Wienerwald - Radmarathon 2004 97,0 km / 1273 Hm
Redaktionell bestätigte Tour von Maxx77
Von Maxx77 –
Markus Tusch berichtet über seinen Ritt beim Wienerwald-Radmarathon 10 km südlich von Wien in diesem Frühjahr.
Ein leidensvoller Bericht.
Nachdem wir in aller Frühe unseren staatsbürgerlichen Pflichten nachgekommen waren (in Österreich standen Bundespräsidentenwahlen an), machten sich mein Freund Lumi und ich auf den Weg nach Mödling, 10 km südlich von Wien, wo um 10 Uhr der Startschuss für den Wienerwald-Marathon, Auftakt der österreichischen Radsaison 2004, fallen sollte. Das Wetter verhieß nichts Gutes, die nächtlichen Regengüssen waren am Morgen von leichten Schauern abgelöst worden, der Himmel zeigte sich in schönstem Grau, die Straßen waren noch nass, mir arschkalt und entsprechend gedämpft meine Motivation, was die ersten Sonnenstrahlen kurz vor 10 Uhr kaum ändern konnten.
Bei Lumi war’s vor dem Start zu seinem allerersten Straßenrennen eher umgekehrt, dem zweiten folgte ein dritter und ein vierter Toilettenbesuch zwei Minuten vor dem Start und mir wurde schlagartig bewusst, dass der Ausdruck „Schiss haben“ seine Wurzeln wohl im Hobbysport hat... Aber Lumi versicherte mir, dies sei bei ihm völlig normal, letzte gegenseitige Glückwünsche fürs Rennen und schon setzte sich das Feld in Bewegung.
Die Ambitionen waren im Vorfeld recht hoch, immerhin hatte ich mir über den Winter mehr als 8000 km in die Oberschenkel gefahren und vor zwei Wochen am Gardasee noch einmal konzentriert an der Form gefeilt. Der erste Wettkampf konnte also kommen. Bring ’em on!
Das Feld rollte los, auf den ersten Kilometer neutralisiert hinter der erstklassigen Motorradeskorte des Veranstalters. Natürlich waren einige Übermotivierte – wie immer – davon überzeugt, dass das Rennen gleich zu Beginn entschieden wird, weshalb sie entweder wie die Henker mitten durchs Peloton preschten oder die Gehsteige links und rechts für halsbrecherische Überholmanöver nutzten. Na ja, jedem das seine… Die Einrollphase verlief abgesehen vom üblichen Gerangel und Geschiebe ohne gröbere Zwischenfälle. Nach offizieller Startfreigabe folgte schon bald der erste von insgesamt neun Anstiegen. Jeder für sich genommen nicht weiter der Rede wert – immerhin befanden wir uns im ostösterreichischen Flachland (das mir allerdings gegen Ende des Rennens ganz und gar nicht mehr so flach erschien) – aber in Summe waren’s doch 1300 Höhenmeter verteilt auf knapp 100 Kilometern. Wie überall gilt halt auch hier: die Dosis macht das Gift. Und schon auf den ersten Hügeln gab’s gleich eine Überdosis Milchsäure für die langsam warm werdenden Muskeln. Puls bereits im Roten Bereich, Kuppe, kurze Abfahrt, durchatmen, dritter Anstieg, vierter Anstieg – und dort wurde es schon zum ersten Mal kritisch, eine kleine Lücke zur Spitzengruppe öffnete sich und es bedurfte einiger Anstrengung, um diese wieder zu schließen.
Dem starken Gegenwind sei Dank befleißigten sich die Protagonisten des Rennens in weiterer Folge vorübergehend eines etwas gemächlicheren Tempos und so blieb Zeit zum Verschnaufen, Essen, Kräfte sammeln. Auch am nächsten, nun schon etwas steileren Berg fädelte sich das mittlerweile von 250 auf rund 70 Fahrer geschrumpfte Hauptfeld zwar auf, blieb aber im Großen und Ganzen zusammen und ich brachte für meine Freunde, die mir kurz unter dem Kulminationspunkt eine gefüllte Wasserflasche reichten, sogar ein kurzes Lächeln zu Stande.
Durchfahrt durch den kleinen Ort Laaben und am steilsten Anstieg des Kurses begannen die „Chefs“ erst einmal damit, das Hauptfeld konsequent auszumisten.
Einem Ruf von hinten folgend fuhr ich brav zur Seite für einen mir seltsam bekannt scheinenden, jungen Herrn im Gerolsteiner-Trikot. Da man den anderen bekanntlich niemals zeigen darf, wie sehr man leidet, grinste ich und rief zurück: „Ich mach eh schon Platz, Schorsch (Anm.: Georg Totschnig)!“ Der Angesprochene lächelte etwas gequält und zog unwiderstehlich an mir vorbei – und in meinem Kopf begann es zu arbeiten. Das Gerolsteiner-Trikot, die Frisur, das Gesicht, ein Rennen im Osten Österreichs? Messerscharf schloss ich daraus, gerade vom rekonvaleszenten Rene Haselbacher überholt worden zu sein - dass ich von einem GS-1-Profi auch nach sechs Monaten krankheitsbedingter Pause schon am ersten Berg nur kurz das Hinterrad und dann nichts mehr gesehen hätte, und dass es für sein Anschlusstraining zweckdienlicher war, bei der Niedersachsenrundfahrt die Sprints für Danilo Hondo anzuziehen als umgeben von gemeinem Fußvolk mit einem 35er-Schnitt durch den verregneten Wienerwald zu gurken, kam mir dabei nicht in den Sinn.
So musste ich beschämt darüber schmunzeln, wohl gerade den „Arsch der Nation“ angepflaumt zu haben. (Anm.: Dieser zweifelhafte Titel findet sich auf seiner Homepage als Bildunterschrift zum Cover-Foto des österreichischen „Sportmagazins“, das „Hasi“ nach seinem Mörder-Stern auf der dritten Etappe der Tour de France 2003 zeigt, als er sich im Zielsprint mit den australischen „Fleischern“ – Zitat Jens Voigt – Robbie McEwen und Baden Cooke anlegte und bei über 60 km/h nur haarscharf an Absperrung und Querschnittslähmung vorbeisegelte - siehe http://www.haselbacher.com/bilder/cover_sportmagazin_gr.jpg)
Zumindest lenkten mich diese Gedanken kurz von den Schmerzen ab, die eine 42x23-Übersetzung auf einem 10%-igen Anstieg für üblicherweise hochkadente Fahrer mit sich bringt. Und übertönten jene lauter werdenden Stimmen, die wissen wollten, was denn eigentlich so grundverkehrt an einem Sonntagvormittag im Bett und einem Formel-I-Nachmittag auf der Couch sei.
Natürlich wurden diese Stimmen bald zum Schweigen gebracht, ich musste mich wieder auf meine Kletterqualitäten besinnen. Der Puls pendelte sich wieder ein oder beschloss besser gesagt bei 195, vorerst nicht mehr weiter zu steigen, der Tritt wurde wieder runder und ich machte kontinuierlich Plätze gut. Ein Phyrrus-Sieg, wie sich bald herausstellen sollte, denn auf der Passhöhe war ich erst einmal allein und während sich andere auf der Abfahrt zwischenzeitlich ausrasten durften, musste ich auf Hochtouren arbeiten um an die kleine Gruppe vor mir heranzukommen. Oder es zumindest vehement versuchen. Nach fünf Minuten musste ich mir schweren Herzens die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens eingestehen, ich nahm die Beine hoch und beschloss, auf die nächste Gruppe hinter mir zu warten – bestückt mit vier Fahrern, die ich gerade zuvor am Berg in ihrem Elend stehen gelassen hatte. Entsprechend gut war die Stimmung, „Zuerst gibst’ Gas – und jetzt lässt dich von uns ziehen“ war noch das Netteste, was ich mir anhören durfte. Was sollte ich machen? Ich brauchte nun ein paar Minuten, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Das hielt die Burschen aber nicht davon ab, weiter gehörig aufs Tempo zu drücken in der irrigen Meinung, die Gruppe vor uns doch noch einholen zu können.
Vom ambitioniertesten - und offensichtlich auch übelgelauntesten - meiner Mitfahrer ließ ich mir dann auch erstaunt erklären, wie man zu viert einen belgischen Kreisel fährt, nachdem wir einen weiteren Mann am vorletzten Anstieg verloren hatten… müßig zu erwähnen, dass die vorige Gruppe auf Nimmerwiedersehen davongezogen war.
Nach dem neunten und letzten Hügel, den ich ohne größere Probleme – sprich: ohne größere Probleme als die anderen drei – nehmen konnte, sollte der ernüchterndste Moment des bisherigen Rennverlaufs folgen. Meine neu gewonnenen Freunde demonstrierten mir eindrucksvoll die schrittweise Umsetzung eines Kapitels aus dem Buch „Hundert miese Tricks im Radrennsport“, namentlich die Anleitung „Wie kille ich eine Bergziege“. Es ist im Prinzip ganz einfach: Man muss nur dafür sorgen, genau in jenem Moment wieder aufs Tempo zu drücken, wenn sich das Opfer – in dem Fall also ich – nach erfolgter Führungsarbeit wieder im Windschatten einordnen will. Mit schwindenden Kräften war es mir schließlich unmöglich, an der Gruppe dranzubleiben und ich musste die letzten Kilometer allein absolvieren. Abgehängt! Im Flachen!! Schande!!!
Nun ja, ich dachte an den weisen, vermutlich fernöstlichen Rat: Lächle und sei froh – es könnte schlimmer kommen. Also lächelte ich, war froh – und es kam schlimmer…
Noch fünf Kilometer bis ins Ziel, kurzer Blick zur Absicherung nach hinten, niemand hinter mir, außer ein einzelnes Motorrad. Also nach bestem Wissen und Gewissen weiterstrampeln – und dabei die Drei vor mir verfluchen, die nämlich mittlerweile ebenfalls die Beine hochgenommen hatten… Nochmals kurz umgedreht, gut, noch immer niemand hinter mir, außer ein einzelnes Motorrad. Plötzlich schrillten die Alarmglocken – mir wurde bewusst, dass der Motorradpilot vermutlich nicht als Eskorte für meinen Zieleinlauf abgestellt sondern vielmehr die Vorhut für eine weitere Verfolgergruppe war! Und richtig, beim nächsten Blick zurück erkannte ich schon sechs, sieben Mann die im Höllentempo auf mich zurollten. Nein, nein, nochmals nein! Diese Schmach wollte ich mir wirklich nicht antun lassen! Also die Hände an den Untergriff, Kopf zwischen die Schultern klemmen, den laktatschwangeren Protest der Oberschenkel beharrlich ignorieren und treten, treten, treten. Meine Gedanken schweiften wieder ab, zurück an eine der bittersten Stunden, die ich als Radsport-Fan vor dem Fernseher erleben musste:
Tour de Suisse 2001, Königsetappe. Auf der Anfahrt zum Dach der Tour, den 2478m hohen Nufenenpass hatte sich mein Radsporthero Georg Totschnig vom Feld gelöst und war mittlerweile noch 20 Kilometer vom Ziel in Sion entfernt. Während er ganz auf sich allein gestellt verbissen gegen den gefürchteten Talaufwind im Wallis ankämpfte, hetzte dahinter der „Imperator“ seine Meute auf ihn. Lance Armstrong, Träger des Gold-Trikots, war offensichtlich nicht gewillt, dem Zillertaler diesen Triumph zu gönnen und so bolzten die US-Postals auf Befehl ihres Chefs Tempo für das Hauptfeld. Totschnig kämpfte und würgte. Wohl nicht nur seine Fans zitterten vor dem TV mit ihm. Die Meute kommt näher. Totschnig holt das Letzte aus sich heraus, er tritt mit aller Kraft, sein Gesicht schmerzverzerrt im Wind. Einfahrt nach Sion. Das Hauptfeld sieht den Ausreißer bereits vor sich. Totschnig biegt auf die Zielgerade. Noch 200 Meter. Noch 100 Meter.
Und in diesem Moment fliegen die Sprinter links und rechts an ihm vorbei, die Flucht ist nach 40 schmerzhaften Kilometer Solofahrt wenige Sekunden vor der Zieldurchfahrt beendet und ich bin der festen Meinung, Lance Armstrong inmitten des Pelotons breit grinsen zu sehen. Er sank an diesem Tag in meiner Hochachtung auf ein Niveau, das heutzutage nur mehr gewisse andere Texaner erreichen. Nun, Armstrong kann wohl bis heute gut mit meiner Verachtung leben. Er gewann wenige Tage darauf die Gesamtwertung der Tour de Suisse und im selben Jahr bekanntlich auch die Tour de France. Georg Totschnig’s lapidarer Kommentar dazu: „Wenn der Armstrong beschließt, dass er mir nachfahren muss, beweist das doch eigentlich nur, dass ich kein so schlechter Radfahrer bin, oder?“ Die wahre Größe zeigt sich bekanntlich in der Niederlage.
Also werd’ ich meinen Unmut darüber zügeln, dass ich in Mödling schließlich auch noch auf der Zielgerade „geschnupft“ wurde, weitere Plätze verlor und schließlich als 30. meiner Altersklasse mit 6:40 Minuten Rückstand auf den Sieger, Ex-Mountainbike-Staatsmeister Kurt Pospichal, durchs Ziel ging.
Des einen Leid, des anderen Freud: Lumi beendete das erste Straßenrennen seiner Karriere hochzufrieden in einer weiteren Verfolgergruppe, 16 Minuten hinter dem Sieger.
Ein leidensvoller Bericht.
Nachdem wir in aller Frühe unseren staatsbürgerlichen Pflichten nachgekommen waren (in Österreich standen Bundespräsidentenwahlen an), machten sich mein Freund Lumi und ich auf den Weg nach Mödling, 10 km südlich von Wien, wo um 10 Uhr der Startschuss für den Wienerwald-Marathon, Auftakt der österreichischen Radsaison 2004, fallen sollte. Das Wetter verhieß nichts Gutes, die nächtlichen Regengüssen waren am Morgen von leichten Schauern abgelöst worden, der Himmel zeigte sich in schönstem Grau, die Straßen waren noch nass, mir arschkalt und entsprechend gedämpft meine Motivation, was die ersten Sonnenstrahlen kurz vor 10 Uhr kaum ändern konnten.
Bei Lumi war’s vor dem Start zu seinem allerersten Straßenrennen eher umgekehrt, dem zweiten folgte ein dritter und ein vierter Toilettenbesuch zwei Minuten vor dem Start und mir wurde schlagartig bewusst, dass der Ausdruck „Schiss haben“ seine Wurzeln wohl im Hobbysport hat... Aber Lumi versicherte mir, dies sei bei ihm völlig normal, letzte gegenseitige Glückwünsche fürs Rennen und schon setzte sich das Feld in Bewegung.
Die Ambitionen waren im Vorfeld recht hoch, immerhin hatte ich mir über den Winter mehr als 8000 km in die Oberschenkel gefahren und vor zwei Wochen am Gardasee noch einmal konzentriert an der Form gefeilt. Der erste Wettkampf konnte also kommen. Bring ’em on!
Das Feld rollte los, auf den ersten Kilometer neutralisiert hinter der erstklassigen Motorradeskorte des Veranstalters. Natürlich waren einige Übermotivierte – wie immer – davon überzeugt, dass das Rennen gleich zu Beginn entschieden wird, weshalb sie entweder wie die Henker mitten durchs Peloton preschten oder die Gehsteige links und rechts für halsbrecherische Überholmanöver nutzten. Na ja, jedem das seine… Die Einrollphase verlief abgesehen vom üblichen Gerangel und Geschiebe ohne gröbere Zwischenfälle. Nach offizieller Startfreigabe folgte schon bald der erste von insgesamt neun Anstiegen. Jeder für sich genommen nicht weiter der Rede wert – immerhin befanden wir uns im ostösterreichischen Flachland (das mir allerdings gegen Ende des Rennens ganz und gar nicht mehr so flach erschien) – aber in Summe waren’s doch 1300 Höhenmeter verteilt auf knapp 100 Kilometern. Wie überall gilt halt auch hier: die Dosis macht das Gift. Und schon auf den ersten Hügeln gab’s gleich eine Überdosis Milchsäure für die langsam warm werdenden Muskeln. Puls bereits im Roten Bereich, Kuppe, kurze Abfahrt, durchatmen, dritter Anstieg, vierter Anstieg – und dort wurde es schon zum ersten Mal kritisch, eine kleine Lücke zur Spitzengruppe öffnete sich und es bedurfte einiger Anstrengung, um diese wieder zu schließen.
Dem starken Gegenwind sei Dank befleißigten sich die Protagonisten des Rennens in weiterer Folge vorübergehend eines etwas gemächlicheren Tempos und so blieb Zeit zum Verschnaufen, Essen, Kräfte sammeln. Auch am nächsten, nun schon etwas steileren Berg fädelte sich das mittlerweile von 250 auf rund 70 Fahrer geschrumpfte Hauptfeld zwar auf, blieb aber im Großen und Ganzen zusammen und ich brachte für meine Freunde, die mir kurz unter dem Kulminationspunkt eine gefüllte Wasserflasche reichten, sogar ein kurzes Lächeln zu Stande.
Durchfahrt durch den kleinen Ort Laaben und am steilsten Anstieg des Kurses begannen die „Chefs“ erst einmal damit, das Hauptfeld konsequent auszumisten.
Einem Ruf von hinten folgend fuhr ich brav zur Seite für einen mir seltsam bekannt scheinenden, jungen Herrn im Gerolsteiner-Trikot. Da man den anderen bekanntlich niemals zeigen darf, wie sehr man leidet, grinste ich und rief zurück: „Ich mach eh schon Platz, Schorsch (Anm.: Georg Totschnig)!“ Der Angesprochene lächelte etwas gequält und zog unwiderstehlich an mir vorbei – und in meinem Kopf begann es zu arbeiten. Das Gerolsteiner-Trikot, die Frisur, das Gesicht, ein Rennen im Osten Österreichs? Messerscharf schloss ich daraus, gerade vom rekonvaleszenten Rene Haselbacher überholt worden zu sein - dass ich von einem GS-1-Profi auch nach sechs Monaten krankheitsbedingter Pause schon am ersten Berg nur kurz das Hinterrad und dann nichts mehr gesehen hätte, und dass es für sein Anschlusstraining zweckdienlicher war, bei der Niedersachsenrundfahrt die Sprints für Danilo Hondo anzuziehen als umgeben von gemeinem Fußvolk mit einem 35er-Schnitt durch den verregneten Wienerwald zu gurken, kam mir dabei nicht in den Sinn.
So musste ich beschämt darüber schmunzeln, wohl gerade den „Arsch der Nation“ angepflaumt zu haben. (Anm.: Dieser zweifelhafte Titel findet sich auf seiner Homepage als Bildunterschrift zum Cover-Foto des österreichischen „Sportmagazins“, das „Hasi“ nach seinem Mörder-Stern auf der dritten Etappe der Tour de France 2003 zeigt, als er sich im Zielsprint mit den australischen „Fleischern“ – Zitat Jens Voigt – Robbie McEwen und Baden Cooke anlegte und bei über 60 km/h nur haarscharf an Absperrung und Querschnittslähmung vorbeisegelte - siehe http://www.haselbacher.com/bilder/cover_sportmagazin_gr.jpg)
Zumindest lenkten mich diese Gedanken kurz von den Schmerzen ab, die eine 42x23-Übersetzung auf einem 10%-igen Anstieg für üblicherweise hochkadente Fahrer mit sich bringt. Und übertönten jene lauter werdenden Stimmen, die wissen wollten, was denn eigentlich so grundverkehrt an einem Sonntagvormittag im Bett und einem Formel-I-Nachmittag auf der Couch sei.
Natürlich wurden diese Stimmen bald zum Schweigen gebracht, ich musste mich wieder auf meine Kletterqualitäten besinnen. Der Puls pendelte sich wieder ein oder beschloss besser gesagt bei 195, vorerst nicht mehr weiter zu steigen, der Tritt wurde wieder runder und ich machte kontinuierlich Plätze gut. Ein Phyrrus-Sieg, wie sich bald herausstellen sollte, denn auf der Passhöhe war ich erst einmal allein und während sich andere auf der Abfahrt zwischenzeitlich ausrasten durften, musste ich auf Hochtouren arbeiten um an die kleine Gruppe vor mir heranzukommen. Oder es zumindest vehement versuchen. Nach fünf Minuten musste ich mir schweren Herzens die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens eingestehen, ich nahm die Beine hoch und beschloss, auf die nächste Gruppe hinter mir zu warten – bestückt mit vier Fahrern, die ich gerade zuvor am Berg in ihrem Elend stehen gelassen hatte. Entsprechend gut war die Stimmung, „Zuerst gibst’ Gas – und jetzt lässt dich von uns ziehen“ war noch das Netteste, was ich mir anhören durfte. Was sollte ich machen? Ich brauchte nun ein paar Minuten, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Das hielt die Burschen aber nicht davon ab, weiter gehörig aufs Tempo zu drücken in der irrigen Meinung, die Gruppe vor uns doch noch einholen zu können.
Vom ambitioniertesten - und offensichtlich auch übelgelauntesten - meiner Mitfahrer ließ ich mir dann auch erstaunt erklären, wie man zu viert einen belgischen Kreisel fährt, nachdem wir einen weiteren Mann am vorletzten Anstieg verloren hatten… müßig zu erwähnen, dass die vorige Gruppe auf Nimmerwiedersehen davongezogen war.
Nach dem neunten und letzten Hügel, den ich ohne größere Probleme – sprich: ohne größere Probleme als die anderen drei – nehmen konnte, sollte der ernüchterndste Moment des bisherigen Rennverlaufs folgen. Meine neu gewonnenen Freunde demonstrierten mir eindrucksvoll die schrittweise Umsetzung eines Kapitels aus dem Buch „Hundert miese Tricks im Radrennsport“, namentlich die Anleitung „Wie kille ich eine Bergziege“. Es ist im Prinzip ganz einfach: Man muss nur dafür sorgen, genau in jenem Moment wieder aufs Tempo zu drücken, wenn sich das Opfer – in dem Fall also ich – nach erfolgter Führungsarbeit wieder im Windschatten einordnen will. Mit schwindenden Kräften war es mir schließlich unmöglich, an der Gruppe dranzubleiben und ich musste die letzten Kilometer allein absolvieren. Abgehängt! Im Flachen!! Schande!!!
Nun ja, ich dachte an den weisen, vermutlich fernöstlichen Rat: Lächle und sei froh – es könnte schlimmer kommen. Also lächelte ich, war froh – und es kam schlimmer…
Noch fünf Kilometer bis ins Ziel, kurzer Blick zur Absicherung nach hinten, niemand hinter mir, außer ein einzelnes Motorrad. Also nach bestem Wissen und Gewissen weiterstrampeln – und dabei die Drei vor mir verfluchen, die nämlich mittlerweile ebenfalls die Beine hochgenommen hatten… Nochmals kurz umgedreht, gut, noch immer niemand hinter mir, außer ein einzelnes Motorrad. Plötzlich schrillten die Alarmglocken – mir wurde bewusst, dass der Motorradpilot vermutlich nicht als Eskorte für meinen Zieleinlauf abgestellt sondern vielmehr die Vorhut für eine weitere Verfolgergruppe war! Und richtig, beim nächsten Blick zurück erkannte ich schon sechs, sieben Mann die im Höllentempo auf mich zurollten. Nein, nein, nochmals nein! Diese Schmach wollte ich mir wirklich nicht antun lassen! Also die Hände an den Untergriff, Kopf zwischen die Schultern klemmen, den laktatschwangeren Protest der Oberschenkel beharrlich ignorieren und treten, treten, treten. Meine Gedanken schweiften wieder ab, zurück an eine der bittersten Stunden, die ich als Radsport-Fan vor dem Fernseher erleben musste:
Tour de Suisse 2001, Königsetappe. Auf der Anfahrt zum Dach der Tour, den 2478m hohen Nufenenpass hatte sich mein Radsporthero Georg Totschnig vom Feld gelöst und war mittlerweile noch 20 Kilometer vom Ziel in Sion entfernt. Während er ganz auf sich allein gestellt verbissen gegen den gefürchteten Talaufwind im Wallis ankämpfte, hetzte dahinter der „Imperator“ seine Meute auf ihn. Lance Armstrong, Träger des Gold-Trikots, war offensichtlich nicht gewillt, dem Zillertaler diesen Triumph zu gönnen und so bolzten die US-Postals auf Befehl ihres Chefs Tempo für das Hauptfeld. Totschnig kämpfte und würgte. Wohl nicht nur seine Fans zitterten vor dem TV mit ihm. Die Meute kommt näher. Totschnig holt das Letzte aus sich heraus, er tritt mit aller Kraft, sein Gesicht schmerzverzerrt im Wind. Einfahrt nach Sion. Das Hauptfeld sieht den Ausreißer bereits vor sich. Totschnig biegt auf die Zielgerade. Noch 200 Meter. Noch 100 Meter.
Und in diesem Moment fliegen die Sprinter links und rechts an ihm vorbei, die Flucht ist nach 40 schmerzhaften Kilometer Solofahrt wenige Sekunden vor der Zieldurchfahrt beendet und ich bin der festen Meinung, Lance Armstrong inmitten des Pelotons breit grinsen zu sehen. Er sank an diesem Tag in meiner Hochachtung auf ein Niveau, das heutzutage nur mehr gewisse andere Texaner erreichen. Nun, Armstrong kann wohl bis heute gut mit meiner Verachtung leben. Er gewann wenige Tage darauf die Gesamtwertung der Tour de Suisse und im selben Jahr bekanntlich auch die Tour de France. Georg Totschnig’s lapidarer Kommentar dazu: „Wenn der Armstrong beschließt, dass er mir nachfahren muss, beweist das doch eigentlich nur, dass ich kein so schlechter Radfahrer bin, oder?“ Die wahre Größe zeigt sich bekanntlich in der Niederlage.
Also werd’ ich meinen Unmut darüber zügeln, dass ich in Mödling schließlich auch noch auf der Zielgerade „geschnupft“ wurde, weitere Plätze verlor und schließlich als 30. meiner Altersklasse mit 6:40 Minuten Rückstand auf den Sieger, Ex-Mountainbike-Staatsmeister Kurt Pospichal, durchs Ziel ging.
Des einen Leid, des anderen Freud: Lumi beendete das erste Straßenrennen seiner Karriere hochzufrieden in einer weiteren Verfolgergruppe, 16 Minuten hinter dem Sieger.