Von poli – Lugano – Porlezza – Menaggio – Dongo – Rifugio Mottafoiada - Passo San Jorio – Biscia – Capana Gesero – Arbedo – Bellinzona
Ich bin mir sicher, jeder kennt das: Schon während man ein Ziel verwirklicht, keimen neue Ideen. Zuhause studiert man die Karte und stöbert im Netz. Schon bald wird aus einer Idee ein neues Projekt, das dann auf die Wunschliste gesetzt wird.
Dieses Mal soll sich bereits am nächsten Wochenende die Gelegenheit zur Realisation ergeben.
Wie so oft dieses Jahr stehe ich am Samstag um vier Uhr auf und fahre eine Stunde später zum Bahnhof um den ersten Zug Richtung Berge zu nehmen. Um neun Uhr stehe ich am Bahnhof in Lugano im Tessin und breche zu einem ganz speziellen Abenteuer auf.
Bei perfektem Wetter fahre ich dem Luganersee entlang Richtung Osten. Nach einigen Kilometern bin ich schon in Italien. Über Porlezza gelange ich nach Menaggio am Comersee. Mein Weg führt mich weiter nach Norden. Ich wähne mich im Urlaub. Die Szenerie ist einfach traumhaft. Das Herbstlicht lässt den See in tiefem Blau leuchten. Am Ufer kleben hübsche Dörfer die sich nun im November von den Touristenmassen des Sommers erholen. Mehrmals halte ich an und geniesse die Sonne. Viele solche Gelegenheiten werden sich dieses Jahr bestimmt nicht mehr ergeben. In einer Bar genehmige ich mir einen Cappuccino, bei einem kleinen Klettergarten schaue ich etwas den jungen Leuten zu, ...
Nach insgesamt gut vierzig flachen Kilometern erreiche ich das Dorf Dongo. Hier beginnt nun mein Aufstieg. Mein Ziel ist der Passo San Jorio, 1800 Höhenmeter weiter oben. Den ersten Teil der Auffahrt habe ich auf Quäldich gefunden. Die Strecke bis zum Rifugio Mottafoiada ist also bestimmt mit dem Rennrad fahrbar.
Langsam gewinne ich an Höhe. Die Landschaft und die Ausblicke sind phantastisch. Aber die Steigung entspricht leider nicht ganz meinen Vorlieben. Bei durchschnittlich nur etwa 6 – 7% kann ich einfach keinen Rhythmus finden. Ich habe das Gefühl, ich komme nicht vom Fleck.
Kurz vor dem Rifugio Mottafoiada ist der Asphalt nach 1100 Höhenmetern zu Ende. Die restlichen neun Kilometer werde ich nun auf einer Naturstrasse zurücklegen müssen. Nach ein paar hundert fast flachen Metern zweigt der Weg zum Pass links ab. Die Steigung nimmt wieder auf etwa 7% zu und der Untergrund wird zu meiner Freude immer besser. War es zu Beginn noch furchtbar rumpelig, fährt man schon bald auf einer sehr angenehmen Erdstrasse. Nicht einmal Staub gibt es. Seit einiger Zeit befinde ich mich an einem Nordhang, und der Belag ist steinhart gefroren.
Auf 1700 Metern gelange ich auf einen Grat und wieder an die Sonne. Hier beim Rifugio Giovo wechselt nun der Charakter der Strasse. Endlich wird es steil. Erreichte die Steigung bis hierher kaum je 10%, wird sie für die restlichen 300 Höhenmeter nie mehr unter diesen Wert zurückgehen. Die erste Hälfte liegt im Bereich von 10 – 13%. Und der Weg wird katastrophal. An der Grenze der Fahrbarkeit kämpfe ich mich über die Geröllpiste. Nach etwa 1,5 Kilometern hat die Tortur dann aber ein Ende. Hier wird es noch etwas steiler, und es beginnt die seltsamste Strasse, die ich je gefahren bin. Der Weg wurde mit Natursteinen und Zement gepflastert. Das Ganze ist sehr uneben, aber der Gripp ist super und das fahren ist nach dem Horror von vorhin, bei maximal etwa 17%, der reinste Genuss. Wenige Meter vor dem Pass, beim Rifugio San Jorio endet die Strasse. Die letzten 20 Höhenmeter muss ich des Rad auf die Schultern nehmen.
Ziemlich kaputt stehe ich an meinem Ziel auf 2010 Metern.
Oder besser gesagt Zwischenziel. Denn das Abenteuer fängt nun erst richtig an. Der Pass bildet die Grenze zur Schweiz. Und die Schweizer sahen keinen Grund, hier eine Strasse rauf zu bauen. In gut einer Stunde geht die Sonne unter. Das Einfachste wäre nun, einfach umzukehren. Aber mein Plan ist ein anderer. Auf der Karte habe ich einen Wanderweg gefunden. Dieser führt drei Kilometer entlang eines Berggrates und erreicht ein Strässchen in der Nähe der Alpe di Gesero. Und genau dort war ich am letzten Samstag und bin so auf diese etwas verrückte Idee gekommen. Ich stellte mir vor, dass es einfach fantastisch sein muss, kurz vor Sonnenuntergang hier oben zu sein. Und so ist es auch. Sogar noch viel schöner als ich es mir erträumen konnte. Tief unter mir sehe ich den tiefsten Punkt der Schweiz, den Lago Maggiore. Und gleich dahinter den höchsten Gipfel, die 4634 Meter hohe Dufourspitze. Und daneben noch unzählige andere Berge. Sogar das Matterhorn ist von hier sichtbar. Aber ich muss mich schnell wieder aufmachen, denn es ist noch weit, und um diese Jahreszeit wäre es nicht sehr gesund, da oben biwakieren zu müssen. Also das Rad auf die Schulter und los. Der Weg ist schmal und teilweise auch etwas ausgesetzt. Ein paarmal halte ich kurz an und geniesse die letzten Sonnenstrahlen und die traumhafte Landschaft. Das Ende des Höhenweges, die Festungsruine Biscia kommt nur quälend langsam näher. Als ich dort ankomme, geht gerade die Sonne unter.
Während ich mich umziehe und für die Abfahrt bereit mache, kann ich gerade noch einige Fotos des wunderbaren Sonnenunterganges machen.
Mein Plan ist aufgegangen. Perfekt!
Für die Abfahrt nach Bellinzona montiere ich den Scheinwerfer auf den Helm. Die mir noch unbekannte Fahrstrasse bis zur Capana Gesero verdient diesen Namen kaum. Sie ist steil und äusserst grenzwärtig. Ich bin froh, noch vor dem Ende der Dämmerung die gute Passstrasse zu erreichen. Für die restlichen etwa zwanzig Kilometer bis runter zum Bahnhof kann ich mir dann Zeit lassen.
Um 23 Uhr bin ich dann wieder zuhause. Erschöpft aber überglücklich. Der Winter kann kommen.
Nachtrag:
Zwei Tage später liegt in der Südschweiz auf 2000 Metern bereits über ein Meter Schnee.