Von Jan – Seit 2014 geht mir die Idee nicht aus dem Kopf: einmal von Berlin aus mit dem Rennrad nonstop auf den Gipfel der Schneekoppe!
321 Km – 300 davon flach bis nach Hirschberg, und dann hoch zur Schneekoppe, die letzten 9,3 km über übelstes Kopfsteinpflaster bei Steigungsspitzen von 20 %. Auf verbotener Strecke, denn die Schneekoppe liegt im Nationalpark Riesengebirge! Und somit ist nicht einmal klar, ob ich fahrend hoch komme.
Die Idee wuchs 2014 auf meinem ersten Besuch im Riesengebirge (unten Vrbatova Bouda, darunter Tobi 2014 am Spindlerpass), mit Alex, Robert und Tobi im Zuge der 1. quäldich-Riesengebirgs-Rundfahrt. Das Riesengebirge zog mich in seinen Bann, die Atmosphäre dort ist mystisch, die Anwesenheit des Herrn der Berge spürbar – und verständlich, warum unsere Vorfahren die Wohnstätte desselben im Riesengebirge, genauer auf der Schneekoppe wähnten. Und genau dorthin führte unsere Reise nicht, weil die Auffahrt verboten ist und überhaupt mit dem Rennrad wegen des üblen Kopfsteinpflasters nicht machbar.
Es gingen die Jahre ins Land. 2016 fuhren wir Berlin-Wien über Görlitz und den Spindlerpass durch das Riesengebirge. Die Schneekoppe grüßte nur aus der Ferne, aber mit der Vorbereitung der Tour stand die Strecke auf die Schneekoppe.
Dann kam Corona. Irgendwie musste es in diesem Jahr klappen, denn in den Vorjahren war ich stets zu stark auf quäldich-Touren eingeplant. Im Gespräch mit Robert, der kurz vorher über Görlitz ins Riesengebirge gefahren war, wurde die Strecke an den Fuß der Schneekoppe optimiert, und Robert gab mir auch den wichtigen Tipp, wie ich am besten von der Schneekoppe runter käme, ohne auf die letzte Seilbahn angewiesen zu sein, die schon um 17 Uhr geht.
Fehlte nur noch ein Mitstreiter. Jemand, der auf so einen Mist Lust hat. Jemand, der ein hohes Tempo in der Ebene nicht nur mitgehen, sondern auch führen kann, dem die Steigung zur Schneekoppe nicht das Genick bricht, der genug Radbeherrschung für das Kopfsteinpflaster mitbringt, und der das ganze Wagnis auf sich nimmt, auch wenn am Ende der Ranger dem Unterfangen ein schmähliches Ende bereiten könnte.
Am 4. August meldet sich Thomas, unser Co-Guide der gerade hinter uns liegenden Rätischen Alpen: «Ich bin ab Donnerstag in Brandenburg. Falls ihr eine Rennrad-Ausfahrt machen wollt, dann sag Bescheid.»
Wollten wir. Heraus kam eine schöne Runde von und nach Jüterbog über Wittenberg, wo Luthers Thesen noch angeschlagen sind.
Thomas war Feuer und Flamme. Am Montag, den 17.August 2020 stehen wir um 6.11 Uhr abfahrbereit vor meiner Wohnung und machen uns auf den 2016 erprobten Weg nach Görlitz. Erster Halt: Calau bei Km 111. Zweiter Halt: der Bäcker in Kreba, der um 13 Uhr zumacht, bei Km 190. Das setzt uns ordentlich unter Zugzwang, und bei angenehmen Temperaturen und aufkommender Sonne legen wir einen 32er-Schnitt vor. Jeder nur einen Kilometer im Wind, Windwechsel durch Vorbeifahren, was nur zu zweit funktioniert. Läuft!
In Spremberg sind unsere Flaschen leer. Wir springen ins örtliche Krankenhaus, natürlich maskenbewehrt, und werden aufs freundlichste empfangen und versorgt. Dann die kilometerlange Passage an den Braunkohletagebauen der Lausitz vorbei, mit regelmäßigen Rütteleinlagen der Kopfsteinpflaster-Brücken, über die sonst die Panzer aus dem Truppenübungsplatz zur Rechten rollen.
Den Bäcker in Kreba erreichen wir 10 Minuten vor eins. Wir sind euphorisiert, kaum angestrengt. Und machen eine ausgiebige Pause.
Nächster Halt: Bushaltestelle, denn die schon länger vor uns drohende Regenwolke entlädt sich aller anderslautender Vorhersagen der Reiseleitung genau über uns. 15 Minuten Zwangspause.
Nächster Halt Görlitz, bei Km 225. Etwas zäher Halt beim Dorfbäcker. Hinter der Neiße liegt Polen! Die Strecke, von Robert kurz zuvor gescoutet, ist neu asphaltiert. Es ist wunderschön hier!
Zwei reizende Dorfdamen zeigen uns die Schneekoppe am Horizont. Ein genuscheltes Sniezka überwindet die Sprachbarriere!
Aber waren es zu viele Pausen? Denn beim Dino in Stara Kamienica ist es schon 18.30 Uhr, und die härtesten 37 km liegen noch vor uns. Eigentlich wollte ich um 19.30 Uhr spätestens oben sein, das wird nichts.
Magische Fahrt auf die Schneekoppe zu durch die Allee in Hirschberg. Ich rufe den Herrn der Berge an und bitte ihn uns gnädig zu empfangen!
Jetzt geht es endlich hoch. Hinter Podgórzyn verlassen wir die bekannte Strecke Richtung Spindlerpass und fahren an der Brücke über die Podgórna links ab auf neues Territorium. Der Wald ist dicht, die Steigung menschlich, die Stimmung gut. Die Spannung steigt. Wird uns die Schneekoppe abwerfen? Werden wir gar schmählich von den Rangern vom Rad geholt?
An der Holzkirche Wang befahren wir das Kopfsteinpflaster. Gleich geht es saftig bergan, aber das Kopfsteinpflaster ist von der feinsten Sorte. Bleibt das so?
Nein. Es bleibt nicht so. Mit dem Eintritt in den Wald steigt der Steigungsmesser auf 20 %, die Pflastersteine sind groß, die Fugen riesig. Die Bergziege Thomas zieht unwiderstehlich davon. Hier ist jeder sich selbst der nächste.
Alle anderen, die hier unterwegs sind, bewegen sich nach unten. Es ist spät! Schon 20 nach 7! Sonnenuntergang ist um 20:13, und es liegen noch 830 Höhenmeter auf diesem katastrophalen Untergrund vor uns.
Die Steigung ist unmenschlich. Glücklicherweise erinnere ich mich, dass das Profil uns im weiteren Verlauf Linderung verspricht. Sogar eine kurze Abfahrt gibt es zur Schlesierbaude. Und es ist wunderschön. Bei diesen Steigungswerten kann ich unmöglich im Fahren Bilder machen, und ich mache den Fehler, abzusteigen. Ich brauche drei Versuche, um wieder aufs Rad zu kommen. An der Akademicka-Baude geht es erstmals raus aus dem Wald, und die schon in der Dämmerung liegende Niederschlesische Tiefebene liegt unter mir in voller Pracht. Aber immer noch 350 Höhenmeter, plus Zwischenabfahrt! Die Oberarme beginnen vom immerwährenden Reißen am Lenker zu schmerzen. Immerhin musste ich noch nicht absteigen. Diagonal zu den Pflastersteinen kann ich meist ganz gut fahren.
Endlich lässt die Steigung nach. Ich überfahre die kleine Kuppe und da liegt er vor mir, der runde Gipfel der Schneekoppe, unter mir die Schlesierbaude. Nur noch eine lange Gerade und die abschließende Gipfelschleife hoch zum Ziel! Ich bin den Tränen nahe, so sehr bin ich ergriffen von der Erschöpfung und der Schönheit der Natur.
Im Schlussanstieg wartet Thomas auf mich. Der Jubiläumsweg, der ab hier zur Schneekoppe führt, ist deutlich neuer, aber aus dem gleichen rohen Stein gefertigt. In der langen Geraden frage ich mich, warum ich nicht euphorisch werde, schließlich ist es doch jetzt geschafft! Doch dann dreht die Schlusskurve auf tschechisches Staatsgebiet, die Rampe klappt in den Himmel, der Untergrund wird unübersichtlich, ich finde die Linie nicht und muss aus dem Pedal. Zwei Minuten brauche ich, um meinen Puls so weit abzusenken, dass ich an ein Losfahren denken kann. Bei 20 % auf diesem Kopfsteinpflaster ein ungnädiges Unterfangen. Aber auf keinen Fall möchte ich den Gipfel schiebend erreichen. Ich klemme mein Hinterrad vor einem besonders hohen Pflasterversatz fest und schwinge mich in den Sattel. Es klappt. Ich erreiche die unteren Gipfelbauten. Nur noch einmal dem Anstieg nach links folgen, und endlich sind wir oben, mit dem letzten Streiflicht um 20.45!
Von Jan – Werbetext auf dem im Vorfeld an Thomas verschickten Roadbook: Auf direktem Weg verlassen wir Berlin. Im weiteren Verlauf müssen wir einmal auf den Radweg ausweichen, dann haben wir den schönen Teil Brandenburgs erreicht. Kiefernwälder und Agrarflächen dominieren unseren Weg. Am Niederen Fläming entlang erreichen wir das Sorbische Siedlungsgebiet mit den zweisprachigen Ortsschildern.
Hinter Spremberg überqueren wir die Spree (süß!) und durchqueren die Oberlausitzer Teichlandschaft. Es folgen 23 km auf der B115. Das ist sicher nicht der schönste Streckenabschnitt, aber der kürzeste Weg nach Görlitz. Dann durch Polen ins Riesengebirge und auf übelstem Kopfsteinpflaster (!!!) auf die Schneekoppe!
Von Jan – Zu Fuß nur im Lichtschein unserer Handys hinunter zur Mittelstation der aus Pec pod Snezkou hochkommenden Seilbahn (unbedingt Turnschuhe mit hochbringen, dieser Weg ist nichts für Radschuhe!). Von da aus auf Asphalt runter nach Velka Upa (üble Querrinnen, nur im Schein unserer Handyfunzeln), wo uns unser Wirt noch um 22 Uhr mit Schnitzel und Böhmischem Bier empfängt!