Balkan 2011 - Prolog Gröden-Maratona-Triest 363,4 km / 6833 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Renko
Von Renko –
Vorgeschichte
Im Juli 2010 sass ich in einem Zug zwischen Genf und Perpignon und las ein Buch über den Zerfall von Jugoslawien. Dort und in den Tagen danach, in den mal heissen, mal nassen Pyrenäen, kam die Idee auf, den gegenwärtigen Frieden auf dem Balkan auszunützen und die Region zu bereisen.
Später im 2010 meldeten sich zwei Kanadier, mit denen ich ein Jahr zuvor auf einer MTB-Tour im Himalaya gewesen war. Sie planten für den Sommer 2011 eine Radtour von Zürich nach den Dolomiten, und auch die Teilnahme am Maratona dles Dolomites sollte nicht fehlen. Zwei weitere Kanadier stossen dazu, wir bekamen als fünfer-Mannschaft die Starterlaubnis. Ich hatte eigentlich nicht vor, einen Marathon wieder zu bestreiten, aber mit meinen Gästen sollte ich schon dabei sein - und wollte freilich auch. Den Maratona finde ich eine internationalere Angelegenheit als der überlange Ötztaler...auch sind die Chancen gut, dass das Wetter in den weiter südlich gelegenen Dolomiten sich von seiner besseren Seite zeigt...
Es folgte dann die Frage des Sommerurlaubs. Gerne würde ich den Sommer in Zürich verbringen, aber arbeitsmässig eignet sich der Sommer oder auch der Tiefwinter am besten für Ferien. Ursprünglich hatte ich drei Wochen zur Verfügung, dann wegen Wirtschaftsflaute schon fünf. Dann aus gleichem Grund bald sieben, was für den Balkan eindeutig ausreichen sollte.
...........
8. Juli 2011
Am Vorabend der Abreise war ich mit Büroarbeiten bis um eins beschäftigt - zuletzt die unbeliebteste Aufgabe: Ausfüllen der Steuererklärung...Schon um zwei war ich aber wegen eines Gewitters wach, und schlief erst um fünf ein.
Die Abfahrt von Zürich mit dem öffentlichen Verkehr sollte um halb sieben beginnen. Erst um halb elf fuhr ich wegen der kurzen Nacht los. Dann der Alptraum: Umsteigen in Landquart, dann Sagliains, dann in Zernez. Dort mit dem Postbus zum Ofenpass. Dann mit dem Rad, um die endlose Reise zu entzweien. Die Abfahrt ins Münstertal wird durch starken Gegenwind deutlich gebremst, schliesslich verpasse ich im Vinschgau den Zug nach Meran. 40 Minuten später fährt der nächste Zug, mit Halt an allen Stationen...in Meran geht es stolze drei Minuten später weiter nach Bozen. Hier unten ist es wie üblich im Juli erdrückend heiss, die Warteschlange am Fahrkartenschalter ist zu lang, ich habe nur acht Minuten. Also Schwarzfahren...der Regiozug Verona-Brenner ist in nicht einmal zwanzig Minuten bereits in Waidbrück angekommen...
Dann fährt der Bus los, aber das Grödnertal erreicht er nicht: ein heftiger Knall beendet seinen Dienst. Eine Stunde später kommt der nächste Bus, nach 40 weiteren Minuten kehrt der Bus in Plan oberhalb von Wolkenstein.
Nun nach fast zehn Stunden ist die Reise auch nicht fertig, denn jetzt geht es los auf dem Fahrrad über das Grödner Joch. Die durch die lange Reise verursachte Müdigkeit wird durch die frische Bergluft und vor allen Dingen die Sonnenbeleuchtung an den Felsen des Sella-Stocks ausgeglichen, ein Naturschauspiel ersten Ranges!
Zwanzig nach neun erreiche ich unser Hotel in Colfuschg oberhalb von Corvara. Die Gruppenmitglieder sind irgendwo, niemand antwortet. Nach einer Dusche finde ich ein Restaurant. Der Urlaub möge beginnen...
9. Juli 2011
Wir treffen uns zum Frühstück und fahren danach nach dem Anmeldegebäude. Tolles Wetter: Quellwolken, moderate Temperaturen, beste Bedingungen für das Rennen. Für den morgigen Tag sieht es ähnlich aus...
Wir melden uns an und holen die "Goodies". An der Spitze ist der Trikot. Dieses Jahr ist er aus ganz feinem Stoff, fast wie Seide, ideal für wärmeres Wetter. Hier wird nicht auf Qualität gespart, das vergisst man nicht. Selbst das Startgeld ist mit dem Trikot annuliert...und etliche Geschenke, auch ein Windstopper sind inbegriffen. Wieder Top-Organisation....
Am Nachmittag gehen wir alle getrennte Wege, jeder von uns bereitet sich auf den morgigen Tag auf eigener Art und Weise vor.
Später essen wir erstmals zusammen, lässige Gesellschaft und gutes Essen. Um neun Uhr ist es schon auffallend ruhig...dann ins Bett...
10. Juli 2011
Schon kurz vor fünf bin ich wach und gehe hinunter in den Frühstücksraum. Probleme: die Brotlieferung verzörgert sich. Ich bekomme genug, ja wer hat um fünf denn Hunger? Immer mehr Gäste kommen runter, etwas Frust ist in der Luft...die Leute müssen essen, aber es gibt nicht genug!
Schliesslich sind wir fünf aus dem Anglo-Canadian Team alle zusammen, viel wird nicht gesprochen. Ein paar scheue Witze...nun ist es soweit: ab auf die Zimmer, Zähne putzen, umziehen, und raus. Wir fahren separat zum Start: Tom und ich sind ganz hinten, die drei Frauen weiter vorne. Wäre ich statt 2006 im 2007 gefahren, so wäre ich auch weiter vorne gewesen, mit Folgen...
Die Abfahrt nach La Villa in der kühlen Morgenluft ist ein Genuss, so wacht man ganz schön auf. 6:20 Uhr finden wir unseren Startplatz...
Maratona dles Dolomites
Um 6:45 ist es soweit, die Massen kommen in Bewegung. Zuerst langsam, dann wegen der hohen Zahl an Fahrern wieder Stillstand, dann wieder Bewegung. Ich halte Tom vorerst im Auge, langsam geht es vorwärts, dann ist das Dorf hinter uns.
Nun folgt die Enttäuschung: anders als im 2006 werde ich ständig von andern Radlern überholt. Das MTB scheint trotz schmälerer Reifen nicht so schnell zu sein wie der Colnago, ich bin auch fünf Jahre älter, auch schwerer geworden, und wohl nicht mehr ganz so motiviert wie damals.
Das Ganze wird rasch zu einer herben Enttäuschung. Corvara wird erreicht, eine steilere Rampe durch die Ortschaft, dann beginnt die Auffahrt zum Campolongo. Die Enttäuschung verschärft sich, ich finde einfach keinen Rythmus. Ich kann niemanden überholen, aber mich können schon jung und alt stehen lassen.
In der zweiten Hälfte der Auffahrt beruhigt sich die Lage etwas, nun baut sich einigermassen etwas Rythmus auf. Schliesslich ist die Passhöhe erreicht und die erste Labestation. 2006 lief alles prima bis zur Auffahrt zum Passo di Giau: halbwegs zum Pass brach ich wegen Hunger recht schnell ein und hatte von dort bis zum Valparola nur Probleme. Heute schaue ich dass das "Hitting the Wall" sich nicht wiederholt...
In der Abfahrt kehrt sich für kurze Zeit das Blatt. Das MTB ist auch mit schmalen Reifen recht stabil: hier kann ich die auf leichteren Rennräder fahrenden Leute locker überholen. Schnell ist dies aber vorbei: Arabba ist erreicht und die kurvenreiche Auffahrt zum Pordoi beginnt.
Die Kehren folgen, ich befinde mich neben einem Radler mit irischem Familiennamen. Er stammt aber aus England und flucht laut über seine Schwierigkeiten. Er ist praktisch der erste Rennradler, den ich überholen konnte...
Oben am Pass halte ich nicht an, nun mag die Abfahrt beginnen. Hat die Abfahrt vom Campolongo nach Arabba als Trainingfahrt gedient, nun folgt die echte Sache. All die Frust des gescheiterten Anfangs, gar Hass kommt jetzt raus, da wird nicht zurückgehalten. Ich teste das MTB, dieses seltsam grosse und lange Gerät bis an sein Limit, da fliege ich runter! Rasant schnell durch die kurvigen Schikanen, Rennrad nach Rennrad überholend...."der Plausch" sagt man in der Schweiz...die Scheibenbremsen sind genial, warum gibt es sie nicht für Renräder?
Plötzlich schwimmen Bilder eines legendären Naturdokumentarfilms vor mein Gesicht: Eternal Enemies, die Hassgeschichte zwischen Löwen und Hyänen. Die leichten Carbon-Rennräder sind zwar keine Hyänen oder Löwen, sondern eher Gehparden. Mein MTB dagegen, langsamer und schwerer, robuster, viel stärker, der ist ein Löwe, hier in der Abfahrt ist er der Rennrad-Killer...
Dann Auffahrt erneut und hier am schattigen Abzweig zum Sella-Joch fast frostig kalt. Nun folgt eine ruhigere Auffahrt zum Joch, Leute im hinteren Teil des Felds sprechen gar miteinander. Weiter vorne geht es nur um die Angaben des Tachometers.
Auch der Sella ist erreicht, dann eine entspanntere Abfahrt, hier wird auf Strassenarbeiten hingewiesen. Statt rasen gilt nun, die Beine gut durchzuschütteln, Flüssigkeit trinken, dann schnell erneut in die Auffahrt zum Grödner-Joch. Unterwegs gibt es eine Labe-Station, ein schmuckes, teuer aussehendes Restaurant bietet frischen Apfelstrudel. Warum ich annehme, weiss ich nicht. Bauchschmerzen ist vorprogrammiert, und folgt auch. Oben auf dem Pass meint ein Amerikaner, wir hätten nur mehr zwanzig Minuten bis zum Zeit-Limit in Corvara. Dementsprechend fahre ich möglichst schnell runter. Die Aussage entpuppt sich allerdings als nicht wahr, dafür bin ich ziemlich ausgepowert. Nun erneut der Campolongo, und erneut das Leiden an einem Pass, an dem man wegen der Kürze nicht leiden sollte.
Oben am Pass wieder essen, wieder Power-Abfahrt, wieder bis an die Grenze der Eigenverantwortung...danach die lange, flache Strecke hinter Arabba. Ich überlege ob ich die Sechser-Runde fahren sollte, oder wie im 2006 die Siebner-Runde. Was? Aus dem Nichts fällt ein, dass inzwischen fünf der sieben Pässe bereits überstanden worden sind! Auch aus dem Nichts taucht neue Energie auf: die Feuertaufe des Campolongo habe ich überstanden, trotz aller Schwierigkeiten habe ich schon fünf Pässe hinter mir. Hinter mir...dieses Gedanke hat immer wieder schwere Auffahrten gerettet: alles was man hinter sich hat, das kann einem nicht mehr weh tun, das wirkt wie eine Mauer hinter einem, oder eine stützende Hand, die den Radler nach vorne schiebt!
An der Abzweigung zum Falzarego wird die Frage aber für mich zwangsweise entschieden: seit elf Minuten ist die Strecke über den Giau für die Maratona-Radler geschlossen. Ich bin leider zu spät. Etwas verloren, strategielos, halte ich an. Die Energie ist vorhanden, ich habe mich aus dem Anfangsdesaster prima erholt, aber die Entscheidung ist von aussen her gefällt worden. Da kann ich nichts mehr machen, für einmal darf ich nicht unbeschränkt über die Routenwahl entscheiden.
In den ersten Minuten des Aufstiegs zum Falzarego habe ich seltsame Gefühle: für einmal wirkt eine Auffahrt zahm, weich, feige. Langweilig. Ich bin für sie zu stark, unterfordert, wie hätte ich das früher, am Anfang vorstellen können...
In der Auffahrt brechen Gespräche zwischen den Radlern aus. Polen, Italiener, wir sind alle gleich, wir sind Spass-Radler, Genuss-Radler, die Express-Radler sind schon längst über den Berg. Nun kann man auch die Schönheit der Landschaft freuen, hier oben in den einmaligen Dolomiten. Die Strasse über den Falzarego war das letzte Stück der im 1908 eröffneten "Grossen Dolomitenstrasse", die von Bozen über den Karerpass, den Pordoi und den Falzarego nach Cortino führt.
Weiter oben beginnen die Energiereserven doch noch zu schwinden: mein rechtes Knie, das seit einer Auffahrt zum Grossglockner im Frühling 2008 zwei oder dreimal pro Jahr für Probleme sorgt, gibt erste Warnzeichen. Bauchweh kommt auf, dem Apfelstrudel sei dank...hinter der in den Berg geschlagene letzte Kehre habe ich richtig Mühe....dann ist aber der Falzarego erreicht.
Von meinen Kollegen fehlt weiterhin jede Spur. Hoffentlich sind sie nicht immer noch in der Auffahrt zum Giau...nun ist es recht warm geworden.
Die zwei Kilometer zum Valparola wollen einfach nicht beendet werden. WIe können solch kurze Strecken wie dies oder der Campolongo so schmerzhaft sein?
Dann erneut Abfahrt. Der Valparola ist eine Raserstrecke. Über achtzig erreiche ich, ohne Gefahr zu spüren. Weiter unten ist Vorsicht angebracht, denn die ersten Radler kommen schon entgegen: jene, die viel schneller waren, fahren jetzt zurück zu ihren Hotels.
Schliesslich erreiche ich totmüde, ja fast ga-ga das Ziel. Es stellt sich heraus, dass die Kollegen noch etwa eine Stunde hinter mir sind, aber alle vier haben die Siebner-Runde absolviert. Super! Zuerst bluffe ich, ich hätte alle an einer Labestation überholt, aber schliesslich gebe ich zu, dass ich einfach zu langsam war. Nicht das 10,5 Kg schwere MTB war schuld, sondern der Fahrer. Die Radsaison beginnt für mich nicht im März oder April, sondern jetzt: das Haupttraining fängt morgen an mit der Reise nach dem Balkan...
11. Juli 2011
Am Abend hatten wir in einem Restaurant oberhalb von Colfuschg gefeiert. Am nächsten Morgen sind alle wohl auf. Tom und seine Frau fahren zurück zu meiner Wohnung in Zürich, die anderen zwei Gruppenmitglieder zum Garda-See und Verona. Ich fahre los um elf nach La Villa, kaufe im Radladen einige Sachen für das Fahrrad, dann lege ich los. Locker ist der Valparola erreicht, dann runter zum Falzarego. Hier oben an diesem Pass spüre ich immer die Geschichte: die Frontlinie verlief hier oben, obwohl die politische Grenze zwischen Österreich und Italien jenseits von Cortina lag. Das österreichische Heer räumte Cortina und das Val Ampez im 1915, da die Verteidigung hier oben einfacher war.
In der Abfahrt verabschiedet sich das ganze Gepäck vom Fahrrad. Leider muss der Rucksack tatsächlich auf dem Rücken sein...wie schade.
Hinter Cortina folgt eine kurze Regenpause. Danach passiere ich das einstige Grenzhaus. Hier steht im weiteren Verlauf das Trassee der alten Kriegsbahn zwischen Toblach und dem Piave-Tal: von hier weg ist er zudem durchwegs geteert.
Am Ende des Val di Cadore folgt das Piave-Tal und die Abfahrt nach Longarone. Schliesslich finde ich ein Hotel um acht Uhr. Morgen das Vajont-Tal und die Ausfahrt in die Po-Ebene...aber für heute noch ein bequemes Bett. Die nächste Übernachtung unter einem Dach wartet...in Mostar.
12. Juli 2011
Um acht fahre ich los durch die Stadt Longarone. Ausserhalb liegt die schmale Spalte im Berggrat, dies ist der Weg zum Passo San Osvaldo. Da hatte man einen idealen Standpunkt für eine Staumauer gefunden. SIe wurde gebaut und das Wasser dahinter staute sich auf. Im Oktober 1963 folgte dann die Katastrophe: das Wasser im See hatte einen Berg destabilisiert, er rutschte dann in den See und schickte eine Flutwelle express ins Tal. 3'000 Menschen kamen um, Longarone wurde gänzlich zerstört.
Die Staumauer ist schnell erreicht, hier auch die Grenze zum Friaul. Weiter oben im schönen Sonnenschein zum Pass: nicht einmal 900m hoch. Dahinter folgt eine lange Abfahrt zum Barcis-See, dann eine steile Auffahrt bei immer höheren Temperaturen zum nächsten und letzten Pass meiner Alpenetappe.
Danach runter und mit einer Schluchtpassage das Verlassen der Alpen, die Ankunft in der glühenden Hitze der Po-Ebene.
Hier hat sich die erste Hitzewelle des jungen Sommers aufgebaut. Nach langem Restaurant-Pause geht es nun durch die Hitze. Nach einer Stunde halte ich an einer Tankstelle und kaufe 1,5 Liter Mineralwasser. Ich sitze im Gebäude, im Café. In einer halben Stunde ist beinahe das ganze Wasser verschwunden. Heute gibt es hier 35 Grad. Was verheisst dies für die Weiterfahrt nach Istrien, Bosnien?
Totmüde erreiche ich um 16:30 das Zentrum von Udine. Bei diesen Temperaturen verzichte ich auf den Altstadt-Besuch. 30 Minuten später sitze ich im Zug nach Triest. Hier ist es um 18:30 immer noch brennend heiss. Die Weiterfahrt nach der Grenze dauert ewigs, erst um halb neun erreiche ich den Camping an der Grenze.
Der Boden am Camping ist steinhart, aber was soll's...heute könnte ich neben einer Autobahn einschlafen. Teil eins der Reise ist beendet...
Im Juli 2010 sass ich in einem Zug zwischen Genf und Perpignon und las ein Buch über den Zerfall von Jugoslawien. Dort und in den Tagen danach, in den mal heissen, mal nassen Pyrenäen, kam die Idee auf, den gegenwärtigen Frieden auf dem Balkan auszunützen und die Region zu bereisen.
Später im 2010 meldeten sich zwei Kanadier, mit denen ich ein Jahr zuvor auf einer MTB-Tour im Himalaya gewesen war. Sie planten für den Sommer 2011 eine Radtour von Zürich nach den Dolomiten, und auch die Teilnahme am Maratona dles Dolomites sollte nicht fehlen. Zwei weitere Kanadier stossen dazu, wir bekamen als fünfer-Mannschaft die Starterlaubnis. Ich hatte eigentlich nicht vor, einen Marathon wieder zu bestreiten, aber mit meinen Gästen sollte ich schon dabei sein - und wollte freilich auch. Den Maratona finde ich eine internationalere Angelegenheit als der überlange Ötztaler...auch sind die Chancen gut, dass das Wetter in den weiter südlich gelegenen Dolomiten sich von seiner besseren Seite zeigt...
Es folgte dann die Frage des Sommerurlaubs. Gerne würde ich den Sommer in Zürich verbringen, aber arbeitsmässig eignet sich der Sommer oder auch der Tiefwinter am besten für Ferien. Ursprünglich hatte ich drei Wochen zur Verfügung, dann wegen Wirtschaftsflaute schon fünf. Dann aus gleichem Grund bald sieben, was für den Balkan eindeutig ausreichen sollte.
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8. Juli 2011
Am Vorabend der Abreise war ich mit Büroarbeiten bis um eins beschäftigt - zuletzt die unbeliebteste Aufgabe: Ausfüllen der Steuererklärung...Schon um zwei war ich aber wegen eines Gewitters wach, und schlief erst um fünf ein.
Die Abfahrt von Zürich mit dem öffentlichen Verkehr sollte um halb sieben beginnen. Erst um halb elf fuhr ich wegen der kurzen Nacht los. Dann der Alptraum: Umsteigen in Landquart, dann Sagliains, dann in Zernez. Dort mit dem Postbus zum Ofenpass. Dann mit dem Rad, um die endlose Reise zu entzweien. Die Abfahrt ins Münstertal wird durch starken Gegenwind deutlich gebremst, schliesslich verpasse ich im Vinschgau den Zug nach Meran. 40 Minuten später fährt der nächste Zug, mit Halt an allen Stationen...in Meran geht es stolze drei Minuten später weiter nach Bozen. Hier unten ist es wie üblich im Juli erdrückend heiss, die Warteschlange am Fahrkartenschalter ist zu lang, ich habe nur acht Minuten. Also Schwarzfahren...der Regiozug Verona-Brenner ist in nicht einmal zwanzig Minuten bereits in Waidbrück angekommen...
Dann fährt der Bus los, aber das Grödnertal erreicht er nicht: ein heftiger Knall beendet seinen Dienst. Eine Stunde später kommt der nächste Bus, nach 40 weiteren Minuten kehrt der Bus in Plan oberhalb von Wolkenstein.
Nun nach fast zehn Stunden ist die Reise auch nicht fertig, denn jetzt geht es los auf dem Fahrrad über das Grödner Joch. Die durch die lange Reise verursachte Müdigkeit wird durch die frische Bergluft und vor allen Dingen die Sonnenbeleuchtung an den Felsen des Sella-Stocks ausgeglichen, ein Naturschauspiel ersten Ranges!
Zwanzig nach neun erreiche ich unser Hotel in Colfuschg oberhalb von Corvara. Die Gruppenmitglieder sind irgendwo, niemand antwortet. Nach einer Dusche finde ich ein Restaurant. Der Urlaub möge beginnen...
9. Juli 2011
Wir treffen uns zum Frühstück und fahren danach nach dem Anmeldegebäude. Tolles Wetter: Quellwolken, moderate Temperaturen, beste Bedingungen für das Rennen. Für den morgigen Tag sieht es ähnlich aus...
Wir melden uns an und holen die "Goodies". An der Spitze ist der Trikot. Dieses Jahr ist er aus ganz feinem Stoff, fast wie Seide, ideal für wärmeres Wetter. Hier wird nicht auf Qualität gespart, das vergisst man nicht. Selbst das Startgeld ist mit dem Trikot annuliert...und etliche Geschenke, auch ein Windstopper sind inbegriffen. Wieder Top-Organisation....
Am Nachmittag gehen wir alle getrennte Wege, jeder von uns bereitet sich auf den morgigen Tag auf eigener Art und Weise vor.
Später essen wir erstmals zusammen, lässige Gesellschaft und gutes Essen. Um neun Uhr ist es schon auffallend ruhig...dann ins Bett...
10. Juli 2011
Schon kurz vor fünf bin ich wach und gehe hinunter in den Frühstücksraum. Probleme: die Brotlieferung verzörgert sich. Ich bekomme genug, ja wer hat um fünf denn Hunger? Immer mehr Gäste kommen runter, etwas Frust ist in der Luft...die Leute müssen essen, aber es gibt nicht genug!
Schliesslich sind wir fünf aus dem Anglo-Canadian Team alle zusammen, viel wird nicht gesprochen. Ein paar scheue Witze...nun ist es soweit: ab auf die Zimmer, Zähne putzen, umziehen, und raus. Wir fahren separat zum Start: Tom und ich sind ganz hinten, die drei Frauen weiter vorne. Wäre ich statt 2006 im 2007 gefahren, so wäre ich auch weiter vorne gewesen, mit Folgen...
Die Abfahrt nach La Villa in der kühlen Morgenluft ist ein Genuss, so wacht man ganz schön auf. 6:20 Uhr finden wir unseren Startplatz...
Maratona dles Dolomites
Um 6:45 ist es soweit, die Massen kommen in Bewegung. Zuerst langsam, dann wegen der hohen Zahl an Fahrern wieder Stillstand, dann wieder Bewegung. Ich halte Tom vorerst im Auge, langsam geht es vorwärts, dann ist das Dorf hinter uns.
Nun folgt die Enttäuschung: anders als im 2006 werde ich ständig von andern Radlern überholt. Das MTB scheint trotz schmälerer Reifen nicht so schnell zu sein wie der Colnago, ich bin auch fünf Jahre älter, auch schwerer geworden, und wohl nicht mehr ganz so motiviert wie damals.
Das Ganze wird rasch zu einer herben Enttäuschung. Corvara wird erreicht, eine steilere Rampe durch die Ortschaft, dann beginnt die Auffahrt zum Campolongo. Die Enttäuschung verschärft sich, ich finde einfach keinen Rythmus. Ich kann niemanden überholen, aber mich können schon jung und alt stehen lassen.
In der zweiten Hälfte der Auffahrt beruhigt sich die Lage etwas, nun baut sich einigermassen etwas Rythmus auf. Schliesslich ist die Passhöhe erreicht und die erste Labestation. 2006 lief alles prima bis zur Auffahrt zum Passo di Giau: halbwegs zum Pass brach ich wegen Hunger recht schnell ein und hatte von dort bis zum Valparola nur Probleme. Heute schaue ich dass das "Hitting the Wall" sich nicht wiederholt...
In der Abfahrt kehrt sich für kurze Zeit das Blatt. Das MTB ist auch mit schmalen Reifen recht stabil: hier kann ich die auf leichteren Rennräder fahrenden Leute locker überholen. Schnell ist dies aber vorbei: Arabba ist erreicht und die kurvenreiche Auffahrt zum Pordoi beginnt.
Die Kehren folgen, ich befinde mich neben einem Radler mit irischem Familiennamen. Er stammt aber aus England und flucht laut über seine Schwierigkeiten. Er ist praktisch der erste Rennradler, den ich überholen konnte...
Oben am Pass halte ich nicht an, nun mag die Abfahrt beginnen. Hat die Abfahrt vom Campolongo nach Arabba als Trainingfahrt gedient, nun folgt die echte Sache. All die Frust des gescheiterten Anfangs, gar Hass kommt jetzt raus, da wird nicht zurückgehalten. Ich teste das MTB, dieses seltsam grosse und lange Gerät bis an sein Limit, da fliege ich runter! Rasant schnell durch die kurvigen Schikanen, Rennrad nach Rennrad überholend...."der Plausch" sagt man in der Schweiz...die Scheibenbremsen sind genial, warum gibt es sie nicht für Renräder?
Plötzlich schwimmen Bilder eines legendären Naturdokumentarfilms vor mein Gesicht: Eternal Enemies, die Hassgeschichte zwischen Löwen und Hyänen. Die leichten Carbon-Rennräder sind zwar keine Hyänen oder Löwen, sondern eher Gehparden. Mein MTB dagegen, langsamer und schwerer, robuster, viel stärker, der ist ein Löwe, hier in der Abfahrt ist er der Rennrad-Killer...
Dann Auffahrt erneut und hier am schattigen Abzweig zum Sella-Joch fast frostig kalt. Nun folgt eine ruhigere Auffahrt zum Joch, Leute im hinteren Teil des Felds sprechen gar miteinander. Weiter vorne geht es nur um die Angaben des Tachometers.
Auch der Sella ist erreicht, dann eine entspanntere Abfahrt, hier wird auf Strassenarbeiten hingewiesen. Statt rasen gilt nun, die Beine gut durchzuschütteln, Flüssigkeit trinken, dann schnell erneut in die Auffahrt zum Grödner-Joch. Unterwegs gibt es eine Labe-Station, ein schmuckes, teuer aussehendes Restaurant bietet frischen Apfelstrudel. Warum ich annehme, weiss ich nicht. Bauchschmerzen ist vorprogrammiert, und folgt auch. Oben auf dem Pass meint ein Amerikaner, wir hätten nur mehr zwanzig Minuten bis zum Zeit-Limit in Corvara. Dementsprechend fahre ich möglichst schnell runter. Die Aussage entpuppt sich allerdings als nicht wahr, dafür bin ich ziemlich ausgepowert. Nun erneut der Campolongo, und erneut das Leiden an einem Pass, an dem man wegen der Kürze nicht leiden sollte.
Oben am Pass wieder essen, wieder Power-Abfahrt, wieder bis an die Grenze der Eigenverantwortung...danach die lange, flache Strecke hinter Arabba. Ich überlege ob ich die Sechser-Runde fahren sollte, oder wie im 2006 die Siebner-Runde. Was? Aus dem Nichts fällt ein, dass inzwischen fünf der sieben Pässe bereits überstanden worden sind! Auch aus dem Nichts taucht neue Energie auf: die Feuertaufe des Campolongo habe ich überstanden, trotz aller Schwierigkeiten habe ich schon fünf Pässe hinter mir. Hinter mir...dieses Gedanke hat immer wieder schwere Auffahrten gerettet: alles was man hinter sich hat, das kann einem nicht mehr weh tun, das wirkt wie eine Mauer hinter einem, oder eine stützende Hand, die den Radler nach vorne schiebt!
An der Abzweigung zum Falzarego wird die Frage aber für mich zwangsweise entschieden: seit elf Minuten ist die Strecke über den Giau für die Maratona-Radler geschlossen. Ich bin leider zu spät. Etwas verloren, strategielos, halte ich an. Die Energie ist vorhanden, ich habe mich aus dem Anfangsdesaster prima erholt, aber die Entscheidung ist von aussen her gefällt worden. Da kann ich nichts mehr machen, für einmal darf ich nicht unbeschränkt über die Routenwahl entscheiden.
In den ersten Minuten des Aufstiegs zum Falzarego habe ich seltsame Gefühle: für einmal wirkt eine Auffahrt zahm, weich, feige. Langweilig. Ich bin für sie zu stark, unterfordert, wie hätte ich das früher, am Anfang vorstellen können...
In der Auffahrt brechen Gespräche zwischen den Radlern aus. Polen, Italiener, wir sind alle gleich, wir sind Spass-Radler, Genuss-Radler, die Express-Radler sind schon längst über den Berg. Nun kann man auch die Schönheit der Landschaft freuen, hier oben in den einmaligen Dolomiten. Die Strasse über den Falzarego war das letzte Stück der im 1908 eröffneten "Grossen Dolomitenstrasse", die von Bozen über den Karerpass, den Pordoi und den Falzarego nach Cortino führt.
Weiter oben beginnen die Energiereserven doch noch zu schwinden: mein rechtes Knie, das seit einer Auffahrt zum Grossglockner im Frühling 2008 zwei oder dreimal pro Jahr für Probleme sorgt, gibt erste Warnzeichen. Bauchweh kommt auf, dem Apfelstrudel sei dank...hinter der in den Berg geschlagene letzte Kehre habe ich richtig Mühe....dann ist aber der Falzarego erreicht.
Von meinen Kollegen fehlt weiterhin jede Spur. Hoffentlich sind sie nicht immer noch in der Auffahrt zum Giau...nun ist es recht warm geworden.
Die zwei Kilometer zum Valparola wollen einfach nicht beendet werden. WIe können solch kurze Strecken wie dies oder der Campolongo so schmerzhaft sein?
Dann erneut Abfahrt. Der Valparola ist eine Raserstrecke. Über achtzig erreiche ich, ohne Gefahr zu spüren. Weiter unten ist Vorsicht angebracht, denn die ersten Radler kommen schon entgegen: jene, die viel schneller waren, fahren jetzt zurück zu ihren Hotels.
Schliesslich erreiche ich totmüde, ja fast ga-ga das Ziel. Es stellt sich heraus, dass die Kollegen noch etwa eine Stunde hinter mir sind, aber alle vier haben die Siebner-Runde absolviert. Super! Zuerst bluffe ich, ich hätte alle an einer Labestation überholt, aber schliesslich gebe ich zu, dass ich einfach zu langsam war. Nicht das 10,5 Kg schwere MTB war schuld, sondern der Fahrer. Die Radsaison beginnt für mich nicht im März oder April, sondern jetzt: das Haupttraining fängt morgen an mit der Reise nach dem Balkan...
11. Juli 2011
Am Abend hatten wir in einem Restaurant oberhalb von Colfuschg gefeiert. Am nächsten Morgen sind alle wohl auf. Tom und seine Frau fahren zurück zu meiner Wohnung in Zürich, die anderen zwei Gruppenmitglieder zum Garda-See und Verona. Ich fahre los um elf nach La Villa, kaufe im Radladen einige Sachen für das Fahrrad, dann lege ich los. Locker ist der Valparola erreicht, dann runter zum Falzarego. Hier oben an diesem Pass spüre ich immer die Geschichte: die Frontlinie verlief hier oben, obwohl die politische Grenze zwischen Österreich und Italien jenseits von Cortina lag. Das österreichische Heer räumte Cortina und das Val Ampez im 1915, da die Verteidigung hier oben einfacher war.
In der Abfahrt verabschiedet sich das ganze Gepäck vom Fahrrad. Leider muss der Rucksack tatsächlich auf dem Rücken sein...wie schade.
Hinter Cortina folgt eine kurze Regenpause. Danach passiere ich das einstige Grenzhaus. Hier steht im weiteren Verlauf das Trassee der alten Kriegsbahn zwischen Toblach und dem Piave-Tal: von hier weg ist er zudem durchwegs geteert.
Am Ende des Val di Cadore folgt das Piave-Tal und die Abfahrt nach Longarone. Schliesslich finde ich ein Hotel um acht Uhr. Morgen das Vajont-Tal und die Ausfahrt in die Po-Ebene...aber für heute noch ein bequemes Bett. Die nächste Übernachtung unter einem Dach wartet...in Mostar.
12. Juli 2011
Um acht fahre ich los durch die Stadt Longarone. Ausserhalb liegt die schmale Spalte im Berggrat, dies ist der Weg zum Passo San Osvaldo. Da hatte man einen idealen Standpunkt für eine Staumauer gefunden. SIe wurde gebaut und das Wasser dahinter staute sich auf. Im Oktober 1963 folgte dann die Katastrophe: das Wasser im See hatte einen Berg destabilisiert, er rutschte dann in den See und schickte eine Flutwelle express ins Tal. 3'000 Menschen kamen um, Longarone wurde gänzlich zerstört.
Die Staumauer ist schnell erreicht, hier auch die Grenze zum Friaul. Weiter oben im schönen Sonnenschein zum Pass: nicht einmal 900m hoch. Dahinter folgt eine lange Abfahrt zum Barcis-See, dann eine steile Auffahrt bei immer höheren Temperaturen zum nächsten und letzten Pass meiner Alpenetappe.
Danach runter und mit einer Schluchtpassage das Verlassen der Alpen, die Ankunft in der glühenden Hitze der Po-Ebene.
Hier hat sich die erste Hitzewelle des jungen Sommers aufgebaut. Nach langem Restaurant-Pause geht es nun durch die Hitze. Nach einer Stunde halte ich an einer Tankstelle und kaufe 1,5 Liter Mineralwasser. Ich sitze im Gebäude, im Café. In einer halben Stunde ist beinahe das ganze Wasser verschwunden. Heute gibt es hier 35 Grad. Was verheisst dies für die Weiterfahrt nach Istrien, Bosnien?
Totmüde erreiche ich um 16:30 das Zentrum von Udine. Bei diesen Temperaturen verzichte ich auf den Altstadt-Besuch. 30 Minuten später sitze ich im Zug nach Triest. Hier ist es um 18:30 immer noch brennend heiss. Die Weiterfahrt nach der Grenze dauert ewigs, erst um halb neun erreiche ich den Camping an der Grenze.
Der Boden am Camping ist steinhart, aber was soll's...heute könnte ich neben einer Autobahn einschlafen. Teil eins der Reise ist beendet...
6 gefahrene Pässe
Passo Pordoi, Grödnerjoch, Sellajoch, Passo Campolongo, Passo di Valparola, Passo di FalzaregoStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am