Von TicinoBergler46 –
Bezwingt der Gavia mich?
Frühmorgens gemeinsam ab Basel machen wir das Höhentraining mit dem Auto (Julier, Bernina, Aprica). Start in Ponte di Legno erst gegen Mittag. Ab Bormio wäre kürzer gewesen, ich „bestehe“ aber darauf, die schönere Südauffahrt jungfräulich bergauf zu fahren.
Reto kennt schon die Strecke schon als Abfahrt. Ich dagegen fahre ehrfürchtig an dem Schild „Passo di Gavia“ vorbei. Einer der ganz großen und hohen Pässe soll mein werden. Wer wollte unserem QD-Chef Jan widersprechen, der in der Beschreibung formulirt: „Der Gaviapass ist nach unserer Meinung einer der absolut schönsten Pässe der Alpen“? Wie oft habe ich Tourenberichte in QD zum Gavia gelesen, wie oft die Fotos studiert. Jetzt spüre ich ihn, nehme die Witterung auf, ich will seine Schönheit genießen, nicht ihn bezwingen. Mit dem Beginn der Kehren oberhalb von Pezzo hält der Gavia Reto und mich gefangen. Immer höher steigen wir über dem Valle delle Messi hinauf. Immer mehr Berge werden sichtbar: auf der anderen Talseite Monte Coleazzo(3006m) und Punta di Pietra Rossa(3283m) und hinter uns das gewaltige Adamello-Massiv. Die weißen Sommerwolken lassen sie noch höher erscheinen. Reto und ich versuchen die wunderbare Stimmung in Fotos einzufangen. Die schmale Straße bremst den nicht übermäßigen Motorverkehr auf ein Velo-verträgliches Tempo (mit Ausnahmen). Den Tunnel durchfahren wir mit Helmleuchte, auf dem Rückweg wollen wir Manfred’s Empfehlung folgen, auf der alten Straße das Flair des früheren Gavia zu verspüren. Aber auch so verspüren Reto und ich den Respekt vor der großartigen Bergwelt, erst recht auf dem Pass, wo wir die schneebedeckten Gipfel des Punta San Matteo(3678m) und der Königsspitze/Il Gran Zebru(3851m) bewundern.
Ich schiebe meine weichen Knie der Höhe zu, ebenso mein flaues Gefühl im Magen. Wir werfen uns in die Abfahrt, die sehr abwechslungs- und aussichtsreich bis Santa Catarina(1734m) ist. Der weitere Weg nach Bormio ist weniger attraktiv. Unten ist es recht heiß und ich weiß, der Rückweg wird mühsam. Meine Erwartungen werden übertroffen, ich muss ständig aus dem Sattel und die Beine werden viel zu müde. Ich kündige Reto an, dass ich in Santa Catarina eine Stretch- und Esspause machen muss. Energie durch Gel muss dort her, was meinem Magen den Rest gibt. Ich lege mich auf eine Granitmauer zum Ausruhen. Reto ist erkennbar besorgt, was meinen (an sich unverbesserlichen) Optimismus aber nicht aktiviert.
Ich zwinge mich wieder aufs Velo. Gut, dass es keine ehrenhafte Alternative gibt, der Vorteil des doppio greift: man muss wieder zurück. Ich entschuldige mich bei Reto, dass ich ungewohnt unkommunikativ bin und bitte ihn, mit Erzählungen von seinem Trip nach Bratislava mich abzulenken. Neben Magenweh und Übelkeit bekomme ich bösartige Krämpfe in den Innenseiten der Oberschenkel, die mich immer wieder zum Anhalten zwingen. Magnesium habe ich dabei, mute es aber meinem Magen nicht auch noch zu. Wie kann man von schlechtem Magen Mangel-Erscheinungen wie Krämpfe bekommen?? Meine Gänge werden immer kleiner, mein Schweigen immer länger. Noch nie in meiner 5-jährigen Berg-Velofahrer-Zeit ist es mir so schlecht gegangen. Vor allem, was ist morgen?? Ich kann doch jetzt unmöglich auf den Stelvio verzichten! Reto fotografiert mich gnädigerweise nur aus der Entfernung, ein Gesichtsfoto hätte sicher einen starken „Weiß- oder Grünstich“. Wie schon bei der Abfahrt merke ich aber irgendwie trotzdem, dass die Auffahrt außerordentlich abwechslungsreich und landschaftlich schön ist. Abwechslungsreich heißt aber jetzt unrhytmisch anstrengend. Reto lenkt mich aber doch ab mit der Schilderung seiner Schneeregen-Fahrt auf den Stelvio, Übernachtung dort und dem Folgetag über den Gavia, Mortirolo, Bernina nach Samedan. Was ist das heute für eine Spazierfahrt dagegen, denke ich mir und ich erreiche irgendwie das letzte Flachstück und dann den Pass. Die Abfahrt mit prächtigen Ausblicken ist ein landschaftlich schöner Abschluss.
Im heißen Auto finde ich eine ebenso heiße Cola-Flasche, erinnere mich an die Wirksamkeit gegen Magenweh und Übelkeit und trinke sie in kleinen Schlucken leer. Wir müssen noch nach Prad, unseren Startpunkt für den Stelvio. Nein, nicht über den Stelvio wegen der „Jungfräulichkeit“. Am Passo Tonale ist klar, dass das Cola hilft. Reto ist beim Autofahren auch schnell. Trotzdem dauert es 3 Stunden über Meran nach Prad. Im Auto verhandle ich mit einer Dame im reservierten Hotel, dass wir trotz Küchenschluss um 21h noch Pasta bekommen (mein „gnädige Frau“ erweicht sie schließlich, ich denke wieder ans Essen!). Der (deutsche) Koch serviert uns große Mengen, geschmack-los aber Kohlehydrat-reich.
So endet ein für mich schwieriger Tag doch noch gut.
Kommentar Reto:
Zu Beginn des Gavia fährt der Klaus ungewohnt schnell, und ich frage mich, ob das so gut kommt. Ach was, er ist ja fit, hat mehr Höhenmeter dieses Jahr in den Knochen als ich, und ich bin auch nicht der Allerfaulste, wieso mache ich mir Sorgen? Auf dem Rückweg zerlegt es ihn dann aber regelrecht. Und das noch weit unten. Wie kann das sein? Hitze müßte er als Wahltessiner eigentlich kennen, er klagt über Magenprobleme und Krämpfe. Was soll ich sagen? Ach Klaus, ist nicht mehr weit, nur noch läppische 1000 Höhenmeter. Das machst du noch vor dem Frühstück!. Natürlich macht der Klaus häufig 1000hm bevor der Tag richtig anbricht… Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie lange 1000hm sein können, wenn man so richtig am Ende ist. Entsprechend bin ich besorgt, auch für die kommenden Tage. Irgendwie schafft er es dann doch noch, der Kaltduscher. Hätte ich ja wissen müssen. Die Irrfahrt danach nach Prato mit diversen gesperrten Strassen und die masslos überdimensionierte Pastaladung danach passen dann irgendwie zu diesem verrückten Tag, der mir sicher lange in Erinnerung bleiben wird.
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren