Bordelais 2002 960,0 km / 0 Hm
Einzelstrecken
Dass Bertram, ein gelegentlicher Trainingspartner, in der selben Woche Urlaub hatte, war Zufall. Er war noch nie Strecken über 200 Kilometer gefahren, schon gar nicht mit Reisegepäck - ein Novize in Sachen Campingurlaub. Ich schätzte ihn wegen seiner Zähigkeit und seiner guten Laune, und auf die Gefahr hin, dass wir uns gegebenenfalls trennen würden, wenn sich herausstellen sollte, dass diese Art von Urlaub nicht die seine sein sollte, beschlossen wir, die Tour gemeinsam zu starten. Mit Hilfe eines Routenplaners am Computer ermittelte ich 860 Kilometer nach Cadillac, dem Zielort - Gerüchte besagen, dass das Auto gleichen Namens nach diesem Ort benannt sein sollte. Ich liebäugelte insgeheim mit vier Tagen Fahrt, täglich also etwas über 200 Kilometer, ein Batzen der gewaltig scheint und verführerisch in seiner Maßlosigkeit.
Treffpunkt: 09.09.02, Freiburg, Martinstor, 7.45 h. Ein kurzer Anruf zuvor ergibt: Bertram schafft es nicht rechtzeitig, ich auch nicht - vom Timing her herrscht also schon mal Harmonie; es wird halb neun, bis die Schuhe in den Pedalen einklicken. Ich ermahne meinen Begleiter zu einem verhaltenen Fahrstil, drohe ihm mit allen Erschöpfungssymptomen, die sich nach 200 Kilometern einstellen würden - nicht ohne Eigeninteresse: eine (unumgängliche) Gewalttour am Vortag über 240 Kilometer steckt mir noch in den Beinen.
Wir lassen Freiburg hinter uns, lösen uns regelmäßig in der Führung ab, fahren insgesamt in einem besonnenen Tempo durch die Rheinebene. Das Wetter hält sich in Grenzen: es ist windig, Regenwolken hängen unmotiviert am Himmel; für kurze Hosen ist es zu kühl. Bis Mulhouse geht es recht flott voran, vor der Stadt stoßen wir auf den Rhein-Rhône-Kanal und folgen ihm so gut es geht, um uns einigermaßen unbehelligt vom Verkehrsgeschehen der elsässischen Metropole durchzumogeln. Dem Radfahrer wird in dieser Stadt nichts geschenkt. Meine Vermutung erweist sich als richtig: auch jenseits der Stadt verläuft entlang des Kanals ein Radweg. Die Strecke ist flach und solange das Kommunikationsbedürfnis nicht überhand nimmt ziehen wir uns gegenseitig in südwestliche Richtung, fast auf der Luftlinie in Richtung Bordeaux. Um 12.15 h huschen wir noch schnell in eine alimentation, ehe hinter uns die Rollladen herunter gelassen werden. Eingedeckt mit dem Nötigsten lassen wir es nochmals laufen, Bertram möchte vor dem Mittagessen die 100 Kilometer voll machen - zu meinem Leidwesen. Irgendwann mutiert das bis dahin asphaltierte Sträßchen in einen holprigen Waldweg, was den leeren Magen durchrüttelt und das Mittagessen weiter hinauszögert.
Endlich: das erste französische Baguette, Zwiebeln, Knoblauch, Käse. Von unserer Bank aus beobachten wir das Treiben an der Kanalschleuse auf der Höhe von Montreux-le-Vieux. Luxusyachten von offensichtlich begüterten Freizeitkapitänen legen gegenüber an. Die beiden Schleusenwärter sind raue Kerle, geübt im Umgang mit den dicken Tauen, geben sich geschäftig. Sie sind möglicherweise auf Trinkgelder angewiesen. Wie schlägt man wohl auf so einem Kahn seine Zeit tot?
Eine kurze Siesta und weiter geht's. Wir verlassen das Kanalufer, fahren auf Nebenstrecken bis Montbéliard, einmal quer durch die Stadt und den Doubs lang, der hier allerdings in die verkehrte Richtung fließt. Halt! Kein Fluss der Welt fließt bergauf, ich folgere daraus, dass wir uns am falschen Ende der Stadt befinden. Also nochmals quer durch und ab auf die N 463. So kann man seine Zeit auch totschlagen... Auch mit dem Überstreifen der Überschuhe, weil es anfängt zu regnen, und dem Ausziehen derselbigen, weil der Himmel es sich anders überlegt hat. Ein zauberhaftes Sträßchen bringt uns über Etouvans nach L'Isle-sur-le-Doubs. Es ist halb sieben, Zeit, fürs Abendessen einzukaufen: ein halbes Kilo Spaghetti, Soße, Gemüse, 2 Dosen Bier, 1 Flasche Wein. Nur wer den ganzen Tag im Sattel verbringt, kennt das Glücksgefühl, wenn die Packtaschen prall sind vom Futter.
Noch aber sitzen wir nicht vor dem Zelt. Unser Vorhaben, einen Radweg entlang des Doubs zu suchen, geben wir auf, als wir in einer Sackgasse landen. Angesichts der vorgerückten Stunde entscheiden wir uns für die Route Nationale und sind sehr erstaunt über das geringe Verkehrsaufkommen. Der Franzose liebt sein Abendessen und hat wohl Besseres zu tun, als seine Zeit auf Landstraßen zu vergeuden, wenn die Stunde des Aperitifs geschlagen hat. In Clerval ist es noch zu früh, auf den Campingplatz zu gehen, in Baume-les-Dames zögern wir: noch ist die 200-km-Marke nicht erreicht. Es geht auf 21 h zu, Besançon liegt noch 30 Kilometer vor uns. Wir setzen unseren Weg fort. Mein Kompagnon hält, was ich mir von ihm versprochen habe - die meisten anderen wären an diesem Punkt wohl schwach geworden...
Es werden rauschende Kilometer, wir sind trotz Müdigkeit, Dunkelheit und Gepäck kaum mehr als eine Stunde unterwegs. Am Ortseingang von Besançon übersehen wir im Schein unserer Lampen fast die Einfahrt zum Campingplatz. Der Rest sollte in den nächsten Tagen Routine werden: Bierdose aufreißen, Zelte aufstellen, duschen, Wein entkorken, kochen, ein Pfund Spaghetti essen, Zähne putzen, schlafen. Und während im Halbschlaf der Magen die Pasta verdaut, verdaut das Gehirn die Bilder des Tages.
Nächster Halt ist ein Schreibwarenladen, wo ich eine Carte Michelin besorge, während Bertram sich vor der Tür die Lebensgeschichte eines Achzigjährigen anhört. Der gemeinsame Wortschatz der beiden beträgt kaum mehr als zehn Wörter - ich dränge auf Weiterfahrt.
Der Himmel gibt sich mittlerweile etwas aufgelockerter. Wir verlassen Besançon über die N73, drehen ab bei La Belle Etoile und folgen dem Doubs auf kleinen Straßen mit dem für Frankreich so typischen groben Asphalt, vorbei an Wiesen und Wäldchen, durch kleine verschlafene Ortschaften. Der Charakter der Gegend ist, wenn auch nur einen Tag von zuhause entfernt, ein gänzlich anderer: schlichter, bodenständiger die Häuser, verträumter die Flusslandschaften. Ich fühle mich ausgeruht, besser in Form als gestern, mache etwas Tempo, aber nach und nach pendeln wir uns wieder bei einer zügigen, aber nicht übermäßigen Reisegeschwindigkeit ein. Die Strecke wird hügeliger, der Himmel reißt zusehends auf, abgesehen von einem kurzen Schauer, der uns in Dôle zu einem ungeplanten Halt zwingt. Dann bricht die Sonne endgültig durch, es wird endlich richtig warm. Hinter Dôle bitten wir eine Frau, die sich in ihrem Garten zu schaffen macht, unsere Wasserflaschen zu füllen. Fragen nach dem Woher und Wohin und ungläubiges Staunen bei unseren Antworten. Sie verschwindet nochmals, kommt mit 2 Fläschchen Panaché zurück. Mercy beaucoup, Madame, et au revoir. - Bonne route!
Ein paar Dörfer weiter finden wir in der Ortsmitte ein hübsches Plätzchen unter Bäumen für die Mittagspause. Mit den kleinen Fläschchen Panaché stoßen wir an. Auf den auf dem Boden ausgebreiteten Karten verfolge ich unseren Kurs Richtung Westen. Es war keine ausgemachte Sache, dass ich die Strecke vorgeben würde, aber nachdem Bertram erst einmal darüber ins Bild gesetzt werden musste, dass Bordeaux nicht Marseille ist, schien auch mir dies die bessere Lösung.
Die Region zwischen Doubs und Saône ist unspektakulär, aber geeignet, um Kilometer zu sammeln. Ein welliges Auf und Ab. Wir erreichen Châlon-sur-Saône am späten Nachmittag, fahren weiter auf der D 977, die Abendsonne im Blick. Die Anstiege hier sind deutlich länger und steiler, der Blick von der Bergkuppe zwischen Buxy und Cersot schweift über eine friedliche, saftig grüne Landschaft. Es tut gut, kurz in dieser abendlichen Stille zu verweilen.
Noch haben wir keine Vorstellung davon, wo wir die Nacht verbringen werden; in St. Martin, einem kleinen abseits gelegenen Straßendorf, fragen wir nach dem nächsten Campingplatz. Schulterzucken - dann die Eingebung: in Torcy gebe es sicherlich einen. Torcy liegt nicht direkt auf unserem Weg, aber angesichts der hereinbrechenden Nacht und einer Entfernung von 10 Kilometern erscheint uns dies als eine gute Lösung. Wir machen die Lichter an, verlassen die beschauliche D 977 über eine steile Abfahrt, um uns wenige Minuten später auf der Hauptstraße Richtung Le Creusot wiederzufinden.
Welch ein Unterschied! Auch zu dieser Stunde herrscht hier noch reichlich Verkehr, ich bin froh, als wir in den kleinen Weg einbiegen, der zum Campingplatz führt. Der Platz ist stockfinster, es sieht nicht so aus als wäre er noch bewirtet. Hinter einem erleuchteten Fenster machen wir den patron aus, im Nachthemd bei einer Flasche Wein sitzend. Anfangs erschreckt durch unsere unvermutete Ankunft kommt er später in Zivil zu unserem Platz und erweist sich als recht zuvorkommend, bietet an, uns seine Taschenlampe für die Nacht zu überlassen. Die Temperatur ist beträchtlich gefallen, wir halten uns nicht länger als nötig im Freien auf; am Ende bin ich froh, als ich den Reißverschluss des Schlafsacks bis über die Ohren zuziehen kann.
Als wir die dritte Etappe in Angriff nehmen, ist es sonnig, aber immer noch frisch. Ich rechne mit deutlich steigenden Temperaturen, muss mir aber nach 15 Kilometern eingestehen, dass ich mit meiner kurzen Hose deutlich zu optimistisch gekleidet bin, und ziehe mir Beinlinge über, weil ich ein leichtes Ziepen im Knie zu verspüren glaube. Dieser leichte Schmerz beginnt mich zu beunruhigen, im Wissen darum, dass der Ausgang dieser Tour vom Wohlwollen meiner Kniegelenke abhängt, die mir vor Jahren schon einmal einen bösen Streich gespielt hatten, von dem ich mich lange Zeit nicht erholte.
Bald schon nötige ich Bertram zu einer weiteren Rast, ziehe mir eine knielange Hose an und die Beinlinge darunter. Ich bin genervt - von meinen Knien, vom Wetter, das einfach nicht warm werden will, vom Umstand, dass wir noch deutlich mehr als die Hälfte vor uns haben, obwohl wir die letzten zwei Tage bis zur Erschöpfung gefahren sind. Mir kommen Zweifel an der Richtigkeit der berechneten Kilometerzahl, vier Tage für diese Strecke scheinen mir nun jedenfalls utopisch. Ich fahre in kleinen Gängen weiter, um die Knie zu schonen.
Die Region ist ausgesprochen ländlich, seit wir die in der Ferne aufragenden Schlote der Kohlekraftwerke von Monceau-les-Mines hinter uns gelassen haben. Typisch für diese Gegend sind die Viehweiden, allseits eingefasst von Gebüsch - ein riesiges, anarchisches Schachbrett in Grün. Weiße Charolais-Rinder säumen links und rechts den Weg, dazu bestimmt, in absehbarer Zeit als Beefsteak oder ähnliches auf den Tellern der Menschheit zu landen - die Bauernopfer im Spiel. Wir queren Toulon-sur-Arroux, Gueugnon und Bourbon-Lancy, wo ich uns fünf lange Kilometer in die falsche Richtung der D 973 schicke. Statt von links kommt die Sonne - oder das wenige, was davon noch am Himmel hängt - von hinten; darüber hinaus gibt es in dieser Gegend nur wenig Orientierungshilfen. Heute ist jedenfalls definitiv nicht mein Tag.
Zurück in Bourbon-Lancy legen wir Mittagspause ein, ich habe keine Lust mehr weiterzufahren. Zu allem Überfluss beginnt es am Ende der Rast zu regnen. Meine Stimmung ist am Boden. Bertram nimmt's gelassen. Was bleibt auch anderes übrig, als Regenjacke und Überschuhe anzuziehen, den Rest unseres Urlaubs werden wir kaum in diesem Nest verbringen... Mit bald nachlassendem Regen steigt auch meine Stimmung wieder etwas. Wir halten nochmals knapp 30 Kilometer durch, dann folgt der nächste Stopp in Neuilly-le-Réal, nachdem uns auch zwischendurch ein kurzer Schauer zwang, uns unter dem Eingangsportal eines weitläufigen Anwesens unterzustellen. In Neuilly kaufen wir vorsichtshalber für den Abend ein und für sofort einen Satz Bananen und Müsliriegel. Beim Verstauen der Einkäufe kommt der nächste Regenguss. Ich gehe nochmals in den Laden, besorge uns zwei Bier. Ich habe die Nase voll. Wir setzen uns in das Bushäuschen auf der anderen Straßenseite. Der Regen trommelt auf das Dach und wir wissen, dass wir nun am Tiefpunkt der Tour angelangt sind. Wir warten, bis der Platzregen vorbei ist, und schütten die Reste aus den Dosen in den Rinnstein, ehe wir uns erneut auf die nassen Räder schwingen. Ich versuche, wieder in jenen Rhythmus zu kommen, der die endlosen Kilometer zu Freunden werden lässt, die man begrüßt und nicht in erster Linie hinter sich wissen möchte.
Eine Tankstelle zum Nachfüllen von Benzin für den Kocher suchen wir in Neuilly-le-Réal vergebens, gut zehn Kilometer weiter soll es eine geben. Wir bewegen uns hier in der tiefsten Provinz, la France profonde; dies erspart uns aber die Fahrt auf den großen Verkehrsachsen. In Ferte-Hauterive gibt es tatsächlich eine recht einsam dastehende Zapfsäule. Ihre Besitzerin schaut uns mürrisch an, als ich ihr meinen Wunsch darlege: le plain, s'il vous plaît! - volltanken bitte! Ich halte ihr die Benzinflasche hin, bediene mich schlussendlich jedoch selbst. Sie steckt wortlos den Euro weg und verschwindet wieder in ihrem Büro. Wir sind mit allem Nötigen versorgt, können den Abend ganz dem inneren Drang, voranzukommen, widmen, bis uns irgendwo einer der wenigen Campingplätze dieser Gegend zum Bleiben verleiten wird. Nasse Wiesen säumen den groben Asphalt der Nebenstraßen, die Luft ist feucht und kühl. Eine knappe Stunde später tauchen an einer einsamen Kreuzung in der Tat vielversprechende Schilder auf, fünf Kilometer später finden wir uns in Deux-Chaises auf einem kleinen Camping municipal wieder, wo außer uns nur ein sympathisches Schweizer Ehepaar in einem Kastenwagen logiert. Auch die Übernachtungsgebühr von wenigen Euros ist sympathisch, die abendliche Flasche Wein tut ein Übriges, die Stimmung wieder auf ein Normalmaß zu heben.
Ein feiner Nieselregen stellt uns immer wieder auf die Probe. Aber die Stimmung ist besser als am Vortag. Mein Knie zeigt keine Anzeichen einer Verschlimmerung, was mich sehr beruhigt. Wir fahren häufig in größerem Abstand zueinander, das Kommunikationsbedürfnis hat mit den vielen Stunden auf der Straße nachgelassen, jeder fährt sein Tempo, Windschattenfahren macht in diesem Gelände ohnehin keinen Sinn. Schon seit dem zweiten Tag sind wir nur noch vereinzelt Passagen im Windschatten unterwegs. Bereits vor Auzances halten wir Ausschau nach einer Gelegenheit, eine Mittagspause einzulegen, nach irgendeiner Bank, um uns nicht ins nasse Gras setzen zu müssen. Zweifellos hat diese Landschaft bei Sonnenlicht eine Menge zu bieten, an Bänken jedoch fehlt's gewaltig. So schleppen wir unsere leeren Mägen weiter übers Land, füttern noch einen Apfel zu, bis wir in Bellegarde-en-Marche eine überdachte Bushaltestelle finden. Das Wetter ist wahrhaftig nicht motivierend. Neben der Bushaltestelle befindet sich eine Telefonzelle; ich nütze die Gelegenheit, meinen Freund von unserer bevorstehenden Ankunft - wenn alles gut geht, morgen im Laufe des Abends oder der Nacht - zu unterrichten und höre staunend, dass im Bordelais der Himmel strahlend blau sein muss. Unvorstellbar. Aber es verleiht uns einen Kick.
Im Ort ist ein Café; um uns aufzuwärmen, nehmen wir in dem mit einem Kohleofen nur mäßig beheizten Lokal einen Milchkaffee zu uns - das einzige Mal, dass wir eine Kneipe aufsuchen. Den Auvergnaten sagt man nach, dass sie eigenbrötlerisch und unfreundlich seien - die Dame, die uns mit unbewegter Miene den Kaffee hinstellt, macht hiervon jedenfalls keine Ausnahme. Als wir wieder ins Freie treten, schimmert wie durch ein Wunder die Sonne durch die Wolkendecke, zunächst noch sehr milchig, dann immer kräftiger. Zehn Kilometer später, in Aubuisson, herrscht strahlender Sonnenschein, wenngleich die Temperaturen noch nicht so sind, dass es Zeit für kurze Hosen wäre.
Wir entscheiden uns für ein kleines Sträßchen, dass uns etliche Höhenmeter beschert, aber auch wunderschöne Natur entlang des Flüsschens Beauze. Es ist nicht zu glauben, wie sehr nicht nur der Mensch, sondern auch die Landschaft von der Sonne profitiert. Kaum ein Fahrzeug begegnet uns auf diesen gut 20 Kilometern. Die Strecke steigt weiter an, als wir längst schon mit der Abfahrt rechnen, erst bei Gentioux lassen wir uns, der Abendsonne entgegen, über viele herrliche Kilometer ins Tal treiben. Diese Abfahrt haben wir uns verdient...
Eymoutiers: kurz vor Torschluss finden wir noch einen Supermarché; wie meist wartet Bertram bei den Rädern, während ich die Besorgungen mache. Mit seinem mangelndem Französisch scheut er Orte, wo ihm sprachlich zuviel abverlangt werden könnte. Den Campingplatz im Ort ignorieren wir, wählen statt dessen den Anstieg über die D 979, eine breite Straße, die zu dieser Uhrzeit aber verkehrsmäßig darniederliegt. In Chateauneuf-la-Foret wartet die nächste Versuchung in Form eines Campingplatzes, nochmals sind wir stark. Die Aussicht, morgen am Ziel anzukommen, beflügelt uns, wir holen aus den müden Muskeln noch heraus, was es braucht, um weitere 20 Kilometer zu fahren, noch einmal in die Nacht hinein.
In einem Gemisch aus Müdigkeit und Dämmerung verschwimmen die letzten Kilometer in der Erinnerung. Eine weiterhin bergige Straße, die sich durch die Provinz windet, um uns in der Dunkelheit von St. Germain zu entlassen. Der camping liegt direkt an einem Baggersee und ist um diese Zeit so gut wie ausgestorben, die Rezeption längst geschlossen. Im Schein der Laternen bauen wir die Zelte auf, kochen das voraussichtlich letzte Pfund Spaghetti auf dieser Fahrt.
Was bleibt am Ende des Tages
noch an Gesprächsstoff? Jeder ist beschäftigt mit dem Strom
der Bilder im Kopf, spürt die Belastungen des Körpers - viel
zu erzählen gibt es nicht. Wir könnten uns nach dem Sinn unseres
Unternehmens fragen: ein Tag mehr, und die Tour wäre deutlich entspannter.
Nur: der Kitzel, die Grenze des für uns Machbaren auszuloten - er
fehlte. Sicher, es gäbe andere Dinge, um die Strapazen aufzuwiegen,
aber ob sie sich mit der gleichen Heftigkeit ins Hirn einbrennen würden?
Ob das Glücksgefühl, kurz bevor der Schlaf die Gedankenfetzen
verjagt, dasselbe wäre?
Der Campingplatz ist billig und luxuriös, mit Waschräumen, die auch nachts beheizt sind, was dabei hilft, die Wäsche trocken zu bekommen, die am Vortag keine Chance dazu hatte. Zarte Kumuluswolken am Himmel versprechen Gutes für den Tag. Wir verlassen den Platz auf einem kleinen Sträßchen, das um den Ort herumführt; für die Steigung zurück in die Ortschaft fehlt uns gleich zu Beginn die Lust. Über ein Netz unbeschilderter, aber asphaltierter Strecken finden wir glücklicherweise irgendwie zur D 7 nach Meuzac - ohne allerdings damit irgendwelche Höhenmeter oder Wegstrecken eingespart zu haben. Wie nicht anders erwartet, geht es in einem Auf und Ab zunächst weiter nach St. Yrieux, von dort auf der D 704 weiter Richtung Excideuil. Obwohl die Straße auf der Carte Michelin in Rot dargestellt ist, ist der Verkehr nicht sonderlich belastend. Alles in allem können wir über die bisherige Streckenauswahl sehr zufrieden sein. Ein einziger Tag auf einer belebten Bundesstraße in Deutschland bringt vermutlich mehr Verkehrsaufkommen mit sich, als wir die ganzen Tage zusammengenommen über uns ergehen lassen mussten.
In Excideuil missglückt der erste Versuch einzukaufen: die Camemberts in dem kleinen Geschäft sind weit über das Haltbarkeitsdatum hinaus abgelaufen und präsentieren sich entsprechend. Schade. Also bedienen wir uns im Supermarkt am Ortsausgang. Zum ersten Mal während dieser Tage ist es heute richtig heiß. Was für eine Wohltat, selbst wenn die eben gekaufte Schokolade im Nu zerläuft. In Coulaures stoßen wir auf den Fluss Isle, der uns die nächsten Hundert Kilometer nicht von der Seite weichen wird. Die Straßen bleiben weiterhin ruhig, erst vor Périgueux, dort, wo unsere Straße bei Sarliac auf die N 21 stößt, nimmt der Verkehr stark zu. Vor Périgueux setzen wir uns in Flussnähe - leider aber auch unweit der Straße - zum Essen hin. Erst am Ende der Pause entdeckt Bertram zehn Meter von uns entfernt eine Bank zwischen Sträuchern, die - direkt am Fluss - ein ruhigerer und angenehmerer Rastplatz gewesen wäre. Aber tatsächlich steht mir der Sinn nicht allzu sehr nach Pause. Ein Fieber hat mich gepackt, das mich drängt weiterzufahren. Grob überschlagen sind immer noch 120 Kilometer zu absolvieren, ehe wir im Ziel einrollen.
Périgueux durchqueren wir nicht ganz fehlerfrei aber ohne große Umwege. Wir verfolgen die D3 am rechten Ufer der Isle, bald lässt der Verkehr wieder nach. Dafür kommt ein warmer Wind auf, der uns, anders als man erwarten könnte, sanft Richtung Atlantik schiebt. Dieser Freitag, der Dreizehnte, verwöhnt uns mit Sonne und Rückenwind. Das Tempo ist zügig, was neben dem Wind auch der guten Stimmung zuzuschreiben ist.
Jenseits des Flusses verläuft die N 98, später kommt die A 89 hinzu, auf unserer Seite zeigt sich Frankreichs Verkehrsnetz von seiner angenehmen Seite: links und rechts der Straße Wiesen, Plantagen und bald schon die ersten Weinfelder.
Wir überqueren den Fluss gut 60 km nach Périgueux, in Monpont-Ménestérol. Ein kurzer Halt, um die Muskulatur zu dehnen, Getränke zu mischen, Bananen zu essen. Dann drehen wir in südwestlicher Richtung ab, weg von der Isle, die weiter nach Westen fließt, dem Meer zu.
Etwa 60 Kilometer trennen uns vom Ziel, dem kleinen Ort bei Cadillac inmitten der Weinfelder, wo unser Gastgeber möglicherweise schon den Tisch im Garten für uns gedeckt hat. Die Luft, so meine ich, riecht hier anders, salziger. Der Atlantik, wenn auch noch 100 Kilometer entfernt, ist doch schon zum Greifen nahe. Bis Branne verläuft die Straße einigermaßen flach, am Ortsausgang besorge ich uns noch in froher Erwartung eine Flasche Crémant für die Ankunft. Nichts wird uns mehr davon abhalten, heute die Erschöpfung am Ende eines langen Tages auf dem Rad in Triumph umzumünzen, in den Triumph, den Widrigkeiten getrotzt zu haben: Wind und Wetter, unendliche Kilometer rauen Asphalts, der unter den Rädern durchrollt, ungezählte Hügel, Müdigkeit.
Ein kurzer, deftiger Anstieg nach Branne bringt die ausgebrannte Muskulatur zurück ins Bewusstsein. Die letzen 30 Kilometer verlaufen quer durch die Weinberge der premiers côtes de Bordeaux, bergauf, bergab, die glutrote Abendsonne stets im Blick. Hier und da noch ein kurzer Blick auf die Karte, aber die Gegend hier ist mir von meinen vielen Aufenthalten so vertraut, dass er nur noch zur Absicherung der Erinnerung dient. Bei Kilometer 950 etwa passieren wir Targon - ein Dorf, das ein heimeliges Gefühl in mir aufsteigen lässt; die Menschen sitzen vor dem Café, trinken ihren Apéritif. In weniger als einer halben Stunde werden wir vom Rad steigen, ein letztes Mal. Die Sonne ist am Verglühen. Mich erfasst eine ungeheure Energie, ich rase dem Ziel entgegen, Bertram hat Mühe, dranzubleiben.
Dann endlich biegen wir vor
Cardan von der Straße links ab, fahren durch die Häuserreihe, steuern
auf das Gehöft meines
langjährigen Freundes zu. Dort sitzen sie, im Garten, er, sein Bruder,
die Schwägerin, die Kinder. Haben auf uns gewartet, gratulieren uns, füllen
die Gläser, Anstoßen. Ça y est! Wir sind da. Alle Müdigkeit ist
weggeblasen. Was für ein Gefühl! Im schwindenden Tageslicht sitzen wir
beim Feuer, wo auf dem Grill der schon der Fisch schmort. Die Gespräche
gehen hierhin und dorthin, die Gedanken schweifen zurück zu den vergangenen
fünf Tagen: einmal quer durch Frankreich, von Ost nach West - wir haben
es geschafft, Wahnsinn!
Wir sitzen lange an diesem
Abend, bis weit nach Mitternacht, trinken von dem köstlichen Rosé aus
dem Weinkeller meines Freundes; der Abend bringt Gelächter, aber auch
Tränen. Schwere Zungen, schwankende Gestalten, die sich zu später Stunde
voneinander verabschieden.
Wir werden am nächsten Tag ausspannen, lange schlafen, spät aufstehen, noch eine kleine Radtour durch die Weinfelder diesseits und jenseits der Garonne machen, noch einen Abend am Feuer verbringen, weder Bordeaux noch den Atlantik sehen. Tags darauf wird es in einer quälend langen Fahrt im Auto meines Freundes zurück nach Freiburg gehen, zunächst auf den Straßen, die wir gekommen sind, dann über Autobahnen. Ein Kilometerfressen in industriellem Umfang, ohne Bezug zu Landschaft, Straße, Wetter. Bertram und ich waren Handwerker - Beinwerker. Das Gesellenstück ist uns geglückt.