht getraut habe, den Berg aus Ovaro zu befahren.
Die letzten Kehren vor dem Berg. Etwas Entspannung, der Berg ist geschafft. Eine nach links, immer noch ziemlich steil, dann nach rechts. Dann erneut nach links, dann noch eine Rampe, nach rechts, und die letzten Meter. Dann geht die Steigung definitiv entgültig für immer und die Ewigkeit auf null zurück.
Oben. Absolute Stille. Kein Mensch, sondern nur ein hässliches Asphaltfeld. Kein Bergrestaurant, sondern nur eine Statue der Heiligen Maria. Keine Ausblicke, sondern nur Nebel.
Ein Kollege aus Montenegro sollte dabei sein, finde ich. Ihm würde das „nichts-schenken“ des Zoncolan ansprechen. Ein kurzes Kopfnicken der Anerkennung, dann weiter, so wie wir Männer sein sollten. Ich weiss hier oben nicht ganz was tun. Alles Leid während Auffahrten geht mit der Ankunft auf den Pässen zu Ende - so war es bis jetzt immer. Aber der Zoncolàn nicht: der Berg ist irgendwie anders als die anderen Alpenberge und -pässe. Zeit und Distanz lassen sich einfach nicht mit Minuten und Metern quantifizieren.
Ich ziehe den Trikot ab und lasse den Körper austrocknen. Zehn Minuten später habe ich einen frischen Trikot angezogen und werfe mich in die Abfahrt. Sie war im 2005 wegen Bautätigkeit recht schmutzig und entsprechend heikel. Das MTB mit Off-Road-Reifen ist aber ein anderes Tier als das schlanke Colnago-Gehpard.
3,8 Kilometer Abfahrt, da ist der Abzweig nach Priola erreicht. Jene nach Sutrio bin ich 2005 schon zweimal gefahren. Die Piste nach Priola ist nun komplett asphaltiert: zuerst nur moderat steil. Aber rasch wird sie steiler, wie ich sie in Erinnerung habe. Oben ist sie mit den Lärchen-Nadeln des vorigen Jahres auch recht schmutzig. Steiler wird sie, dann ist Priola schnell erreicht.
Ich ziehe meine Winterjacke an und verlasse den Gipfel in Richtung Ostabfahrt. Addio Zoncolàn...Dies ist die Seite, die im Giro von 2003 in der Auffahrt befahren wurde, hier begann der Mythos Zoncolàn. Steil...steiler...dann ausgesprochen steil und auch schmutzig - akute Sturzgefahr. Dann flacher, dann eine weitere Rampe mit hohem Gefälle. Dann ist die Skistation erreicht. Die weitere Abfahrt nach Sutrio erlaubt mich, viel der aufgestauten Aggression loszuwerden: die Kehren sind superbreit, das Gefälle 9%, eine Strasse für höhere Geschwindigkeiten. Von Kehre zu Kehre sprinte ich wild im Wiegetritt mit keiner Rücksicht mehr auf persönliche Sicherheit. Kurz danach stehe ich unter einer Dusche und kann vom heissen Wasser nicht genug bekommen. Aus dem Körper kommt Kälte und Zoncolan-Trauma...
Von einem Café hole ich Cola und Paprika-Chips. Mehr nicht: es ist schon vier Uhr gewesen. Nur ein paar Einheimische sind im Café: sonst wird es bereits ein bisschen ruhiger. Halb fünf bin ich soweit – die dritte Auffahrt auf den Zoncolàn möge beginnen.
Von hier unten nur 8,9 Kilometer bis zum Gipfel. Steigung aber 13%: noch steiler als die Ovaro-Auffahrt...
Es ist der Tag nach Ovaro. Eine weitere Strasse aus Sutrio auf den Zoncolan soll es geben: das möchte ich finden. In Priola soll er beginnen: da fahre ich, wieder bei Hochnebel zum Dorf. Eine Strasse gibt es mit einem vollkommen verrosteten Warnschild. Die Art der Strasse verrät ihre Destination.
Katastrophale Asphaltdecke, beinahe unbefahrbar. Zweimal steige ich wegen Splitt und Laub ab. Dann die Überraschung: die Strasse wird neu asphaltiert.
Heute morgen bin ich körperlich erholt, geistig noch müde. Vielleicht ist es einfach ein wenig früh. Unten ausgesprochen steil, recht lange so, dann etwas moderater, dann wieder steiler, dann ein flacher Kilometer, zumindest relativ flach, vor der Ski-Station.
Sieben Jahre später scheint die Sonne, der Radler ist geistig und physisch wohl auf. Die Strasse steigt schon steil aus dem Dorf. Dann folgt eine enge Kehre, dann eine weitere.
Nun nimmt die Steigung deutlich zu, die Rampe steuert relativ gerade den Hang hoch. Keine Kehren mehr, nur eine stetige Zunahme der Steigung. Die Rampe wird zu einer immer härteren Kraftprobe: dies dürfte das härteste Teilstück des Tages werden.
Endlich lässt die Steigung nach, dann folgt eine scharfe Kehre. Freude kommt rasch auf: die schmale Piste ist einfach eine geniale Bergstrasse. Und so wird sie bleiben: sie ist schon durch die neuere, breitere und weniger steile Strasse aus Sutrio ersetzt.
Die Piste steigt den Berg mittels Kehren weiter an. Gute Asphaltierung, kein Verkehr, hohe Steigungswerte: was will man sonst? Jemand in Slowenien hatte mich offen gefragt, warum der in der Schweiz wohnhafte Radler nicht dort Radurlaub macht. Nun die simple Antwort: dort sind die Pass-Strassen einfach zu gut. Richtiges Radfahren findet man auf Strassen wie Priola-Zoncolan...
Im Vorfeld der Ski-Station lässt die Steigung etwas nach, dann ist die Modernität erreicht. Ich radle schnell zum Restaurant wo ich gefrühstückt hatte. Es ist schon sechs Uhr. Das Mädchen sieht mich, rennt zu seiner Mutter. „Mama, il signor da Londra è qui!“ Mutter und Vater sind mit den noch zahlreichen Gästen. Sie können nicht fassen, dass nun die dritte Auffahrt des Tages im Gange ist.
Essen kann ich noch wenn ich mich beeile. Wir einigen auf 40 Minuten. Ich fahre dann los. Wie am Anfang des Tages nimmt die Steigung zu, dann beginnt die erste Rampe.
Mich staunt, wie der Tag gelaufen ist. Wie mühsam und hoffnungslos die Sutrio-Auffahrt war. Wie vergleichsweise mild die Ovaro-Auffahrt war. Und wie spassvoll und erfüllend die Priola-Auffahrt ist. Die Beine sind immer noch gut, dies nach 3‘500 Höhenmetern. Der Trumpf schon seit zehn Uhr in der Hand: kein Gepäck...
Wieder die erste, steile Rampe, wieder der flache Abschnitt am Hotel Goles vorbei. Seltsam: keine halbtote Leistung, keine letzten Energiereserven, sondern nur Ruhe, Abendstimmung, keine Autos mehr. Flachstücke zwischen den Rampen...diese Rampen mit über 20% Steigung haben die Radwelt aufgeschüttelt. Was die Radwelt nicht wusste: dieses Stück ist deutlich einfacher als die Kilometer oberhalb von Priola – meine Beine wissen das prima. Ein letztes Mal über das Skipistenrohr, dann die dritte und letzte Rampe der Ostseite. Zehn Minuten später ist auch sie bezwungen, zum dritten Mal an diesem Ferragosto stehe ich auf dem Zoncolàn.
Oben ist keine Heldenankunft zu erwarten, denn kein einziger Mensch ist hier. Auch die Ausblicke sind weg, denn wie im 2005 hat der Nebel den Berg wieder eingenommen. Nichts zu sehen, wie im 2005 schenkt der Zoncolan seinem Bezwinger einfach nichts.
Dann runter zum Skirohr, frische Bekleidung, dann zurück zum Restaurant. Ich gebe mich mit Panini zufrieden, da kocht aber der Ehemann einen Grill. Poulet, Polenta, gegrillte Pfeffer, eine Art Teig mit Schinken. Ich hätte auf das Abendessen zwar verzichten können, der Teller ist aber sehr rasch leer.
Andere Gäste kommen, man spricht über dies und jenes. Der Pächter ist eigentlich Elektriker. Sein Arbeitspensum muss ganz schön heftig sein. Auf dem Zoncolan kommen viele Skifahrer im Winter, auch viele aus dem Osten. Die Ski-Kannonen garantieren den Winterspass, auch im auf der Alpensüdseite katastrophal schneearmen Winter 2012.
Nach sieben ist es bald zehn Uhr. Wenig Regen fällt, der Mann bringt mich hoch in seinem Espace. Im Rohr ist es nicht nur trocken, sondern gut gelüftet. Ich rolle die Schlafmatte aus, ziehe mich in den Schlafsack und schlafe sanft ein.
Am nächsten Morgen bin ich um sechs wach, weil die ersten Sonnenstrahlen direkt in meine Augen scheinen. Wunderbar. Wenige als eine Stunde später stehe ich erneut am Zoncolan. Diesmal ist alles klar, nur Dunst liegt über den Tälern. Dann folgt die Abfahrt zum zweiten Mal nach Ovaro.
Das war Ferragosto am Monte Zoncolàn. Der Berg, der 2003 vom Giro d’Italia entdeckt wurde. Der nur entdeckt wurde, weil jemand plötzlich die Idee hatte, eine Etappe von dem geplanten Ende an der Ski-Station bis auf den Gipfel zu verlängern. Aus dem Entscheid ist eine Giro-Legende geboren.
Am anderen Ende des Alpenbogens steht ein anderer Berg mit drei Aufstiegen – Mont Ventoux. Drei Auffahrten, keine mehr als 11% steil, da hat man im Land der politesse schöne Strassen gebaut mit keinen groben Steigungswerten. Hier im dynamischen Italien hat es auch drei Auffahrten, zwei davon mit über 20% Steigung. Mit zwei der härtesten Rattenwege der Alpen. Keine internationale Radtour befährt bis heute etwas härteres.
Allerdings haben die Giro-Veranstalter eine neue Heldenauffahrt gefunden. Sie soll noch härter sein als die zwei alten Strassen auf den Zoncolan.
Und wo befindet sich der neu entdeckte Rattenweg? Im tiefsten Kalabrien? Hinter Neapel oder Rom? In der Toskana oder Ligurien? Oder in Piemont?
Nein. Das neue Killer-Strässchen des Giro d’Italia beginnt in......Ovaro.
Ein gefahrener Pass
Monte ZoncolanStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am