Von Renko –
Um acht fahre ich los. Schaffe ich Bernina und Julier heute?
Die Temperaturen sind mit rund acht Grad relativ angenehm. So gestaltet sich die lange und bei Brusio ziemlich steile Auffahrt bis Miralago vergleichsweise angenehm.
Der Verkehr hält sich an der Raserstrecke einigermassen in Grenzen. Der Rhythmus schaltet ein, in Brusio ist die Bahnstrecke seit Monaten wegen Hangsicherungsarbeiten unterbrochen.
Unerwartet schnell ist Teil eins der Auffahrt zu Ende: hinter einem Engpass ist der Lago di Poschiavo erreicht.
Hier taucht man allerdings in einen Kaltluftsee. Die schotterfreie Staubpiste am Ufer besteht aus ruppigem, gefrorenem Matsch.
Weiter geht es flach bis Poschiavo, hier brauchen die Zähen allerdings Pflege...
Nach Cappuccio-Pause radle ich weiter, dann beginnt der Aufstieg erneut. Nun passiere ich einen Punkt, den ich wohl nie vergessen werde. Bei Dunkelheit am Abend des 10. November 2006 fuhr ich beinahe frontal in ein entgegenkommendes, überholendes Auto. Durch den Schock brach ich in Poschiavo frühzeitig ab, was schliesslich zum Scheitern der Auffahrt am nächsten Tag nach dem Forcella d'Entova führte.
Hundert Meter oberhalb Poschiavo ist es wieder spürbar weniger kalt. Dann plötzlich greift erstmals der eisige Nordföhn hinunter...
Kurze Zeit später ist es wieder sonnig und windstill, da muss die Jacke abgezogen werden. Danach ist es wieder eisig kalt und die Jacke braucht's wieder. Und dann wieder windstill, warm, und verschwitzt. So ist es halt zu dieser Jahreszeit...
In 1500m Höhe ist die Schneedecke inzwischen deutlich angewachsen. In La Rösa, die letzte, allerdings nicht ganzjährig bewohnte Ortschaft des Puschlavs auf knapp 1900m Höhe, liegt gegen zwei Meter. Plötzlich greift der Nordwind erneut durch, der heult direkt vom Forcola di Livigno hinab, Hilfe!!
Die Zollstation nach Livigno ist beinahe im Schnee versunken, der Wind verschwindet wieder. Nun kommt endlich einen flüssigeren Rhythmus auf. Neben immer höheren Schneewänden geniesse ich die Blicke nach Süden. Kurz vor der Passhöhe spürt man, wie heikel die Offenhaltung des von starken Winden geprägten Bernina sein muss, rechts erreichen die Schneewände um die 10 Meter!
Schliesslich ist der Pass erreicht, ein paar Meter weiter fahre ich direkt in den starken Nordwind. Hier gibt es in der kommenden Abfahrt sicher kein Entkommen. Also nur eins: ab ins Hospiz!
Nach leckerem Pizzöcar ziehe ich alles an was ich mit dabei habe. Zwei Paar Socken, Unterhosen, lange und kurze Radhosen, winddichtes T-Shirt, gepolstertes langärmiges Windstopper, Jacke, und am wichtigsten: Lycra-Kopfschutz, die allerbeste Erfindung für Radfahrer!
Die ersten Kilometer gehören zu den kältesten je erlebten auf dem Fahrrad, unterhalb des Lago Nero wird es aber etwas erträglicher. Aber die Zähen halten es gut aus, erst in Pontresina geben sie zu verstehen, dass Wärme bald nötig sein wird. Aber die letzten Kilometer nach Samedan bedeuten einen Kampf gegen den heulenden Nordwind. Bei der Ankunft in Celerina fallen die ersten Schneeflocken, weiter geht es für heute definitiv nicht!
Das war der Bernina. Er ist lang, relativ stark befahren, teilweise über 10% steil, und hat einen enormen Höhenunterschied. Als ähnlich, und auch ähnlich anspruchsvoll, kommt gerade nur der Col du Galibier in den Sinn. Aber hier im Veltlin hat man noch einen Trumpf, denn vom ungemein tiefen, mediterranen Veltliner Tal bis zu den Gletschern am Pass erlebt der Radler praktisch einmalige klimatische Gegensätze!
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren