Der Kampf gegen die Uhr 238,5 km / 7367 Hm
Zentralschweiz, Lepontinische Alpen, Urner Alpen, Alpen, Valle Levantina, Berner Oberland, Berner Alpen, Surselva, Glarner Alpen, Wallis, Uri, Tessin, Bern, Graubünden
Redaktionell bestätigte Tour von Manfred
Von Manfred –
An einem Tag mit dem Fahrrad über 7 Alpenpässe - eine wahnsinnige Fahrt von Manfred Schütte am 28.7.1986 von Ulrichen über Nufenenpass, Gotthardpass, Furkapass von Andermatt(Umkehr), Oberalppass von Andermatt(Umkehr), Sustenpass, Grimselpass, Furkapass von Gletsch (Umkehr), Ulrichen. Wer kann das toppen?
Das Ereignis, worüber ich hier berichte, kann ich nicht zu Nachahmung empfehlen und es soll auch kein leuchtendes Beispiel für andere sein. Es ist die Verwirklichung eines ganz persönliches Zieles, vielleicht entstanden aus den Windungen eines kranken Hirns, auf jeden Fall aber ein tolles Erlebnis, welches ich nie vergessen werde. Ein starker innerer Zwang hat mich zu einer Radtour über sieben Alpenpässe getrieben, die ich 1986, in der Blüte meines Lebens, innerhalb eines Tages unternommen habe. Die Gedanken, die ich während dieser Fahrt hatte, können sicher von dem einen oder anderen nachvollzogen werden, da bin ich mir fast sicher. Auf weniger Verständnis wird sicher die pedantische Planung stoßen, durch die es zu einem Kampf gegen die Uhr geworden ist. Aber gerade das hat für mich den besonderen Reiz ausgemacht.
1983 fuhr ich so zum Spaß zusammen mit meinem Bruder von Prad aus aufs Stilfser Joch, mein erster Alpenpass. Ich kann mich zwar nicht mehr so richtig daran erinnern, da oben besondere Glücksgefühle gehabt zu haben, aber irgendwie war ich danach vom Pässefieber gepackt. 1985 wagte ich erstmals, mehr als einen Pass am Tag zu fahren. Die 5-Pässe-Runde Ulrichen-Nufenen-Gotthard-Susten-Grimsel-Furka-Ulrichen empfand ich als das Höchste und da mich niemals ein anderer Radfahrer überholt hatte, hielt ich mich für einen sehr guten Bergfahrer (das war nur ein Zufall, wie ich später leider feststellen musste). Doch für 1986 hatte ich mir etwas Besonderes vorgenommen. Ich wollte meine Grenzen kennen lernen und eine möglichst lange Tagestour mit möglichst vielen Höhenmetern unternehmen, ohne dabei in die Dunkelheit zu geraten.
Meine Motivation kam vom Langstreckenlauf, den ich schon seit Anfang der 80er Jahre sehr intensiv betrieb. Damals zählten immer nur neue Bestzeiten bis zur Marathondistanz und auch im Training stand die benötigte Zeit stets im Vordergrund. Ich bin damals jahrelang ohne einen einzigen Tag Pause gelaufen, zeitweise 2 oder 3 mal am Tag. Radtraining habe ich praktisch nicht gemacht, lediglich die Alpentouren im Urlaub.
Die Strecke sollte folgendermaßen aussehen: Ulrichen-Nufenenpass-Airolo-St. Gotthard-Hospental-Furkapass-Andermatt-Oberalppass-Wassen-Sustenpass-Innertkirchen-Grimselpass-Gletsch-Furkapass-Ulrichen. Ganz perfekt war mir diese Strecke jedoch nicht, da die östliche Passrampe des Oberalp fehlt, aber mit dem zusätzlichen Abstecher von 42 km hinunter nach Disentis und wieder zurück zur Passhöhe konnte ich mich einfach nicht anfreunden, das erschien mir des guten zu viel. Also waren es insgesamt nur 7 Pässe mit 240 km und knapp 7200 Höhenmeter. Für dieses Jahr hatte ich zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder den Jahresurlaub im Wallis geplant. Von unserem Quartier in Fiesch ist er nur eine knappe halbe Stunde bis zum Ausgangspunkt in Ulrichen.
War so etwas überhaupt an einem Tag zu schaffen? Nach wochenlangen Überlegungen, Kartenstudium und allerlei Berechnungen kam ich schließlich zu dem Resultat, das ich dafür 13 Stunden und 27 Minuten brauchen würde, bei einer Fahrzeit von 12 Stunden und 2 Minuten und insgesamt 1 Stunde 25 Minuten Pause. Ich wollte um 7:00 Uhr in Ulrichen starten und abends kurz vor Einbruch der Dunkelheit um 20:27 Uhr ankommen. Soweit die Theorie. Mein Ziel war, möglichst nahe an dem vorgegebenen Zeitplan zu bleiben und die geplante Gesamtzeit nicht zu überschreiten, da ich sonst in die Dunkelheit geraten würde. Ebenfalls sollte die Abweichung an jedem einzelnen Pass möglichst gering sein. Ich wollte mich also auf einen Kampf gegen die Uhr einlassen, 1000 mal im Wettkampf und Training exerziert. Das Computerprogramm, welches ich damals benutzt habe, existiert heute noch. Es wurde in der Zwischenzeit von Johannes Schramm auf den neuesten Stand gebracht und um ein paar nette kleine Features erweitert (Quälpunkte, Sonnenauf- und Untergang, usw.).
Hochmotiviert gingen wir an diesem denkwürdigen 29. Juli 1986 an den Start. Mein Bruder unternahm die kleinere Tour über Ulrichen, Furka, Susten, Grimsel, Fiesch, eine beachtliche Leistung wie ich finde, da er damals weder Rad- noch Lauftraining absolvierte. Mein Vater entschloss sich kurzfristig, uns zu begleiten.
Hier nun meine Erinnerungen, die ich heute, mehr als 16 Jahre später, aufgeschrieben habe, sie haben sich fest in meine Gehirnrinde eingebrannt. Lediglich die technischen Daten dieser Tour habe ich am 30. Juli 1986, einen Tag danach, exakt in meinem Trainingsbuch dokumentiert.
Dienstag, 29.07.1986
Auch das noch. Mein Vater bringt meine ganze Planung durcheinander. Jetzt will er doch Begleitfahrzeug spielen. Wenn er mir das schon gestern Abend gesagt hätte, wären wir eher aufgestanden. Wegen ihm kommen wir nicht rechtzeitig weg, Start pünktlich um 7 Uhr kann ich vergessen. Na egal, vielleicht ist eine Begleitung nicht schlecht (ein Trugschluss, wie sich erst viel später am Sustenpass herausstellte) und auf 15 Minuten soll es nicht mehr ankommen.
Auf der Fahrt von Fiesch nach Ulrichen rinnen die Minuten dahin. Schnell die Räder aus dem Auto gepackt, montiert, Wasserflaschen aufgefüllt, Luftdruck kontrolliert, ein letztes Foto und ab geht?s. An der Abzweigung zum Nufenenpass starte ich die Uhr, wir haben exakt 7:13 Uhr und liegen schon 13 Minuten hinter Plan. Der erste Kilometer ist noch flach, von der Furka-Oberalp-Bahn ist weit und breit nichts zu sehen und ich kann die Bahnlinie ungehindert passieren. Das wär?s noch gewesen, denke ich. Mit Schwung nehme ich die erste Serpentinengruppe. Irgendwie merke ich die Steigung nicht. Ich strenge mich nicht an. Bin ich gedopt? Ach was, ich bin topp drauf heute und alles wird bestens. Kein Auto stört mich um die Zeit. Die Kilometer fliegen dahin und ich merke nicht die steilen Rampen Richtung Hosand-Brücke und Ladstafel. Im Gegenteil, mein Körper läuft perfekt, wie ein Motor und die Kette schnurrt wie ein Kätzchen. Die Beine schwingen wie Pleuel auf und ab, dicht am Oberrohr, ohne die geringste Energie zu vergeuden und ich habe das Gefühl, ewig so weiterfahren zu können. Jetzt noch die Gruppe von 10 Serpentinen und ich bin oben. Einfach so, als wenn nicht gewesen wäre. Die berechnete Zeit von 1:10:00 unterbiete ich mit 1:04:41 locker.
Mein Vater hält diesen Moment auf Zelluloid fest. Verdammt. Vielleicht doch zu schnell für den Anfang. Egal, dann hab ich eben etwas Polster für eine eventuelle Schwächeperiode. Schnell die benötigte Zeit und den Kilometerstand auf meine Planungsunterlage in der Lenkertasche notiert und die Windjacke übergeworfen. 3 Minuten hat das gedauert. Nicht schlecht. Ein flüchtiger Blick zurück zum Restaurant mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund muss sein. Tolle Passhöhe, eine meiner liebsten, denke ich, aber ich habe nur 35 Minuten Zeit bis Airolo. Also volle Kanne runter. Gut, dass ich auf dieser Seite abfahre. Nicht besonders attraktiv zum Hochfahren. Lange Geraden im Val Bedretto und nur im oberen Teil ab All'Acqua ein paar Serpentinen. Ich genieße den Geschwindigkeitsrausch und verfluche meine viel zu große Windjacke, die ohne Ende flattert. Nach dieser Tour kauf ich mir eine neue (hab ich dann doch nicht gemacht). Verdammt, schon wieder schneller als geplant. Nach 0:28:40 erreiche ich die Abzeigung zum St. Gotthard in der Nähe des Tunneleingangs. Jetzt keinen Fehler machen. Airolo links umfahren, die richtige Strasse ins Val Tremola nehmen und auf keinen Fall auf die neue Trasse gelangen. Verfahren darf ich mich jetzt nicht, jede Sekunde zählt. Da, links die entscheidende Abzweigung (Gruß an Johannes Schramm) und dann das Kopfsteinpflaster. Schüttelt (haha) ganz schön, aber macht gar nichts. Fühl mich immer noch topp und das Rad klappert auch nicht, gute Pflege zahlt sich aus. Plötzlich in der Nähe von Motto Bartola ein Knall. Zum Glück nicht meine Reifen, sondern ein Schuss aus einer der Kasernen hier oben, der Gotthard ist voll davon. Die spinnen, die Schweizer. Also alles klar bei mir und endlich kommt die Ponte di Mezzo, ab hier beginnt die klassische Serpentinenstrecke, 24 an der Zahl, durchgängig mit Kopfsteinpflaster. Zum Glück nicht so steil, teilweise dicht übereinander. Es rollt gut. In den Kurven nicht ausruhen, sondern gerade hier noch mal Gas geben. Gibt's denn das. Ich bin ja gleich schon oben. 0:58:35 zeigt die Uhr am alten Hospiz. Geplant waren 1:06:00. Wenn dass so weiter geht, bin ich rechtzeitig zum Kaffee zurück. Aber sachte sachte, es kommen ja noch ein paar Brocken. Und 5 Minuten Pause habe ich mir jetzt verdient. Die Hölle los hier oben.
Schnell weiter geht es auf der Achterbahn. Erst mal überquere ich nach 500 m am Kulminationspunkt die eigentliche Passhöhe. Mist, ich hätte hier abstoppen müssen, egal, die Abfahrt beginnt. Jetzt das Kinn runter soweit es geht, damit der Luftwiderstand möglichst klein wird. 82 km/h zeigt der Tacho auf der langen Geraden kurz vor Mätteli. Bis heute mein Geschwindigkeitsrekord (ich weis, nichts besonderes, aber ich bin nun mal kein Abfahrer). Ich unterbiete meine geplanten 12 Minuten bis Hospental um sage und schreibe 59 Sekunden, verliere das allerdings wieder, weil ich meine Windjacke ausziehen muss. Jetzt kommt das längste Stück ohne merkliche Steigung, 5 km bis Realp. Volle Pulle, großes Blatt. Leider keine Zwischenzeit in Realp genommen, da der Nieselregen mich abgelenkt hat. Dort beginnt der eigentlich Anstieg zum Furkapass, gleich am Anfang ziemlich steil. Irgendwie strengt das jetzt mehr an, als noch eben am St. Gotthard. Ist ja auch klar, das konnte nicht so locker weiter gehen. Aber eine schöne Serpentinengruppe bis Ebneten mit tollem Blick Richtung Andermatt und dann über Tiefenbach ziemlich lang geradeaus. Läuft aber immer noch ganz gut. Ich beobachte jede homöopathische Veränderung des Tachos und deute sie sofort entweder als Anzeichen von Schwäche oder als neues Formhoch. Alles Quatsch. Der Verkehr wird langsam dichter. Stört mich aber nicht, bin schließlich nicht zum Vergnügen hier. Genießen will ich dann ein anderes mal. Auf das Hotel Furkablick fall ich diesmal nicht rein so wie am Gotthard, es ist immer noch ein halber Kilometer mit 4 m Steigung bis zur eigentlichen Passhöhe.
Dann die Erlösung. Ich habe genau 1:12:00 ab Hospental gebraucht, 3 Minuten schneller als geplant. Ist doch nicht so schlecht gelaufen, wie weiter unten befürchtet. Aber das Polster wird untrügerisch dünner. Schnell noch ein bisschen Sonnencreme nachgelegt, denn es ist ziemlich heiß heute. Die 10 Minuten Pause müssen jetzt sein, Zeit etwas zu essen.
Nun aber volle Konzentration bei der Abfahrt zurück nach Andermatt. Die Strasse ist teilweise sehr eng und rechts geht es ziemlich weit den Abhang runter. Aber meine guten alten Shimano 600 Bremsen sind allererste Sahne, auf die kann ich mich voll und ganz verlassen. Und diese Busse. Warum in aller Welt müssen auf dieser schmalen Strasse noch Busse fahren. Wenn sich da zwei begegnen, wird es zu eng und ich müsste anhalten. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Den schönen Turm von Hospental lasse ich achtlos links liegen. Da ist der Brunnen schon interessanter. Also Wasser nachtanken. 5 Minuten sind wieder dahin. Schnell weiter Richtung Andermatt. Verdammtes Touristennest, zuviel Trubel, das hält nur auf. Aber diese Durchgangsstrasse ist lustig. Kopfsteinpflaster mit zwei schmalen glatten Streifen in der Mitte, extra für mich zum ruhigen dahinrollen. Hoffentlich kommt mir kein Auto entgegen, ich muss jetzt Kräfte sparen. Aber irgendwie habe ich Angst vor dem Oberalppass. Kommt jetzt der Einbruch? Plötzlich die Abzeigung nach rechts. Die 36 Minuten und 42 Sekunden sind wie im Fluge vergangen. Aber ich verliere erstmals Zeit. Ganze 42 Sekunden. Na ja, der Gegenwind auf der langen Geraden bis Andermatt war auch ziemlich heftig, so rede ich mir ein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, als wenn es von hier an im wahrsten Sinne des Wortes bergab geht. Aber zum Glück ist der Oberalppass ja ein Klacks mit ein paar Höhenmetern und steil ist der auch nicht. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren und die ersten Serpentinen mit dem Kehrentunnel langsam angehen.
Aber meine Beine werden schwer. Der Tritt wird langsamer, die Steigung erreicht virtuelle 15% und die Sonne brennt erbarmungslos. Aber diese 11 km werde ich schaffen. Zeit spielt jetzt keine Rolle. Erst mal oben ankommen und dann eine längere Pause. Endlos geht es parallel zur Eisenbahn. Wäre ich nur so schnell wie sie. Endlich, die lange Galerie am Oberalpsee kurz vor der Passhöhe liegt vor mir und die Nähe des Ziels beflügelt mich. Na also, der Chronometer zeigt 0:47:38 statt der geplanten 46 Minuten. Hab doch gar nicht so viel verloren. Aber halt: Diese Zeit wollte ich locker fahren. Jetzt hab ich mit maximaler Anstrengung länger gebraucht. Also nix vormachen: Du hast effektiv ziemlich abgebaut und das schlimmste steht dir noch bevor. Also das Rad an eine dieser hässlichen Andenkenbuden gelehnt, wenigstens 15 Minuten Pause und reindrücken was geht. Ohne Mampf kein Kampf. Für kein Geld der Welt würde ich jetzt noch nach Disentis abfahren, als wenn ich es vorher geahnt hätte.
Und dann mit noch weichen Knien hinein in die Abfahrt, erholt hab ich mich hier oben nicht. Einfach Klasse diese lange Gerade, Andermatt fliegt näher und ich kann wenigstens den tollen Blick ins Urserental bis zum Furkapass genießen. Dann rechts ab, den Gotthard runter Richtung Wassen. Aber einen flüchtigen Blick auf die Teufelsbrücke und die Felsenmalerei will ich doch riskieren, bevor es in die langen Galerien geht. Mensch ist hier viel Verkehr, zum Glück muss ich hier nicht hoch. Wie schön es wohl früher gewesen sein mag, als hier noch Postkutschen hochgefahren sind. Damals hätte man ein Mountainbike haben müssen. Ich kann mich jetzt etwas erholen und traue meinen Augen nicht, als ich in Wassen auf die Uhr sehe: Statt der geplanten 35 Minuten habe ich ganze 40 Sekunden weniger gebraucht. Immerhin, das baut auf und ich starte gleich durch zum Sustenpass, wer rastet der rostet. Klasse Beginn, tolle Strasse mit einigen Tunnels und unter mir eine tiefe Schlucht, richtig romantisch. Leider hat die Romantik schnell ein jähes Ende, denn nun sehe ich die endlos lange Gerade durchs Meiental bis hoch bis zum Pass. Ist da wirkliche keine Serpentine mehr, kein Zwischenziel an den man sich klammern kann? Und diese verdammte Hitze macht mir jetzt zu schaffen, eine einzige Quälerei. Knalle Sonne ohne Schatten, ich glaub ich krepier. Ich starre hinter mir auf dieses verdammtes 6-fach-Ritzel. Jetzt könnte ich noch ein oder zwei Rettungsringe gebrauchen, die Übersetzung 42/28 macht mich fertig (16 Jahre später werde ich allerdings mit 39/34 die gleichen Probleme haben). Und besonders attraktiv ist die Gegend hier auch nicht. Die 3 Sterne im Denzel sind mir ein Rätsel. Ich verfalle in Monotonie und memoriere immer und immer wieder sinnlose Phrasen oder Melodien, die ich in schöneren Zeiten zu Hause im gemütlichen Sessel genossen habe. Aber irgendwie hilft es mir über den Berg. Hoffentlich jetzt keinen Hungerast, so wie letztes Jahr.
Endlich kommen doch noch 2 Serpentinen und ich sehe schon den Eingang zum Scheiteltunnel. Gut beleuchtet, kein Problem, und vor allem keine Steigung mehr. Mit Tempo 40 erreiche ich das Westportal und stehe unvermittelt auf der Passhöhe, einem riesigen Parkplatz mit Restaurant. 1:36:33 drücke ich ab. Ich bin konsterniert. 6 Minuten und 33 Sekunden verloren gegenüber Plan. Ich bin am Limit und gerate trotzdem mehr und mehr in Rückstand. Mensch bin ich fertig. Und Durst ohne Ende. Sieh mal an, da steht ja der weiße 300 D mit Duisburger Kennzeichen von meinem Vater.
Unterstützung kann ich jetzt gebrauchen. Doch was kommt jetzt: Manfred, wie siehst du denn aus? Bist ja völlig fertig. Hör auf. Das bringt doch alles nichts. Völlig sinnlos was du hier machst. Setz dich ins Auto und fahr mit mir zurück nach Fiesch. Ich denk ich hör nicht richtig. Was soll das? Jetzt aufhören? So kurz vor dem Ziel. Kommt gar nicht in Frage, jetzt erst recht. Die gutgemeinten Vorschläge von meinem Vater bewirken das Gegenteil. Meine Motivation steigt schlagartig. Ich kippe 1 Liter Mineralwasser für 5 Franken in mich rein, nachdem ich vorher relativ wenig getrunken habe, das war mit Sicherheit ein großer Fehler. Und meine Flaschen werden auch noch schnell mit Isostar gefüllt, das Pulver dazu schleppe ich schon die ganze Zeit in meiner Lenkertasche mit.
Um Gottes willen. Der Blick auf die Uhr lässt mich erstarren: 25 Minuten habe ich jetzt hier oben schon verplempert. Nix wie weiter. Wünsche meinem Vater noch eine gute Heimreise und dann rein in die Abfahrt. Ich riskiere einen flüchtigen Blick Richtung Steingletscher, einer der schönsten Panoramen für Rennradler, Denzel hat doch Recht gehabt, hiermit also rehabilitiert. Aber die kurvenreiche Strasse verlangt Vorsicht. Tunnel sind immer kritisch, im ersten Moment fährt man blind und wer weis, ob da nicht etwas größeres im Weg liegt. Das wäre das Ende aller Träume. Aber es geht gut und ich halte für 1 Minute in Gadmen an, um mal wieder meine Windjacke auszuziehen. Traumhafte Abfahrt bis Innertkirchen, viel zu schade zum Runterfahren und viel besser als der öde Anstieg von Wassen aus.
Meine Stimmung steigt schlagartig in Innertkirchen. 0:38:50 zeigt die Uhr und ich sage mir, das wird die Wende, denn geplant waren hier 40 Minuten. Was so ein paar Sekunden doch ausmachen können. 1 Minute verliere ich, um dieses freudige Ereignis in meinem Tourenplaner festzuhalten und dann geht es los. Der vorletzte Pass. Letztes Jahr bin ich hier mit 2 Stunden und 2 Minuten knapp an der 2- Stunden-Marke gescheitert. Heute werde ich zwar die errechneten 1:55:00 nicht erreichen (endlich werde ich realistisch), aber die 2 Stunden muss ich auf jeden Fall knacken. Ansonsten wird nächste Woche die Tour wiederholt, so rede ich auf mich ein. Ich versuche nicht an die 26,5 km und 1540 Höhenmeter zu denken. Meine Füße brennen und durch die Turnschuhe drücken sich langsam aber sicher diese beschissenen Pedale (ja ihr habt richtig gelesen, stinknormale Turnschuhe mit weicher Sohle, das kann nur ein Schwachkopf anziehen). Wenigstens habe ich die guten alten Lederriemen dran, ich glaube die Marke war Christophe. Die hätte man zur Not als Abschleppseil verwenden können, so stabil waren die. Auf den ersten Kilometern ist die Strasse nicht gerade hochalpin, aber locker ist es deshalb noch lange nicht. Ein paar ziemlich dunkle Tunnels lassen Abwechslung aufkommen und ich bin jedes Mal froh, wenn ich das Tunnelende ohne Kollision mit einem Auto überstanden habe, Licht unbedingt zu empfehlen. Ich unterteile die Strecke im Kopf in kleinere Abschnitte und hangle mich von einem Zwischenziel zum nächsten: Guttannen, Handegg, Räterichsbodensee, Grimselsee. Der längste von allen Tunnels wird mir doch jetzt zu gefährlich. Ich weiche auf einen schmalen Gehweg neben der Strasse aus und lasse die Autos in sicherer Entfernung vorbeirauschen (dieser Tunnel ist mittlerweile für Radfahrer gesperrt und man darf die viel schönere ehemalige Trasse oberhalb einer tiefen Schlucht benutzen, ohne sie mit Autos oder Motorradfahrer teilen zu müssen, klasse). Einsetzender Nieselregen juckt mich jetzt überhaupt nicht, der bringt willkommene Abkühlung. Denn die kann ich jetzt brauchen. Am Grimselsee das beeindruckende Grimsel Hospiz und endlich kündigt sich die letzte Serpentinengruppe an. Ich will die 2 Stunden unterbieten, mein wichtigstes Lebensziel in diesem Moment.
Alles wird unwichtig, auch die Schmerzen in meinen Oberschenkeln und das Brennen in der Lunge. Ich fahre am Anschlag, voll im anaeroben Bereich. Nach einer endlos langen Traverse die letzte Kurve an der Abzweigung zum Oberaarsee. Ich denke an meinen schwersten Marathon und komme zu der Überzeugung, dass der noch viel schlimmer gewesen ist. Also werde ich es auch heute schaffen, ohne Krämpfe, ohne Herzinfarkt und ohne vom Rad zu fallen. Ich setzte alles in meinen Körper. Hoffentlich kommt jetzt kein Fußgänger über diesen verdammten Zebrastreifen ein paar Meter vor der Passhöhe, den müsste ich sonst über den Haufen fahren, anhalten kommt jedenfalls nicht in Frage. Aber es geht gut und ich schaffe es mit letzter Kraft, vor dem Abbremsen die Uhr zu drücken. Ich habe Angst auf die Uhr zu sehen, alles über 2 Stunden wäre eine Katastrophe. Man hat ein Einsehen mit solch einer armseligen Kreatur wie mir und ich lese zitternd und japsend 1:58:47, gerettet. Ich könnte die Welt umarmen.
Zur Belohnung gönne ich mir ganze 8 Minuten Pause um an einem Kiosk wieder diese ekelhaften Riegel aus Ovomaltine zu kaufen, die ich schon die ganze Zeit gegessen habe. Mensch muss ich fertig ausgesehen haben, die Dame am Kiosk sieht mich ganz komisch an (später am Auto sehe ich in den Spiegel, mein ganzes Gesicht ist verschmiert und um meinen Mund herum alles braun von diesen Riegeln). Ein kurzes Flachstück von 500 m vorbei am Totensee und es geht zum letzten Streich hinunter in die Abfahrt nach Gletsch. Das phantastische Panorama hier oben habe ich leider nicht richtig wahrgenommen. Nach dem ersten Geschwindigkeitsrausch der Schock: Baustelle, Strassendecke aufgerissen, Schotter. Ich bin fast am Verzweifeln, alle Planungen dahin. Ich springe ab und schiebe so schnell es geht mein Rad durch dieses unwirtliche Stück Erde. Aber ich habe wieder mal Glück. Nach ein paar hundert Metern ist der Spuk vorbei und der Rausch kann weitergehen. Bis Gletsch habe ich lediglich 2 Minuten und 16 Sekunden gegenüber den geplanten 12 Minuten verloren, das ist noch mal gut gegangen. Ich gönne mir eine letzte Pause von fast einer Minute in Gletsch um mich zum Angriff auf den Furkapass zu sammeln, Erholung muss sein, aber ich habe jetzt keinen Zweifel mehr, dass ich da ohne Probleme hochkommen werde.
Der Blick von Gletsch aus Richtung Passhöhe und Rhonegletscher ist sagenhaft, nur diese steile Rampe kurz vor Hotel Belvedere ist furchteinflößend. Leicht geht es die erste Serpentinengruppe bergauf. Ich spüre keine Anstrengung mehr, so als wenn ich gerade erst gestartet wäre. Die Auto- und Motorradfahrer, welche mich dauernd überholen, tun mir leid, sie wissen nicht, was ihnen entgeht. Mit dem Fahrrad hier hoch ist das einzig wahre, die volle Befriedigung, das Verschmelzen mit den Elementen. An der Brücke über den Muttbach kommt wieder diese Almhütte. Auch heute werde ich dort keinen Ziegenkäse kaufen, vielleicht das nächste mal (bis heute habe ich da noch nichts gekauft). Die steile Rampe mit 15% Steigung naht, doch ich nehme Sie ohne merklich langsamer zu werden. Ich lege mich in die Rechtskurve ums Hotel Belvedere, wie von Sinnen, unzurechnungsfähig und nur mit einem Ziel. Die letzten beiden Kilometer werden zur Triumphfahrt. Endorphine durchströmen meinen Körper (hallo Jan), ich bin wie in Trance. Ich kenne dieses Gefühl vom Marathon, wenn man an gar nichts mehr denkt, sich nur dem Rausch hingibt, sich auf seinen Körper und seine Mission konzentriert und scheinbar mühelos die größten Anstrengungen unternimmt. Ich fahre, ach was, ich fliege mit Tempo 30 der Passhöhe entgegen und kann es kaum erwarten, oben anzukommen. Jetzt noch ein Endspurt, alles was drin ist und dann kommt das Passschild: Furkapass, 2436 m. Der Druck auf die Uhr, unzählige Male heute exerziert, er wird jetzt zum Ritual.
Ohne Angst schaue ich auf die Uhr, ich weis es einfach, dass dieser letzte Pass noch einmal schneller als geplant gewesen ist, 0:48:53. Auf meinem Tourenplaner stehen da 50 Minuten, lächerlich.
Wenn die anderen hier oben wüssten, was ich hinter mir habe und was gerade in mir vorgeht. Ich werde es ihnen nicht verraten, behalte mein Geheimnis für mich. Es ist jetzt 19:39 Uhr, heute Vormittag um 11:17 Uhr bin ich von der anderen Seite hier oben angekommen, unfassbar, wie schnell die Zeit vergangen ist. Aber die Realität holt mich 10 Minuten später wieder ein. Ich muss runter. Diesmal unterwegs leider kein Halt für meinen Lieblingsblick runter Richtung Gletsch und Grimselpass, auch fahre ich zum x-ten mal am Rhonegletscher vorbei ohne abzusteigen. Jetzt merk ich erst, wie weh mein Rücken und meine Schultern tun, das macht mir beim Bremsen ganz schön zu schaffen. Aber die geplanten 17 Minuten bis Gletsch unterbiete ich locker um 1 Minute und 20 Sekunden. Ich rausche an der Abzweigung zum Grimselpass vorbei, es wird schon keiner von rechts kommen. Dann die letzte Serpentinengruppe bis zum Restaurant Rhonequelle runter und über Oberwald und Obergesteln hole ich bis zum Ausgangspunkt in Ulrichen mit 0:19:02 noch einmal 58 Sekunden gegenüber meinem Plan. Ein letzter Druck auf die Uhr und die Tour ist schlagartig vorbei. Ich bin überwältigt. Es ist jetzt genau 20:24 Uhr und bin damit 3 Minuten früher angekommen, als ich ursprünglich geplant hatte. Meine Fahrzeit beträgt 11:45:37. Mit insgesamt 1:25:15 Pause habe ich also 13:10:52 gebraucht. Wenn man die Zeit für alle Anstiege zusammenzählt, ergibt sich eine Gesamtzeit von 8:27:06, gerade mal 2 Minuten und 54 Sekunden schneller als vorausberechnet. Mein Tacho zeigt 239,7 km, 300 m weniger als die Schätzung nach Karte. Perfekt.
Dank an die Generalkarte, dem Schweizer Touring Club, Eduard Denzel, Fa. Borland für das Programm Turbo Basic. Besonderen Dank an mein Fahrrad, das mich so tapfer und ohne Defekt über die Strecke getragen hat.
Auf der Rückfahrt nach Fiesch verfalle ich in eine Art Melancholie, ich bin traurig, dass alles vorüber ist. Eigentlich sollte ich froh sein, dass die Strapazen überstanden sind, aber irgendwie fühle ich mich wie herausgerissen aus einer anderen, schöneren Welt, in der ich mich über 13 Stunden befunden habe, und zwar ganz alleine ...
Nachtrag:
Alles, was ich hier von mir gegeben habe, ist wahr. So etwas verrücktes kann man sich gar nicht ausdenken. Nach der Tour habe ich mein Maschinenbaustudium erfolgreich zu Ende gebracht und eine gutbezahlte, anspruchsvolle Tätigkeit in einem Weltunternehmen angenommen. Mein Verstand kann also keinen bedeutenden Schaden davongetragen haben.
Bereits am nächsten Tag war ich mit der Planung einer Radtour über 10 900 Höhenmetern am Stilfer Joch beschäftigt, 7 mal rauf und runter. Keine Ahnung, warum ich die dann nie mehr durchgeführt habe.
Am 3. Juli 1988 nahm ich erstmals an einem Radmarathon teil (Dolomitenradmarathon mit 184 km und 5300 Höhenmetern). Spätestens da wusste ich, was für ein Stümper ich am Berg bin.
Am 31.12.2002 habe ich es geschafft, den Kandel im Schwarzwald hochzufahren, ohne die Zeit zu stoppen. Die hab ich nur geschätzt. Und ich muss gestehen, es hat trotzdem Spaß gemacht.
Irgendwann werde ich versuchen, diese Tour zu wiederholen.
Das Ereignis, worüber ich hier berichte, kann ich nicht zu Nachahmung empfehlen und es soll auch kein leuchtendes Beispiel für andere sein. Es ist die Verwirklichung eines ganz persönliches Zieles, vielleicht entstanden aus den Windungen eines kranken Hirns, auf jeden Fall aber ein tolles Erlebnis, welches ich nie vergessen werde. Ein starker innerer Zwang hat mich zu einer Radtour über sieben Alpenpässe getrieben, die ich 1986, in der Blüte meines Lebens, innerhalb eines Tages unternommen habe. Die Gedanken, die ich während dieser Fahrt hatte, können sicher von dem einen oder anderen nachvollzogen werden, da bin ich mir fast sicher. Auf weniger Verständnis wird sicher die pedantische Planung stoßen, durch die es zu einem Kampf gegen die Uhr geworden ist. Aber gerade das hat für mich den besonderen Reiz ausgemacht.
1983 fuhr ich so zum Spaß zusammen mit meinem Bruder von Prad aus aufs Stilfser Joch, mein erster Alpenpass. Ich kann mich zwar nicht mehr so richtig daran erinnern, da oben besondere Glücksgefühle gehabt zu haben, aber irgendwie war ich danach vom Pässefieber gepackt. 1985 wagte ich erstmals, mehr als einen Pass am Tag zu fahren. Die 5-Pässe-Runde Ulrichen-Nufenen-Gotthard-Susten-Grimsel-Furka-Ulrichen empfand ich als das Höchste und da mich niemals ein anderer Radfahrer überholt hatte, hielt ich mich für einen sehr guten Bergfahrer (das war nur ein Zufall, wie ich später leider feststellen musste). Doch für 1986 hatte ich mir etwas Besonderes vorgenommen. Ich wollte meine Grenzen kennen lernen und eine möglichst lange Tagestour mit möglichst vielen Höhenmetern unternehmen, ohne dabei in die Dunkelheit zu geraten.
Meine Motivation kam vom Langstreckenlauf, den ich schon seit Anfang der 80er Jahre sehr intensiv betrieb. Damals zählten immer nur neue Bestzeiten bis zur Marathondistanz und auch im Training stand die benötigte Zeit stets im Vordergrund. Ich bin damals jahrelang ohne einen einzigen Tag Pause gelaufen, zeitweise 2 oder 3 mal am Tag. Radtraining habe ich praktisch nicht gemacht, lediglich die Alpentouren im Urlaub.
Die Strecke sollte folgendermaßen aussehen: Ulrichen-Nufenenpass-Airolo-St. Gotthard-Hospental-Furkapass-Andermatt-Oberalppass-Wassen-Sustenpass-Innertkirchen-Grimselpass-Gletsch-Furkapass-Ulrichen. Ganz perfekt war mir diese Strecke jedoch nicht, da die östliche Passrampe des Oberalp fehlt, aber mit dem zusätzlichen Abstecher von 42 km hinunter nach Disentis und wieder zurück zur Passhöhe konnte ich mich einfach nicht anfreunden, das erschien mir des guten zu viel. Also waren es insgesamt nur 7 Pässe mit 240 km und knapp 7200 Höhenmeter. Für dieses Jahr hatte ich zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder den Jahresurlaub im Wallis geplant. Von unserem Quartier in Fiesch ist er nur eine knappe halbe Stunde bis zum Ausgangspunkt in Ulrichen.
War so etwas überhaupt an einem Tag zu schaffen? Nach wochenlangen Überlegungen, Kartenstudium und allerlei Berechnungen kam ich schließlich zu dem Resultat, das ich dafür 13 Stunden und 27 Minuten brauchen würde, bei einer Fahrzeit von 12 Stunden und 2 Minuten und insgesamt 1 Stunde 25 Minuten Pause. Ich wollte um 7:00 Uhr in Ulrichen starten und abends kurz vor Einbruch der Dunkelheit um 20:27 Uhr ankommen. Soweit die Theorie. Mein Ziel war, möglichst nahe an dem vorgegebenen Zeitplan zu bleiben und die geplante Gesamtzeit nicht zu überschreiten, da ich sonst in die Dunkelheit geraten würde. Ebenfalls sollte die Abweichung an jedem einzelnen Pass möglichst gering sein. Ich wollte mich also auf einen Kampf gegen die Uhr einlassen, 1000 mal im Wettkampf und Training exerziert. Das Computerprogramm, welches ich damals benutzt habe, existiert heute noch. Es wurde in der Zwischenzeit von Johannes Schramm auf den neuesten Stand gebracht und um ein paar nette kleine Features erweitert (Quälpunkte, Sonnenauf- und Untergang, usw.).
Hochmotiviert gingen wir an diesem denkwürdigen 29. Juli 1986 an den Start. Mein Bruder unternahm die kleinere Tour über Ulrichen, Furka, Susten, Grimsel, Fiesch, eine beachtliche Leistung wie ich finde, da er damals weder Rad- noch Lauftraining absolvierte. Mein Vater entschloss sich kurzfristig, uns zu begleiten.
Hier nun meine Erinnerungen, die ich heute, mehr als 16 Jahre später, aufgeschrieben habe, sie haben sich fest in meine Gehirnrinde eingebrannt. Lediglich die technischen Daten dieser Tour habe ich am 30. Juli 1986, einen Tag danach, exakt in meinem Trainingsbuch dokumentiert.
Dienstag, 29.07.1986
Auch das noch. Mein Vater bringt meine ganze Planung durcheinander. Jetzt will er doch Begleitfahrzeug spielen. Wenn er mir das schon gestern Abend gesagt hätte, wären wir eher aufgestanden. Wegen ihm kommen wir nicht rechtzeitig weg, Start pünktlich um 7 Uhr kann ich vergessen. Na egal, vielleicht ist eine Begleitung nicht schlecht (ein Trugschluss, wie sich erst viel später am Sustenpass herausstellte) und auf 15 Minuten soll es nicht mehr ankommen.
Auf der Fahrt von Fiesch nach Ulrichen rinnen die Minuten dahin. Schnell die Räder aus dem Auto gepackt, montiert, Wasserflaschen aufgefüllt, Luftdruck kontrolliert, ein letztes Foto und ab geht?s. An der Abzweigung zum Nufenenpass starte ich die Uhr, wir haben exakt 7:13 Uhr und liegen schon 13 Minuten hinter Plan. Der erste Kilometer ist noch flach, von der Furka-Oberalp-Bahn ist weit und breit nichts zu sehen und ich kann die Bahnlinie ungehindert passieren. Das wär?s noch gewesen, denke ich. Mit Schwung nehme ich die erste Serpentinengruppe. Irgendwie merke ich die Steigung nicht. Ich strenge mich nicht an. Bin ich gedopt? Ach was, ich bin topp drauf heute und alles wird bestens. Kein Auto stört mich um die Zeit. Die Kilometer fliegen dahin und ich merke nicht die steilen Rampen Richtung Hosand-Brücke und Ladstafel. Im Gegenteil, mein Körper läuft perfekt, wie ein Motor und die Kette schnurrt wie ein Kätzchen. Die Beine schwingen wie Pleuel auf und ab, dicht am Oberrohr, ohne die geringste Energie zu vergeuden und ich habe das Gefühl, ewig so weiterfahren zu können. Jetzt noch die Gruppe von 10 Serpentinen und ich bin oben. Einfach so, als wenn nicht gewesen wäre. Die berechnete Zeit von 1:10:00 unterbiete ich mit 1:04:41 locker.
Mein Vater hält diesen Moment auf Zelluloid fest. Verdammt. Vielleicht doch zu schnell für den Anfang. Egal, dann hab ich eben etwas Polster für eine eventuelle Schwächeperiode. Schnell die benötigte Zeit und den Kilometerstand auf meine Planungsunterlage in der Lenkertasche notiert und die Windjacke übergeworfen. 3 Minuten hat das gedauert. Nicht schlecht. Ein flüchtiger Blick zurück zum Restaurant mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund muss sein. Tolle Passhöhe, eine meiner liebsten, denke ich, aber ich habe nur 35 Minuten Zeit bis Airolo. Also volle Kanne runter. Gut, dass ich auf dieser Seite abfahre. Nicht besonders attraktiv zum Hochfahren. Lange Geraden im Val Bedretto und nur im oberen Teil ab All'Acqua ein paar Serpentinen. Ich genieße den Geschwindigkeitsrausch und verfluche meine viel zu große Windjacke, die ohne Ende flattert. Nach dieser Tour kauf ich mir eine neue (hab ich dann doch nicht gemacht). Verdammt, schon wieder schneller als geplant. Nach 0:28:40 erreiche ich die Abzeigung zum St. Gotthard in der Nähe des Tunneleingangs. Jetzt keinen Fehler machen. Airolo links umfahren, die richtige Strasse ins Val Tremola nehmen und auf keinen Fall auf die neue Trasse gelangen. Verfahren darf ich mich jetzt nicht, jede Sekunde zählt. Da, links die entscheidende Abzweigung (Gruß an Johannes Schramm) und dann das Kopfsteinpflaster. Schüttelt (haha) ganz schön, aber macht gar nichts. Fühl mich immer noch topp und das Rad klappert auch nicht, gute Pflege zahlt sich aus. Plötzlich in der Nähe von Motto Bartola ein Knall. Zum Glück nicht meine Reifen, sondern ein Schuss aus einer der Kasernen hier oben, der Gotthard ist voll davon. Die spinnen, die Schweizer. Also alles klar bei mir und endlich kommt die Ponte di Mezzo, ab hier beginnt die klassische Serpentinenstrecke, 24 an der Zahl, durchgängig mit Kopfsteinpflaster. Zum Glück nicht so steil, teilweise dicht übereinander. Es rollt gut. In den Kurven nicht ausruhen, sondern gerade hier noch mal Gas geben. Gibt's denn das. Ich bin ja gleich schon oben. 0:58:35 zeigt die Uhr am alten Hospiz. Geplant waren 1:06:00. Wenn dass so weiter geht, bin ich rechtzeitig zum Kaffee zurück. Aber sachte sachte, es kommen ja noch ein paar Brocken. Und 5 Minuten Pause habe ich mir jetzt verdient. Die Hölle los hier oben.
Schnell weiter geht es auf der Achterbahn. Erst mal überquere ich nach 500 m am Kulminationspunkt die eigentliche Passhöhe. Mist, ich hätte hier abstoppen müssen, egal, die Abfahrt beginnt. Jetzt das Kinn runter soweit es geht, damit der Luftwiderstand möglichst klein wird. 82 km/h zeigt der Tacho auf der langen Geraden kurz vor Mätteli. Bis heute mein Geschwindigkeitsrekord (ich weis, nichts besonderes, aber ich bin nun mal kein Abfahrer). Ich unterbiete meine geplanten 12 Minuten bis Hospental um sage und schreibe 59 Sekunden, verliere das allerdings wieder, weil ich meine Windjacke ausziehen muss. Jetzt kommt das längste Stück ohne merkliche Steigung, 5 km bis Realp. Volle Pulle, großes Blatt. Leider keine Zwischenzeit in Realp genommen, da der Nieselregen mich abgelenkt hat. Dort beginnt der eigentlich Anstieg zum Furkapass, gleich am Anfang ziemlich steil. Irgendwie strengt das jetzt mehr an, als noch eben am St. Gotthard. Ist ja auch klar, das konnte nicht so locker weiter gehen. Aber eine schöne Serpentinengruppe bis Ebneten mit tollem Blick Richtung Andermatt und dann über Tiefenbach ziemlich lang geradeaus. Läuft aber immer noch ganz gut. Ich beobachte jede homöopathische Veränderung des Tachos und deute sie sofort entweder als Anzeichen von Schwäche oder als neues Formhoch. Alles Quatsch. Der Verkehr wird langsam dichter. Stört mich aber nicht, bin schließlich nicht zum Vergnügen hier. Genießen will ich dann ein anderes mal. Auf das Hotel Furkablick fall ich diesmal nicht rein so wie am Gotthard, es ist immer noch ein halber Kilometer mit 4 m Steigung bis zur eigentlichen Passhöhe.
Dann die Erlösung. Ich habe genau 1:12:00 ab Hospental gebraucht, 3 Minuten schneller als geplant. Ist doch nicht so schlecht gelaufen, wie weiter unten befürchtet. Aber das Polster wird untrügerisch dünner. Schnell noch ein bisschen Sonnencreme nachgelegt, denn es ist ziemlich heiß heute. Die 10 Minuten Pause müssen jetzt sein, Zeit etwas zu essen.
Nun aber volle Konzentration bei der Abfahrt zurück nach Andermatt. Die Strasse ist teilweise sehr eng und rechts geht es ziemlich weit den Abhang runter. Aber meine guten alten Shimano 600 Bremsen sind allererste Sahne, auf die kann ich mich voll und ganz verlassen. Und diese Busse. Warum in aller Welt müssen auf dieser schmalen Strasse noch Busse fahren. Wenn sich da zwei begegnen, wird es zu eng und ich müsste anhalten. Ich will gar nicht darüber nachdenken. Den schönen Turm von Hospental lasse ich achtlos links liegen. Da ist der Brunnen schon interessanter. Also Wasser nachtanken. 5 Minuten sind wieder dahin. Schnell weiter Richtung Andermatt. Verdammtes Touristennest, zuviel Trubel, das hält nur auf. Aber diese Durchgangsstrasse ist lustig. Kopfsteinpflaster mit zwei schmalen glatten Streifen in der Mitte, extra für mich zum ruhigen dahinrollen. Hoffentlich kommt mir kein Auto entgegen, ich muss jetzt Kräfte sparen. Aber irgendwie habe ich Angst vor dem Oberalppass. Kommt jetzt der Einbruch? Plötzlich die Abzeigung nach rechts. Die 36 Minuten und 42 Sekunden sind wie im Fluge vergangen. Aber ich verliere erstmals Zeit. Ganze 42 Sekunden. Na ja, der Gegenwind auf der langen Geraden bis Andermatt war auch ziemlich heftig, so rede ich mir ein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, als wenn es von hier an im wahrsten Sinne des Wortes bergab geht. Aber zum Glück ist der Oberalppass ja ein Klacks mit ein paar Höhenmetern und steil ist der auch nicht. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren und die ersten Serpentinen mit dem Kehrentunnel langsam angehen.
Aber meine Beine werden schwer. Der Tritt wird langsamer, die Steigung erreicht virtuelle 15% und die Sonne brennt erbarmungslos. Aber diese 11 km werde ich schaffen. Zeit spielt jetzt keine Rolle. Erst mal oben ankommen und dann eine längere Pause. Endlos geht es parallel zur Eisenbahn. Wäre ich nur so schnell wie sie. Endlich, die lange Galerie am Oberalpsee kurz vor der Passhöhe liegt vor mir und die Nähe des Ziels beflügelt mich. Na also, der Chronometer zeigt 0:47:38 statt der geplanten 46 Minuten. Hab doch gar nicht so viel verloren. Aber halt: Diese Zeit wollte ich locker fahren. Jetzt hab ich mit maximaler Anstrengung länger gebraucht. Also nix vormachen: Du hast effektiv ziemlich abgebaut und das schlimmste steht dir noch bevor. Also das Rad an eine dieser hässlichen Andenkenbuden gelehnt, wenigstens 15 Minuten Pause und reindrücken was geht. Ohne Mampf kein Kampf. Für kein Geld der Welt würde ich jetzt noch nach Disentis abfahren, als wenn ich es vorher geahnt hätte.
Und dann mit noch weichen Knien hinein in die Abfahrt, erholt hab ich mich hier oben nicht. Einfach Klasse diese lange Gerade, Andermatt fliegt näher und ich kann wenigstens den tollen Blick ins Urserental bis zum Furkapass genießen. Dann rechts ab, den Gotthard runter Richtung Wassen. Aber einen flüchtigen Blick auf die Teufelsbrücke und die Felsenmalerei will ich doch riskieren, bevor es in die langen Galerien geht. Mensch ist hier viel Verkehr, zum Glück muss ich hier nicht hoch. Wie schön es wohl früher gewesen sein mag, als hier noch Postkutschen hochgefahren sind. Damals hätte man ein Mountainbike haben müssen. Ich kann mich jetzt etwas erholen und traue meinen Augen nicht, als ich in Wassen auf die Uhr sehe: Statt der geplanten 35 Minuten habe ich ganze 40 Sekunden weniger gebraucht. Immerhin, das baut auf und ich starte gleich durch zum Sustenpass, wer rastet der rostet. Klasse Beginn, tolle Strasse mit einigen Tunnels und unter mir eine tiefe Schlucht, richtig romantisch. Leider hat die Romantik schnell ein jähes Ende, denn nun sehe ich die endlos lange Gerade durchs Meiental bis hoch bis zum Pass. Ist da wirkliche keine Serpentine mehr, kein Zwischenziel an den man sich klammern kann? Und diese verdammte Hitze macht mir jetzt zu schaffen, eine einzige Quälerei. Knalle Sonne ohne Schatten, ich glaub ich krepier. Ich starre hinter mir auf dieses verdammtes 6-fach-Ritzel. Jetzt könnte ich noch ein oder zwei Rettungsringe gebrauchen, die Übersetzung 42/28 macht mich fertig (16 Jahre später werde ich allerdings mit 39/34 die gleichen Probleme haben). Und besonders attraktiv ist die Gegend hier auch nicht. Die 3 Sterne im Denzel sind mir ein Rätsel. Ich verfalle in Monotonie und memoriere immer und immer wieder sinnlose Phrasen oder Melodien, die ich in schöneren Zeiten zu Hause im gemütlichen Sessel genossen habe. Aber irgendwie hilft es mir über den Berg. Hoffentlich jetzt keinen Hungerast, so wie letztes Jahr.
Endlich kommen doch noch 2 Serpentinen und ich sehe schon den Eingang zum Scheiteltunnel. Gut beleuchtet, kein Problem, und vor allem keine Steigung mehr. Mit Tempo 40 erreiche ich das Westportal und stehe unvermittelt auf der Passhöhe, einem riesigen Parkplatz mit Restaurant. 1:36:33 drücke ich ab. Ich bin konsterniert. 6 Minuten und 33 Sekunden verloren gegenüber Plan. Ich bin am Limit und gerate trotzdem mehr und mehr in Rückstand. Mensch bin ich fertig. Und Durst ohne Ende. Sieh mal an, da steht ja der weiße 300 D mit Duisburger Kennzeichen von meinem Vater.
Unterstützung kann ich jetzt gebrauchen. Doch was kommt jetzt: Manfred, wie siehst du denn aus? Bist ja völlig fertig. Hör auf. Das bringt doch alles nichts. Völlig sinnlos was du hier machst. Setz dich ins Auto und fahr mit mir zurück nach Fiesch. Ich denk ich hör nicht richtig. Was soll das? Jetzt aufhören? So kurz vor dem Ziel. Kommt gar nicht in Frage, jetzt erst recht. Die gutgemeinten Vorschläge von meinem Vater bewirken das Gegenteil. Meine Motivation steigt schlagartig. Ich kippe 1 Liter Mineralwasser für 5 Franken in mich rein, nachdem ich vorher relativ wenig getrunken habe, das war mit Sicherheit ein großer Fehler. Und meine Flaschen werden auch noch schnell mit Isostar gefüllt, das Pulver dazu schleppe ich schon die ganze Zeit in meiner Lenkertasche mit.
Um Gottes willen. Der Blick auf die Uhr lässt mich erstarren: 25 Minuten habe ich jetzt hier oben schon verplempert. Nix wie weiter. Wünsche meinem Vater noch eine gute Heimreise und dann rein in die Abfahrt. Ich riskiere einen flüchtigen Blick Richtung Steingletscher, einer der schönsten Panoramen für Rennradler, Denzel hat doch Recht gehabt, hiermit also rehabilitiert. Aber die kurvenreiche Strasse verlangt Vorsicht. Tunnel sind immer kritisch, im ersten Moment fährt man blind und wer weis, ob da nicht etwas größeres im Weg liegt. Das wäre das Ende aller Träume. Aber es geht gut und ich halte für 1 Minute in Gadmen an, um mal wieder meine Windjacke auszuziehen. Traumhafte Abfahrt bis Innertkirchen, viel zu schade zum Runterfahren und viel besser als der öde Anstieg von Wassen aus.
Meine Stimmung steigt schlagartig in Innertkirchen. 0:38:50 zeigt die Uhr und ich sage mir, das wird die Wende, denn geplant waren hier 40 Minuten. Was so ein paar Sekunden doch ausmachen können. 1 Minute verliere ich, um dieses freudige Ereignis in meinem Tourenplaner festzuhalten und dann geht es los. Der vorletzte Pass. Letztes Jahr bin ich hier mit 2 Stunden und 2 Minuten knapp an der 2- Stunden-Marke gescheitert. Heute werde ich zwar die errechneten 1:55:00 nicht erreichen (endlich werde ich realistisch), aber die 2 Stunden muss ich auf jeden Fall knacken. Ansonsten wird nächste Woche die Tour wiederholt, so rede ich auf mich ein. Ich versuche nicht an die 26,5 km und 1540 Höhenmeter zu denken. Meine Füße brennen und durch die Turnschuhe drücken sich langsam aber sicher diese beschissenen Pedale (ja ihr habt richtig gelesen, stinknormale Turnschuhe mit weicher Sohle, das kann nur ein Schwachkopf anziehen). Wenigstens habe ich die guten alten Lederriemen dran, ich glaube die Marke war Christophe. Die hätte man zur Not als Abschleppseil verwenden können, so stabil waren die. Auf den ersten Kilometern ist die Strasse nicht gerade hochalpin, aber locker ist es deshalb noch lange nicht. Ein paar ziemlich dunkle Tunnels lassen Abwechslung aufkommen und ich bin jedes Mal froh, wenn ich das Tunnelende ohne Kollision mit einem Auto überstanden habe, Licht unbedingt zu empfehlen. Ich unterteile die Strecke im Kopf in kleinere Abschnitte und hangle mich von einem Zwischenziel zum nächsten: Guttannen, Handegg, Räterichsbodensee, Grimselsee. Der längste von allen Tunnels wird mir doch jetzt zu gefährlich. Ich weiche auf einen schmalen Gehweg neben der Strasse aus und lasse die Autos in sicherer Entfernung vorbeirauschen (dieser Tunnel ist mittlerweile für Radfahrer gesperrt und man darf die viel schönere ehemalige Trasse oberhalb einer tiefen Schlucht benutzen, ohne sie mit Autos oder Motorradfahrer teilen zu müssen, klasse). Einsetzender Nieselregen juckt mich jetzt überhaupt nicht, der bringt willkommene Abkühlung. Denn die kann ich jetzt brauchen. Am Grimselsee das beeindruckende Grimsel Hospiz und endlich kündigt sich die letzte Serpentinengruppe an. Ich will die 2 Stunden unterbieten, mein wichtigstes Lebensziel in diesem Moment.
Alles wird unwichtig, auch die Schmerzen in meinen Oberschenkeln und das Brennen in der Lunge. Ich fahre am Anschlag, voll im anaeroben Bereich. Nach einer endlos langen Traverse die letzte Kurve an der Abzweigung zum Oberaarsee. Ich denke an meinen schwersten Marathon und komme zu der Überzeugung, dass der noch viel schlimmer gewesen ist. Also werde ich es auch heute schaffen, ohne Krämpfe, ohne Herzinfarkt und ohne vom Rad zu fallen. Ich setzte alles in meinen Körper. Hoffentlich kommt jetzt kein Fußgänger über diesen verdammten Zebrastreifen ein paar Meter vor der Passhöhe, den müsste ich sonst über den Haufen fahren, anhalten kommt jedenfalls nicht in Frage. Aber es geht gut und ich schaffe es mit letzter Kraft, vor dem Abbremsen die Uhr zu drücken. Ich habe Angst auf die Uhr zu sehen, alles über 2 Stunden wäre eine Katastrophe. Man hat ein Einsehen mit solch einer armseligen Kreatur wie mir und ich lese zitternd und japsend 1:58:47, gerettet. Ich könnte die Welt umarmen.
Zur Belohnung gönne ich mir ganze 8 Minuten Pause um an einem Kiosk wieder diese ekelhaften Riegel aus Ovomaltine zu kaufen, die ich schon die ganze Zeit gegessen habe. Mensch muss ich fertig ausgesehen haben, die Dame am Kiosk sieht mich ganz komisch an (später am Auto sehe ich in den Spiegel, mein ganzes Gesicht ist verschmiert und um meinen Mund herum alles braun von diesen Riegeln). Ein kurzes Flachstück von 500 m vorbei am Totensee und es geht zum letzten Streich hinunter in die Abfahrt nach Gletsch. Das phantastische Panorama hier oben habe ich leider nicht richtig wahrgenommen. Nach dem ersten Geschwindigkeitsrausch der Schock: Baustelle, Strassendecke aufgerissen, Schotter. Ich bin fast am Verzweifeln, alle Planungen dahin. Ich springe ab und schiebe so schnell es geht mein Rad durch dieses unwirtliche Stück Erde. Aber ich habe wieder mal Glück. Nach ein paar hundert Metern ist der Spuk vorbei und der Rausch kann weitergehen. Bis Gletsch habe ich lediglich 2 Minuten und 16 Sekunden gegenüber den geplanten 12 Minuten verloren, das ist noch mal gut gegangen. Ich gönne mir eine letzte Pause von fast einer Minute in Gletsch um mich zum Angriff auf den Furkapass zu sammeln, Erholung muss sein, aber ich habe jetzt keinen Zweifel mehr, dass ich da ohne Probleme hochkommen werde.
Der Blick von Gletsch aus Richtung Passhöhe und Rhonegletscher ist sagenhaft, nur diese steile Rampe kurz vor Hotel Belvedere ist furchteinflößend. Leicht geht es die erste Serpentinengruppe bergauf. Ich spüre keine Anstrengung mehr, so als wenn ich gerade erst gestartet wäre. Die Auto- und Motorradfahrer, welche mich dauernd überholen, tun mir leid, sie wissen nicht, was ihnen entgeht. Mit dem Fahrrad hier hoch ist das einzig wahre, die volle Befriedigung, das Verschmelzen mit den Elementen. An der Brücke über den Muttbach kommt wieder diese Almhütte. Auch heute werde ich dort keinen Ziegenkäse kaufen, vielleicht das nächste mal (bis heute habe ich da noch nichts gekauft). Die steile Rampe mit 15% Steigung naht, doch ich nehme Sie ohne merklich langsamer zu werden. Ich lege mich in die Rechtskurve ums Hotel Belvedere, wie von Sinnen, unzurechnungsfähig und nur mit einem Ziel. Die letzten beiden Kilometer werden zur Triumphfahrt. Endorphine durchströmen meinen Körper (hallo Jan), ich bin wie in Trance. Ich kenne dieses Gefühl vom Marathon, wenn man an gar nichts mehr denkt, sich nur dem Rausch hingibt, sich auf seinen Körper und seine Mission konzentriert und scheinbar mühelos die größten Anstrengungen unternimmt. Ich fahre, ach was, ich fliege mit Tempo 30 der Passhöhe entgegen und kann es kaum erwarten, oben anzukommen. Jetzt noch ein Endspurt, alles was drin ist und dann kommt das Passschild: Furkapass, 2436 m. Der Druck auf die Uhr, unzählige Male heute exerziert, er wird jetzt zum Ritual.
Ohne Angst schaue ich auf die Uhr, ich weis es einfach, dass dieser letzte Pass noch einmal schneller als geplant gewesen ist, 0:48:53. Auf meinem Tourenplaner stehen da 50 Minuten, lächerlich.
Wenn die anderen hier oben wüssten, was ich hinter mir habe und was gerade in mir vorgeht. Ich werde es ihnen nicht verraten, behalte mein Geheimnis für mich. Es ist jetzt 19:39 Uhr, heute Vormittag um 11:17 Uhr bin ich von der anderen Seite hier oben angekommen, unfassbar, wie schnell die Zeit vergangen ist. Aber die Realität holt mich 10 Minuten später wieder ein. Ich muss runter. Diesmal unterwegs leider kein Halt für meinen Lieblingsblick runter Richtung Gletsch und Grimselpass, auch fahre ich zum x-ten mal am Rhonegletscher vorbei ohne abzusteigen. Jetzt merk ich erst, wie weh mein Rücken und meine Schultern tun, das macht mir beim Bremsen ganz schön zu schaffen. Aber die geplanten 17 Minuten bis Gletsch unterbiete ich locker um 1 Minute und 20 Sekunden. Ich rausche an der Abzweigung zum Grimselpass vorbei, es wird schon keiner von rechts kommen. Dann die letzte Serpentinengruppe bis zum Restaurant Rhonequelle runter und über Oberwald und Obergesteln hole ich bis zum Ausgangspunkt in Ulrichen mit 0:19:02 noch einmal 58 Sekunden gegenüber meinem Plan. Ein letzter Druck auf die Uhr und die Tour ist schlagartig vorbei. Ich bin überwältigt. Es ist jetzt genau 20:24 Uhr und bin damit 3 Minuten früher angekommen, als ich ursprünglich geplant hatte. Meine Fahrzeit beträgt 11:45:37. Mit insgesamt 1:25:15 Pause habe ich also 13:10:52 gebraucht. Wenn man die Zeit für alle Anstiege zusammenzählt, ergibt sich eine Gesamtzeit von 8:27:06, gerade mal 2 Minuten und 54 Sekunden schneller als vorausberechnet. Mein Tacho zeigt 239,7 km, 300 m weniger als die Schätzung nach Karte. Perfekt.
Dank an die Generalkarte, dem Schweizer Touring Club, Eduard Denzel, Fa. Borland für das Programm Turbo Basic. Besonderen Dank an mein Fahrrad, das mich so tapfer und ohne Defekt über die Strecke getragen hat.
Auf der Rückfahrt nach Fiesch verfalle ich in eine Art Melancholie, ich bin traurig, dass alles vorüber ist. Eigentlich sollte ich froh sein, dass die Strapazen überstanden sind, aber irgendwie fühle ich mich wie herausgerissen aus einer anderen, schöneren Welt, in der ich mich über 13 Stunden befunden habe, und zwar ganz alleine ...
Nachtrag:
Alles, was ich hier von mir gegeben habe, ist wahr. So etwas verrücktes kann man sich gar nicht ausdenken. Nach der Tour habe ich mein Maschinenbaustudium erfolgreich zu Ende gebracht und eine gutbezahlte, anspruchsvolle Tätigkeit in einem Weltunternehmen angenommen. Mein Verstand kann also keinen bedeutenden Schaden davongetragen haben.
Bereits am nächsten Tag war ich mit der Planung einer Radtour über 10 900 Höhenmetern am Stilfer Joch beschäftigt, 7 mal rauf und runter. Keine Ahnung, warum ich die dann nie mehr durchgeführt habe.
Am 3. Juli 1988 nahm ich erstmals an einem Radmarathon teil (Dolomitenradmarathon mit 184 km und 5300 Höhenmetern). Spätestens da wusste ich, was für ein Stümper ich am Berg bin.
Am 31.12.2002 habe ich es geschafft, den Kandel im Schwarzwald hochzufahren, ohne die Zeit zu stoppen. Die hab ich nur geschätzt. Und ich muss gestehen, es hat trotzdem Spaß gemacht.
Irgendwann werde ich versuchen, diese Tour zu wiederholen.
7 gefahrene Pässe
Furkapass, St. Gotthardpass, Grimselpass, Sustenpass, Nufenenpass, Oberalppass, SchöllenenschluchtStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am