Trainingsweltmeister
183,1 km / 3503 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Droopy

Von Droopy –
Meine schönsten Touren 2020 im Rückspiegel.
Teil 1 - März: Unterwegs auf den Strade Bianche
Bereits auf dem Weg zum Gotthard war die Nachrichtenlage eindeutig. Das Profirennen Strade Bianche und auch der Gran Fondo für Hobbysportler wurden am 5. März per Regierungsdekret abgesagt, kurzfristig. Am Wochenende zuvor hatten sich die Räder im Radsportzirkus noch gedreht. Der Klassiker fehlte mir noch in meiner Sammlung. 2800 Höhenmeter verteilen sich auf 140km Strecke. Dazwischen knapp 32km Schotterstraßen und zahllose giftige Hügel. Das fährt man Anfang März mal nicht eben so aus der Hüfte. Den Urlaub und das Quartier in Siena also langfristig geplant und gebucht. Dazu der Aufwand, zugegeben freiwillig und mit Freude: Rund 4000km strukturiertes Training seit Anfang November auf zugigen Landstraßen und dem Smarttrainer, Rapha 500 zur Weihnachtszeit und Intervalle im Blocktraining für den Punch.
In der nahezu autofreien Röhre des langen Alpentunnels kam der Realitätssinn zurück. Dann eben ein Radurlaub mit der möglicherweise besten Frühform aller Zeiten, vielleicht ist ja alles auch ganz anders und lohnt die Mühe nicht für einen zweiten Anlauf. Glücklicherweise gibt es Sportfreunde die genauso denken. In meinem Quartier, einer Agriturismo vor den Toren von Siena, treffe ich auf eine Gruppe Flamen aus Gent. Bereits am nächsten Tag sitzen wir gemeinsam im Sattel und nehmen die Strecke des Mediofondo, das ist die kurze 90km Runde, unter die Räder und abends den Wein des Patrone. Der Kurs rockt, die 25mm Reifen passen gut zum Schotter und wir lassen übermütig viele Körner auf der Straße und abends im Glas. Wozu vernünftig sein, wenn es um nichts mehr geht. Auch die Rampen gehen mehr als gut, ich fliege. Trainingsweltmeister. Michal Kwiatkowski, der Sieger des Profirennens des Jahres 2017, ist ebenfalls vor Ort. Er spult nach der Absage sein erklärtes Lieblingsrennen alleine runter. Im Netz ist seine Tour auf Strava dokumentiert. Dafür gibt es von mir den weiße Adler-Orden in Steinkohle, gestiftet von der Familie Popolski aus dem Plattenbau in Zabrze. Auch ein Trainingsweltmeister wider Willen. "Kwiato" gewinnt mit der Aktion jedenfalls Sympathiepunkte bei mir und echte "street credibility". Der Osten rollt.
Die wackeren Flamen büßen ihre credibility hingegen etwas ein, sie schlafen nämlich am nächsten Tag lieber aus. Für mich ist hingegen die große Profirunde bereits eine beschlossene Sache, denn der Tag ist jung und schlafen kann ich auch zu Hause. Standortbedingt kann ich den letzten Schotterabschnitt und die Zielankunft auf der Piazza del Campo direkt als erstes unter die Räder nehmen. Der unfreiwillige Startschuss kommt dann aus der Trillerpfeife einer resoluten Politesse. Auf der Piazza ist radfahren verboten. I don't speak americano, nix capito und weg. Eine Rüpelei am Tag geht in Ordnung. Stadtauswärts kann ich auf eine Gruppe Gleichgesinnter aufschließen. Es gibt doch so einige Gestrandete in Siena, die das schöne Wetter nutzen und trotz Absage ihre Runde fahren wollen. Der bärtige Typ neben mir in der Zweierreihe eröffnet mit einem "Wherrr du juu kamm frromm" das Gespräch. Der schleppende Tonfall und das gerollte "r" klingen wie der slowakisch-englische Akzent von Peter Sagan, skuril. Die Konversation ist nicht ganz so leicht, seine Truppe kommt jedenfalls vom Gardasee, soviel ist klar. So gehen die ersten zwanzig Kilometer in flotter Fahrt schnell von der Uhr. Im ersten Schottersektor fliegt leider alles auseinander, die Italiener agieren übervorsichtig. Ich fahre hingegen meinen Stiefel einfach runter und bin ohne große Mühe Tete de Course. Schade. Den Rest des Tages sehe ich andere Sportfreunde nur noch auf der Gegenfahrbahn oder in Cafes hocken. Ab Sektor zwei "Bagnaia" wird es ernst. Knappe 6km Dreck, erst flach,dann ein schöner Serpentinenhang. Die Schalthebel dürfen Schwerstarbeit leisten. Steile Kuppen und krachende Abfahrten folgen im Wechsel. An der steilsten Stelle im dritten Sektor galoppieren dann wie aus dem Nichts zwei junge Burschen auf Rössern an mir vorbei - auf Echten versteht sich. Ohne Sattel im Indianerstil. Training für das Palio di Siena. Sie wissen in dem Moment noch nicht, dass auch sie im Sommer nicht starten können und ebenfalls Trainingsweltmeister bleiben werden. In Buonconvento teilt sich der Kurs, die Gran Fondo-Strecke führt nach Norden zum Sektor Sieben. Südlich hängt die Zusatzschleife für die Profis dran. Es geht einen echten Anstieg hinauf nach Montalcino, der höchste Punkt der Strecke. Die Sonne lacht, Italien im Frühling ist herrlich. Was jetzt bis zum Kilometerstein 130 folgt ist die Bilderbuchtoskana. Sektor fünf und sechs versammeln in kurzer Abfolge rund zwanzig Kilometer Schotterweg. Strade Bianche, L'Eroica, kleine Bauernhöfe, Zypressen, Amore. Und in Sektor sieben und acht gleich nochmal das eindrückliche Landschaftsbild der Crete Senesi. Diese 60 Kilometer sind das Prunkstück der Runde. Bei allem Augenschmaus ist leider danach die Luft etwas raus. Jeder Meter auf dem Schotter muss erarbeitet werden, jede Kurbelumdrehung ist ein neuer arbeitsintensiver Vorgang und es geht bis auf ein etwas längeres Ausnahme-Flachstück zwischen den Sektoren sechs und sieben nur hoch und runter.
Leider hat sich der Kopf nach den schweren Stücken irgendwann auf Erholung eingestellt. Zu früh, denn trotz gutem Asphalt bleibt das wilde Karussel aus Auf und Ab in Fahrt. Der Kilometerzähler geht nur langsam runter. Maloche, Zabrze, Plattenbau, Dreck, die Toskana geht mir auf diesem Stück komplett ab. Nach einer Phase des lauten Fluchens ist auch diese Krise irgendwann überstanden. Im Finale warten noch zwei übel steile Schottersektoren mit einer noch übleren Rampe dazwischen. Alles vorher gewusst und bekannt, trotzdem, erst im Moment der Befahrung reift die Frucht der Erkenntnis. Nach gut acht Stunden sind die Strade Bianche jedenfalls irgendwann gebügelt. Eingefahren! Die Flamen geben einen aus und spendieren den Wein am Abend, es gibt viel zu erzählen. Der Ausflug hat sich mehr als gelohnt. Corona-Witze machen die Runde, noch ahnt niemand, wie kompliziert sich dieses Jahr entwickeln wird. Viele von uns werden dieses Jahr Trainingsweltmeister bleiben.
Teil 1 - März: Unterwegs auf den Strade Bianche
Bereits auf dem Weg zum Gotthard war die Nachrichtenlage eindeutig. Das Profirennen Strade Bianche und auch der Gran Fondo für Hobbysportler wurden am 5. März per Regierungsdekret abgesagt, kurzfristig. Am Wochenende zuvor hatten sich die Räder im Radsportzirkus noch gedreht. Der Klassiker fehlte mir noch in meiner Sammlung. 2800 Höhenmeter verteilen sich auf 140km Strecke. Dazwischen knapp 32km Schotterstraßen und zahllose giftige Hügel. Das fährt man Anfang März mal nicht eben so aus der Hüfte. Den Urlaub und das Quartier in Siena also langfristig geplant und gebucht. Dazu der Aufwand, zugegeben freiwillig und mit Freude: Rund 4000km strukturiertes Training seit Anfang November auf zugigen Landstraßen und dem Smarttrainer, Rapha 500 zur Weihnachtszeit und Intervalle im Blocktraining für den Punch.
In der nahezu autofreien Röhre des langen Alpentunnels kam der Realitätssinn zurück. Dann eben ein Radurlaub mit der möglicherweise besten Frühform aller Zeiten, vielleicht ist ja alles auch ganz anders und lohnt die Mühe nicht für einen zweiten Anlauf. Glücklicherweise gibt es Sportfreunde die genauso denken. In meinem Quartier, einer Agriturismo vor den Toren von Siena, treffe ich auf eine Gruppe Flamen aus Gent. Bereits am nächsten Tag sitzen wir gemeinsam im Sattel und nehmen die Strecke des Mediofondo, das ist die kurze 90km Runde, unter die Räder und abends den Wein des Patrone. Der Kurs rockt, die 25mm Reifen passen gut zum Schotter und wir lassen übermütig viele Körner auf der Straße und abends im Glas. Wozu vernünftig sein, wenn es um nichts mehr geht. Auch die Rampen gehen mehr als gut, ich fliege. Trainingsweltmeister. Michal Kwiatkowski, der Sieger des Profirennens des Jahres 2017, ist ebenfalls vor Ort. Er spult nach der Absage sein erklärtes Lieblingsrennen alleine runter. Im Netz ist seine Tour auf Strava dokumentiert. Dafür gibt es von mir den weiße Adler-Orden in Steinkohle, gestiftet von der Familie Popolski aus dem Plattenbau in Zabrze. Auch ein Trainingsweltmeister wider Willen. "Kwiato" gewinnt mit der Aktion jedenfalls Sympathiepunkte bei mir und echte "street credibility". Der Osten rollt.
Die wackeren Flamen büßen ihre credibility hingegen etwas ein, sie schlafen nämlich am nächsten Tag lieber aus. Für mich ist hingegen die große Profirunde bereits eine beschlossene Sache, denn der Tag ist jung und schlafen kann ich auch zu Hause. Standortbedingt kann ich den letzten Schotterabschnitt und die Zielankunft auf der Piazza del Campo direkt als erstes unter die Räder nehmen. Der unfreiwillige Startschuss kommt dann aus der Trillerpfeife einer resoluten Politesse. Auf der Piazza ist radfahren verboten. I don't speak americano, nix capito und weg. Eine Rüpelei am Tag geht in Ordnung. Stadtauswärts kann ich auf eine Gruppe Gleichgesinnter aufschließen. Es gibt doch so einige Gestrandete in Siena, die das schöne Wetter nutzen und trotz Absage ihre Runde fahren wollen. Der bärtige Typ neben mir in der Zweierreihe eröffnet mit einem "Wherrr du juu kamm frromm" das Gespräch. Der schleppende Tonfall und das gerollte "r" klingen wie der slowakisch-englische Akzent von Peter Sagan, skuril. Die Konversation ist nicht ganz so leicht, seine Truppe kommt jedenfalls vom Gardasee, soviel ist klar. So gehen die ersten zwanzig Kilometer in flotter Fahrt schnell von der Uhr. Im ersten Schottersektor fliegt leider alles auseinander, die Italiener agieren übervorsichtig. Ich fahre hingegen meinen Stiefel einfach runter und bin ohne große Mühe Tete de Course. Schade. Den Rest des Tages sehe ich andere Sportfreunde nur noch auf der Gegenfahrbahn oder in Cafes hocken. Ab Sektor zwei "Bagnaia" wird es ernst. Knappe 6km Dreck, erst flach,dann ein schöner Serpentinenhang. Die Schalthebel dürfen Schwerstarbeit leisten. Steile Kuppen und krachende Abfahrten folgen im Wechsel. An der steilsten Stelle im dritten Sektor galoppieren dann wie aus dem Nichts zwei junge Burschen auf Rössern an mir vorbei - auf Echten versteht sich. Ohne Sattel im Indianerstil. Training für das Palio di Siena. Sie wissen in dem Moment noch nicht, dass auch sie im Sommer nicht starten können und ebenfalls Trainingsweltmeister bleiben werden. In Buonconvento teilt sich der Kurs, die Gran Fondo-Strecke führt nach Norden zum Sektor Sieben. Südlich hängt die Zusatzschleife für die Profis dran. Es geht einen echten Anstieg hinauf nach Montalcino, der höchste Punkt der Strecke. Die Sonne lacht, Italien im Frühling ist herrlich. Was jetzt bis zum Kilometerstein 130 folgt ist die Bilderbuchtoskana. Sektor fünf und sechs versammeln in kurzer Abfolge rund zwanzig Kilometer Schotterweg. Strade Bianche, L'Eroica, kleine Bauernhöfe, Zypressen, Amore. Und in Sektor sieben und acht gleich nochmal das eindrückliche Landschaftsbild der Crete Senesi. Diese 60 Kilometer sind das Prunkstück der Runde. Bei allem Augenschmaus ist leider danach die Luft etwas raus. Jeder Meter auf dem Schotter muss erarbeitet werden, jede Kurbelumdrehung ist ein neuer arbeitsintensiver Vorgang und es geht bis auf ein etwas längeres Ausnahme-Flachstück zwischen den Sektoren sechs und sieben nur hoch und runter.
Leider hat sich der Kopf nach den schweren Stücken irgendwann auf Erholung eingestellt. Zu früh, denn trotz gutem Asphalt bleibt das wilde Karussel aus Auf und Ab in Fahrt. Der Kilometerzähler geht nur langsam runter. Maloche, Zabrze, Plattenbau, Dreck, die Toskana geht mir auf diesem Stück komplett ab. Nach einer Phase des lauten Fluchens ist auch diese Krise irgendwann überstanden. Im Finale warten noch zwei übel steile Schottersektoren mit einer noch übleren Rampe dazwischen. Alles vorher gewusst und bekannt, trotzdem, erst im Moment der Befahrung reift die Frucht der Erkenntnis. Nach gut acht Stunden sind die Strade Bianche jedenfalls irgendwann gebügelt. Eingefahren! Die Flamen geben einen aus und spendieren den Wein am Abend, es gibt viel zu erzählen. Der Ausflug hat sich mehr als gelohnt. Corona-Witze machen die Runde, noch ahnt niemand, wie kompliziert sich dieses Jahr entwickeln wird. Viele von uns werden dieses Jahr Trainingsweltmeister bleiben.