Den Everest an einem Tag 302,2 km / 9258 Hm
Zentralschweiz, Lepontinische Alpen, Urner Alpen, Alpen, Valle Levantina, Berner Oberland, Berner Alpen, Surselva, Glarner Alpen, Wallis, Uri, Tessin, Bern, Graubünden
Redaktionell bestätigte Tour von tortenbäcker
Von tortenbäcker –
Den Everest an einem Tag
Dieser Erlebnisbericht beschreibt nicht nur meine Etappe des 11. August 2008 an sich, sondern auch, wie es dazu gekommen ist.
Rückblick: Im August 2007 fahre ich sechs hohe Alpenpässe an einem Tag und bewältige dabei 6600 Höhenmeter. Am Ende der Tour bin ich völlig am Ende. Mit dem Wissen, alles gegeben zu haben bin ich mit dem Tag sehr zufrieden. Das eindrückliche Erlebnis gräbt sich tief in mein Bewusstsein ein und mein Inneres sagt mir, dass in der Ecke noch mehr zu holen ist. Die Saat ist gesät.
Ich möchte schneller in Form kommen 2008 und beschliesse, auch den Winter über die Beine zu belasten. Da radfahren im Winter in unseren Breitengraden eine ziemlich kalte Angelegenheit sein kann bin ich mehrheitlich am laufen. Sobald es geht steige ich aber auf den Sattel. Leider sind die Pässe auch im Frühling noch lange schneebedeckt und ich begnüge mich mit kleinen Auffahrten und Flachetappen. Die Tour um die Rigi oder den Vierwaldstättersee gehören zu meinen Strecken. Ab und an jogge ich von der Arbeit nach Hause (26km, 320hm). Alles in allem gönne ich mir ziemlich wenig Erholung, mein Körper entsendet gewisse Warnsignale, dass ich es übertreibe. Leider ignoriere ich diese und laufe ungebremst in die Katastrophe. Mitte Mai ist es soweit – nach einer für mich nicht unüblichen Laufstrecke tun mir die Quadrizeps so sehr weh, dass ich abbrechen und den Heimweg leicht hinkend bewältigen muss. Eine Woche später gilt es nach einem Klettertag 150 Höhenmeter Abstieg zu überwinden. Die Oberschenkel schmerzen dabei dermassen, dass mir klar wird, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Kurz darauf bin ich beim Sportarzt im Nottwil und dieser ist sehr beeindruckt von meinen Symptomen und meinem Creatin Kinase Wert. Jener ist ein Indikator für die Entzündung der Muskeln. Auf meinem Krankenblatt steht da 8857 U/l mit drei Ausrufezeichen dahinter. Normal ist laut Wikipedia <190 U/l und nach ausgiebigem Training bis 1000 U/l. Da bin ich meilenweit drüber. Die Ärzte haben so etwas auch noch nie gesehen, und es werden noch einige Untersuchen gemacht, die aber allesamt im Sand verlaufen. Einen Monat mache ich praktisch keinen Sport. Auch das Sportklettern lasse ich in der Zeit fast gänzlich sein. Wenn man nur mit Mühe gehen kann macht auch klettern keinen Spass. Die Motivation erreicht den Tiefpunkt. Unterirdisch. Wie soll ich meine Radträume verwirklichen, wenn es den Laufwerkzeugen dermassen schlecht geht? Bis die Form wieder passt, ist die Saison gelaufen, so die Befürchtung. An einem Wochenende bin ich dann auch noch krank, mit knapp 40 Grad Fieber. Da habe ich dann mal üblen Schüttelfrost, so im Stil Parkinson am ganzen Körper. Nichts überlegend mache ich mir ein heisses Bad und setzte mich etwa 30min hinein. Der Parkinson geht weg, soweit so gut. Sobald ich aber das Bad verlasse und mich wieder ins Bett lege fängt die Hölle an. Meine Oberschenkel melden sich zu Wort, ihnen war die Hitze gar nicht genehm. Man kann sich das in etwa folgendermassen vorstellen: Jeder kennt den Schmerz eines Krampfes, er ist intensiv und man muss möglichst sofort dehnen, dann flaut er relativ schnell ab und nach zwei Minuten ist der Spuk mehr oder weniger vorbei. Man nehme jetzt also einen Schmerz mit der Intensität eines Krampfes, etwa ein Drittel fühle sich krampfartig an und der Rest sei ein schreiender, tiefer Schmerz. Der grosse Nachteil gegenüber dem Krampf: Kein Dehnen bringe Besserung, der Schmerz halte praktisch ohne Linderung 20min an, erst dann werde es langsam besser. Schweissgebadet liege ich im Bett, das sind mitunter die längsten 20min meines Lebens.
Mein erster Versuch eines Radausflugs nach der Verletzung endet nach etwa 50 Metern. Die Muskelansätze tun mir immer noch weh und ich breche sofort ab. Erst Ende Juni wage ich wieder einen Pass zu fahren: Meinen Hausberg den Susten ab Erstfeld. Die Beine scheinen zu halten und ich mache an dem Tag über 2000 Höhenmeter. Bei der Arbeit erklären sie mich für durchgeknallt, als ich ihnen sage, dass ich mich dabei geschont habe, da ich ganz langsam gefahren bin. Wenn man Badmington, Golf oder Kegeln schon als Sport betrachtet, dann sind 2000 Höhenmeter tatsächlich schon gigantisch. Für echte Pässefahrer aber natürlich nichts Besonderes (dieser kleine Seitenhieb musste einfach sein :-)). Ab diesem Zeitpunkt versuche ich im wesentlichen einmal die Woche eine Radtour zu unternehmen, wobei ich die Intensität künstlich tief halte, aber die Länge langsam steigere. Mit den langen Pausen dazwischen scheint dies für die Beine ok zu sein, und so fahre ich Ende Juli bereits wieder 5500 Höhenmeter an einem Tag. Erstaunlich problemlos kann ich diese Leistung erbringen, es läge kräftemässig noch mehr drin, denn die Beine fühlen sich auch nach dem letzten Pass noch stark an. Die nachfolgenden Tage ohne nennenswerte Beschwerden (nur normale Müdigkeit) geben mir die Zuversicht, dass der Zustand der Strampelwerkzeuge gut genug ist, um eine richtig lange Etappe zu wagen. Dennoch ist mir die Verletzung noch sehr präsent und ich kann nicht mit 100prozentiger Sicherheit ausschliessen, dass ich mit einer sehr langen Belastung die alten Wunden wieder aufreisse. Aber die Versuchung des Abenteuers ist einfach zu gross, ich muss es probieren. Der Vorteil dieser Art Extrembelastung ist ihre relative Ungefährlichkeit, zumindest mit anderen Abenteuern wie der Bezwingung einer schwierigen Wand in den Bergen verglichen. Während ich auf dem Rad jederzeit abbrechen kann, wenn Wetter oder Kondition unvorteilhaft sind, ist dies in den Bergen nur begrenzt möglich. Ich möchte meine Grenzen kennenlernen, aber dabei nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Man kann jetzt lange philosophische Diskussionen anzetteln, weshalb der Mensch nach seinen Grenzen sucht. Einerseits ist es die Neugierde nach dem Unbekannten, andererseits natürlich auch das Fehlen von dringenderen Problemen. In einer westlichen Welt, in der man sich mit guter Ausbildung nicht um die materielle Sicherheit sorgen machen muss, kreiert sich der Mensch selbst die neuen Herausforderungen. Eine gängige Variante wäre, eine Familie zu gründen und sich damit neue Aufgaben und Pflichten aufzubürden. Das ist aber nicht mein Stil, da fehlt mir das Vater-Gen – ich gehe lieber andere Wege.
Die Woche vor dem geplanten Termin ist ein Kollege aus Deutschland bei mir zu Gast. Er ist neben vielem anderen ein ambitionierter Marathonläufer und kennt sich sehr gut bei Ausdauerbelastungen aus. Ich bespreche mit ihm mein Vorhaben und kriege noch ein paar wertvolle Tipps. Im Internet lese ich zudem über Carbo Loading nach. Um die Speicher der Muskeln und Leber optimal zu füllen, schaufele ich die letzten vier Tage vor dem geplanten Event irrsinnige Mengen an Kohlenhydraten in mich hinein. Man empfiehlt beim Carbo Loading 10g pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Dies macht bei meinem Körpergewicht etwa 800 Gramm Spaghetti täglich – eine ganze Menge. Eine Ausnahme mache ich am Tag X-3, an dem mein deutscher Kollege mich ins Park Hotel in Weggis (die Seleção hat hier als Vorbereitung auf die WM-06 gehaust – eine verwahrloste Bruchbude, wie man sich denken kann) zum Dinner einlädt (danke Hans!!). Als waschechter Gourmet bin ich von den sieben Gängen plus Amuse Bouche plus Wein begeistert und vergesse für kurze Zeit meine kohlenhydratreiche Kost. Man darf diese Ernährungsgeschichten auch nicht zu eng sehen.
Wie sieht nun meine geplante Königsetappe aus? Vor Jahren schon hatte ich die Idee, die Höhe des Mount Everest an einem Tag in Höhenmetern zu fahren. Das wären dann 8847m aufwärts. Für Untrainierte eine wahnwitzige Vorstellung, für Radmarathon Spezialisten allerdings nichts Besonderes. Es gibt einige Radmarathons, die noch bedeutend mehr Leistung fordern, so z.B. das RATA (Race Accross The Alps), bei dem über 500km und etwa 13000 Höhenmeter in einem Eintagesrennen bewältigt werden müssen.
Die Suche nach einer geeigneten Strecke dauert nicht lange. Meine Radheimat bilden die zentralen Alpenpässe Susten, Grimsel, Furka, Nufenen, Gotthard und Oberalp. Jeder dieser Pässe bin ich schon mehrfach gefahren. Der Vorteil dieser Gegend ist das Fehlen von langen Passanfahrten. Kaum ist man bei einem Pass unten angekommen, fängt bereits der nächste Anstieg an. Optimal für mein Vorhaben. Am Tag X-2 findet zufälligerweise das alljährliche Alpenbrevet statt. Die klassische Strecke überwindet dabei 5000 Höhenmeter und die Junior Strecke deren 3500. Würde man beide einanderhängen, so würden nur noch wenige Höhenmeter fehlen. Und so entsteht der Plan, als erstes von Hospental ausgehend die klassische Strecke im Gegenuhrzeiger- und anschliessend die Junior Strecke im Uhrzeigersinn zu bewältigen. Der Dessert soll der Oberalp bilden und schon hat man 9100 Höhenmeter beisammen – so einfach die Theorie!
Am Donnerstag, dem Tag X-4 hat man erstmals eine Ahnung des Wetters für den Tag X. Es ist gewitterhaft und schwülwarm angesagt. Warm ist gut – gewittrig ist schlecht. Diese Prognose bleibt im wesentlichen bis am Sonntag bestehen und ich muss mich entscheiden. Wenn ich es verschiebe, wäre die nächste Möglichkeit Dienstag in einer Woche. Ich beschliesse es zu wagen, ein bisschen Wetterungewissheit erhöht noch den Kick des Unterfangens.
Du schaffst, was du willst!
(Wolfgang Fasching, dreifacher RAAM Gewinner)
So bereite ich am Sonntag alles genau vor. Das Rennrad wird gereinigt und die Pneus auf gut acht bar gepumpt. Alles wird nochmals geprüft. Als Verpflegung nehme ich einerseits die Schweizer Spezialität Biberli (eine Art Lebkuchen mit Mandelfüllung) in achtfacher Ausführung mit, andererseits für die zweite Hälfte des Trips zahlreiche Energy Gels von Sponser. Beides sind sehr gute Energiespender und haben sich auf früheren Touren bewährt. Ich bin ein Verfechter der minimalistischen Ausrüstung. Ein Rucksack kommt für mich nicht in Betracht, es muss alles in meine Trikottaschen passen. Die angepeilte Strecke hat den Vorteil, dass man nach vier Pässen wieder zum Ausgangspunkt zurückkommt und damit nicht den gesamten Proviant von Beginn weg mitschleppen muss.
Am Tag X-2 gehe ich noch klettern, erstmals seit Monaten sind die Bedingungen da wieder top – kühl und trocken. Ein Grund mehr, die Radsaison langsam abzuschliessen und sich meiner Hauptsportart zuzuwenden. Aber dieses eine Mal muss halt noch sein. Ich futtere nach dem klettern neben dem normalen Nachtessen noch ein ganzes Glas Honig. Ich bin eigentlich ein Honigliebhaber, besonders Rosmarinhonig hat es mir angetan, aber in der Menge ist das schon ziemlich übel. Soll aber scheinbar die Speicher nett füllen.
300 km, 8 Pässe, 9100 Höhenmeter
Sonntag nachmittag geht’s dann auf Richtung Hospental. Da quartiere ich mich in einer Pension ein und lege mich früh schlafen. Wie erwartet kriege ich aber kein Auge zu und liege noch wach bis etwa 23:00. Um 00:20 klingelt dann bereits wieder der Wecker, damit war die Nacht gerade mal eine gute Stunde lang. Tja, muss reichen. Im Schnellgang esse ich noch etwas Zopf und Brot, trage Sonnencrème auf, und schon kann es losgehen. Zum Glück hat die Besitzerin nicht vergessen, mir den Garagenschlüssel für’s Rad auch tatsächlich zu hinterlegen, und so starte ich am Montag, 11. August 2008 um 00:40 zu meiner grossen Rundfahrt.
Um in der Dunkelheit genug zu sehen, habe ich mir meine LED Stirnlampe an den Lenker getaped. Unglaublich, wie hell die kleinen Dinger sind, 20m werden da locker ausgeleuchtet. Nach zwanzig Minuten bin ich in Wassen und biege links ab Richtung Sustenpass. Ein Waadtländer überholt mich kurz darauf, es sollte neben einem weiteren Fahrzeug der einzige sein während des gesamten Anstiegs. Die Nacht ist anfänglich sternenklar, der Mond ist nicht zu sehen. Die Dunkelheit macht Eindruck, die nächste grosse Stadt ist weit weg und so erscheinen die Sterne viel heller als üblich. Zweimal leuchtet eine Sternschnuppe am Himmel. In einem Waldstück zu Beginn schalte ich mal das Licht aus – und schon sehe ich die Strasse nicht mehr! Es ist wirklich stockdunkel. Im unbewaldeten Gelände funktioniert dies aber, man kann immerhin die Mittelmarkierung erkennen – genug für meine Zwecke. Hie und da ertönt eine Kuhglocke, sonst hört man nur das Rauschen des Baches zu meiner linken. Am Lenker befindet sich auch meine Pulsuhr. Ich will mit unter 145 Schlägen pro Minute gemütlich aufwärmen und kontrolliere dies ab und zu. Mühelos komme ich kurz vor drei Uhr oben an und ziehe alles an, was ich dabei habe für die lange Abfahrt Richtung Innertkirchen. Leider habe ich die Kälte etwas unterschätzt und so friere ich ein wenig. Die Abfahrt ist trotz Leuchte nicht ganz ungefährlich: Mein Körper möchte um diese Nachtzeit eigentlich am liebsten schlafen und so muss ich mich anstrengen, um die Konzentration hochzuhalten. Koffein, dein Freund und Helfer, hilft mir dabei. Als nächstes steht der Grimselpass auf dem Speiseplan. Ganz locker gehe ich es an. Ab Handegg wird der Himmel langsam heller; ein herrliches Gefühl, in den anbrechenden Tag zu fahren. Der Verkehr ist genauso inexistent wie am Susten, ich geniesse die Einsamkeit in der Natur. Nach langsamen 2:24h erreiche ich knapp nach sechs Uhr die Passhöhe. Die Müdigkeit ist verflogen, meine innere Uhr meldet „Aufwachen!“. Die zweite Abfahrt, nach Ulrichen, macht trotz Kälte Spass, schöne Serpentinen und herrliche Landschaft begleiten mich auf dem Weg. Unten in der Ebene erstrahlt das Weisshorn am Horizont in seiner ganzen Pracht, ein grandioser Anblick. Mit dem nächsten Pass, dem Nufenen, verbindet mich so eine Art Hassliebe. Ich mag ihn, da er in der Regel wenig Verkehr aufweist und landschaftlich schön ist, aber ich hasse ihn, da ich immer, immer und immer gegen den Wind fahren muss. Frühmorgens hoffe ich nun auf angenehmere Windverhältnisse: Vergebens, ein Kampf gegen den Wind ist nach dem ersten Waldstück angesagt. Besser nicht darüber aufregen, man kann es sowieso nicht ändern. Ganz oben zieht vom Tessin her Nebel von Osten über den Pass, auf einmal hat das Wetter von meist blau zu meist bewölkt umgeschaltet. Wenn es jetzt schon zu regnen beginnen sollte, dann kann ich die Uebung gleich abbrechen, weitere fünf Hochgebirgspässe im Regen fahren macht keinen Sinn. Aber noch regnet es nicht und ich nehme die Abfahrt nach Airolo in rasanter Fahrt in Angriff. Da diese nach den ersten Kehren fast schnurgerade ist, kommt dabei eine nette Durchschnittsgeschwindigkeit zustande. Zu Beginn des Gotthardpasses fällt es mir leicht, die Verkehrsregeln zu missachten und die Autostrasse anstatt die Tremola zu fahren. Das ätzende Kopfsteinpflaster-Gerüttel der Tremola kann ich nicht ausstehen. Zudem ist die Autostrasse bei weitem breit genug für Autos mitsamt Fahrrädern. Hier Fahrräder zu verbieten ist reinste Schikane, sonst nichts. Zum Glück werde ich nicht erwischt und 80min später erreiche ich die Passhöhe. Runter nach Hospental macht richtig Laune: Guter Belag, keine engen Kurven. Hier erreiche ich knapp 80km/h. In Hospental schaue ich bei meiner Pension vorbei und rüste den Proviant nach. Die Besitzerin fragt nach, wie es den gewesen sei, und ich kann eigentlich nur Positives berichten. Mit den Worten: „Ich drehe noch eine weitere Runde“ verabschiede ich mich wieder. Das Wetter ist auf der Alpennordseite deutlich besser als im Süden, die Chancen stehen gut, dass es noch eine Weile anhält. Gleich zu Beginn des anschliessenden Furkapasses ereilt mich dann meine erste Krise. Irgendwie fühle ich mich recht kraftlos plötzlich. Fast noch ärgerlicher sind die zahlreichen Militärlastwagen, die an mir vorbeidonnern und mich mit ihren Dieselabgasen beglücken. Abschaffen den Verein. Irgendwie geht der Schwächeanfall aber auch wieder vorbei und so rolle ich in gewohnt gemächlichem Tempo Richtung Passhöhe. Kurz nach Mittag ist der höchste Punkt erreicht und so führt mich der Weg wieder Richtung Grimsel, diesmal von der Südseite her. Mit bloss 400 Höhenmeter ist der Pass Nummer sechs schnell abgehakt und schon schiesse ich hinab Richtung Innertkirchen. In Gutannen, nach zwei Dritteln der Strecke, genehmige ich mir gewohnheitsgemäss ein Stück Haslikuchen, ein Blätterteiggebäck mit Haselnussfüllung. Die Anbieterin dessen kennt mich mittlerweile, ich bin schon fast Stammgast. Erfreulicherweise zeigt sich das Wetter von seiner angenehmen Seite, trotz wolkigem Himmel sieht es nicht unmittelbar nach Regen aus. Eher besser als die Wetterprognose es haben wollte. Langsam merke ich schon, dass ich nicht mehr der Frischeste bin. Der Druck in den Pedalen hat etwas nachgelassen, womit auch der Puls etwas zurückgegangen ist. Positiver Nebeneffekt: Die Überzockgefahr ist gebannt. Manchmal schmerzt mein linkes Handgelenk leicht und der Nacken ist auch etwas steif. Aber alles Bagatellen, es geht weiter. In Innertkirchen angekommen wartet der längste Anstieg auf mich: 1600 Höhenmeter und 27 Kilometer sind es bis zum Sustenpass. In meinem gewohnten Rhythmus kurble ich Meter für Meter höher, mir spielt das Tempo keine Rolle. Ich möchte ankommen, sonst nichts. Immer wieder halte ich kurz an, um etwas Energy Gel zu mir zu nehmen. Kurz nach Steingletscher erleide ich meine zweite Krise: Der Magen meldet eigenartige Signale, die ich aber gekonnt ignoriere. Zum Glück ist der Scheitelpunkt in Griffweite und so lasse ich mich nicht aufhalten. Das Wetter hat nun endgültig gedreht: Knapp 100m vor der Passhöhe fallen die ersten Tropfen. Jetzt bloss so schnell wie’s geht die Abfahrt hinter einen bringen, solange die Strasse noch trocken ist! Und tatsächlich, es regnet zwar leicht bei der Abfahrt, aber die Strasse bleibt recht trocken und so kann ich mit vollem Tempo Wassen ansteuern. Die Tropfen peitschen mir ins Gesicht, Wasser fühlt sich bei 60 bis 70 km/h ganz schön hart an. Kaum bin ich unten, öffnet Petrus endgültig die Schleusentore und ich bin binnen Minuten klatschnass. In diesem Zustand schleiche ich anschliessend die Schöllenenschlucht hoch, die vier langen Galerien bieten hier immerhin etwas Schutz. Oben in Andermatt zweigt dann die Strasse links ab, zum allerletzten Pass von heute, dem Oberalp. Noch 600 Höhenmeter. Um warm zu bleiben, forciere ich etwas das Tempo und bin überrascht, dass da schon noch ein paar Körner übrig geblieben sind. Ekliges Sauwetter. Ich lasse mir den Erfolg aber nicht nehmen und stehe glücklich und etwas stolz nach 18:24h auf dem achten Pass. Die Abfahrt danach ist arktisch kalt, ich schlottere dermassen, dass sogar das Lenkrad ein wenig wackelt! Und so erreiche ich nach etwas über 300km und ziemlich genau 9100 Höhenmetern wieder meine Pension in Hospental. Als erstes ist eine sehr lange warme Dusche angesagt, um unter anderem die eingefrorenen Füsse wieder aufzutauen. Danach genehmige ich mir eine hart erarbeitete Pizza und lege mich verdient zur Ruhe. Diesmal fällt es mir sehr leicht, einzuschlafen…
ps 1: Die nachfolgenden drei Tage bin ich etwas müde am ganzen Körper, aber alles in allem kann ich die Belastung gut wegstecken.
ps 2: Ein Mitarbeiter erklärt mich nach dieser Aktion zum verrücktesten Menschen, den er kenne. Eine Ehre, würde ich meinen, nichts ist langweiliger, als normal zu sein.
ps 3: Was mache ich nächstes Jahr? Ich habe da bereits ein paar Ideen.
ps 4: Ich bin mit nur gut 2000km in den Beinen angetreten, war aber scheinbar genug
ps 5: Meine Pulsuhr meint, dass ich 13250kcal vernichtet habe. Das macht zb 3.7kg Spaghetti
ps 6: Meine kleinste Uebersetzung: 30/23. Damit kommt man überall hoch.
ps 7: Ich hätte erwartet, näher an meine Grenzen zu kommen, alles in allem war die Aktion kraftmässig nie in Gefahr.
ps 8: Ich habe noch einen kleines Video zusammengebastelt: (http://www.youtube.com/watch?v=Y_kEAIYCNjQ)
Dieser Erlebnisbericht beschreibt nicht nur meine Etappe des 11. August 2008 an sich, sondern auch, wie es dazu gekommen ist.
Rückblick: Im August 2007 fahre ich sechs hohe Alpenpässe an einem Tag und bewältige dabei 6600 Höhenmeter. Am Ende der Tour bin ich völlig am Ende. Mit dem Wissen, alles gegeben zu haben bin ich mit dem Tag sehr zufrieden. Das eindrückliche Erlebnis gräbt sich tief in mein Bewusstsein ein und mein Inneres sagt mir, dass in der Ecke noch mehr zu holen ist. Die Saat ist gesät.
Ich möchte schneller in Form kommen 2008 und beschliesse, auch den Winter über die Beine zu belasten. Da radfahren im Winter in unseren Breitengraden eine ziemlich kalte Angelegenheit sein kann bin ich mehrheitlich am laufen. Sobald es geht steige ich aber auf den Sattel. Leider sind die Pässe auch im Frühling noch lange schneebedeckt und ich begnüge mich mit kleinen Auffahrten und Flachetappen. Die Tour um die Rigi oder den Vierwaldstättersee gehören zu meinen Strecken. Ab und an jogge ich von der Arbeit nach Hause (26km, 320hm). Alles in allem gönne ich mir ziemlich wenig Erholung, mein Körper entsendet gewisse Warnsignale, dass ich es übertreibe. Leider ignoriere ich diese und laufe ungebremst in die Katastrophe. Mitte Mai ist es soweit – nach einer für mich nicht unüblichen Laufstrecke tun mir die Quadrizeps so sehr weh, dass ich abbrechen und den Heimweg leicht hinkend bewältigen muss. Eine Woche später gilt es nach einem Klettertag 150 Höhenmeter Abstieg zu überwinden. Die Oberschenkel schmerzen dabei dermassen, dass mir klar wird, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Kurz darauf bin ich beim Sportarzt im Nottwil und dieser ist sehr beeindruckt von meinen Symptomen und meinem Creatin Kinase Wert. Jener ist ein Indikator für die Entzündung der Muskeln. Auf meinem Krankenblatt steht da 8857 U/l mit drei Ausrufezeichen dahinter. Normal ist laut Wikipedia <190 U/l und nach ausgiebigem Training bis 1000 U/l. Da bin ich meilenweit drüber. Die Ärzte haben so etwas auch noch nie gesehen, und es werden noch einige Untersuchen gemacht, die aber allesamt im Sand verlaufen. Einen Monat mache ich praktisch keinen Sport. Auch das Sportklettern lasse ich in der Zeit fast gänzlich sein. Wenn man nur mit Mühe gehen kann macht auch klettern keinen Spass. Die Motivation erreicht den Tiefpunkt. Unterirdisch. Wie soll ich meine Radträume verwirklichen, wenn es den Laufwerkzeugen dermassen schlecht geht? Bis die Form wieder passt, ist die Saison gelaufen, so die Befürchtung. An einem Wochenende bin ich dann auch noch krank, mit knapp 40 Grad Fieber. Da habe ich dann mal üblen Schüttelfrost, so im Stil Parkinson am ganzen Körper. Nichts überlegend mache ich mir ein heisses Bad und setzte mich etwa 30min hinein. Der Parkinson geht weg, soweit so gut. Sobald ich aber das Bad verlasse und mich wieder ins Bett lege fängt die Hölle an. Meine Oberschenkel melden sich zu Wort, ihnen war die Hitze gar nicht genehm. Man kann sich das in etwa folgendermassen vorstellen: Jeder kennt den Schmerz eines Krampfes, er ist intensiv und man muss möglichst sofort dehnen, dann flaut er relativ schnell ab und nach zwei Minuten ist der Spuk mehr oder weniger vorbei. Man nehme jetzt also einen Schmerz mit der Intensität eines Krampfes, etwa ein Drittel fühle sich krampfartig an und der Rest sei ein schreiender, tiefer Schmerz. Der grosse Nachteil gegenüber dem Krampf: Kein Dehnen bringe Besserung, der Schmerz halte praktisch ohne Linderung 20min an, erst dann werde es langsam besser. Schweissgebadet liege ich im Bett, das sind mitunter die längsten 20min meines Lebens.
Mein erster Versuch eines Radausflugs nach der Verletzung endet nach etwa 50 Metern. Die Muskelansätze tun mir immer noch weh und ich breche sofort ab. Erst Ende Juni wage ich wieder einen Pass zu fahren: Meinen Hausberg den Susten ab Erstfeld. Die Beine scheinen zu halten und ich mache an dem Tag über 2000 Höhenmeter. Bei der Arbeit erklären sie mich für durchgeknallt, als ich ihnen sage, dass ich mich dabei geschont habe, da ich ganz langsam gefahren bin. Wenn man Badmington, Golf oder Kegeln schon als Sport betrachtet, dann sind 2000 Höhenmeter tatsächlich schon gigantisch. Für echte Pässefahrer aber natürlich nichts Besonderes (dieser kleine Seitenhieb musste einfach sein :-)). Ab diesem Zeitpunkt versuche ich im wesentlichen einmal die Woche eine Radtour zu unternehmen, wobei ich die Intensität künstlich tief halte, aber die Länge langsam steigere. Mit den langen Pausen dazwischen scheint dies für die Beine ok zu sein, und so fahre ich Ende Juli bereits wieder 5500 Höhenmeter an einem Tag. Erstaunlich problemlos kann ich diese Leistung erbringen, es läge kräftemässig noch mehr drin, denn die Beine fühlen sich auch nach dem letzten Pass noch stark an. Die nachfolgenden Tage ohne nennenswerte Beschwerden (nur normale Müdigkeit) geben mir die Zuversicht, dass der Zustand der Strampelwerkzeuge gut genug ist, um eine richtig lange Etappe zu wagen. Dennoch ist mir die Verletzung noch sehr präsent und ich kann nicht mit 100prozentiger Sicherheit ausschliessen, dass ich mit einer sehr langen Belastung die alten Wunden wieder aufreisse. Aber die Versuchung des Abenteuers ist einfach zu gross, ich muss es probieren. Der Vorteil dieser Art Extrembelastung ist ihre relative Ungefährlichkeit, zumindest mit anderen Abenteuern wie der Bezwingung einer schwierigen Wand in den Bergen verglichen. Während ich auf dem Rad jederzeit abbrechen kann, wenn Wetter oder Kondition unvorteilhaft sind, ist dies in den Bergen nur begrenzt möglich. Ich möchte meine Grenzen kennenlernen, aber dabei nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Man kann jetzt lange philosophische Diskussionen anzetteln, weshalb der Mensch nach seinen Grenzen sucht. Einerseits ist es die Neugierde nach dem Unbekannten, andererseits natürlich auch das Fehlen von dringenderen Problemen. In einer westlichen Welt, in der man sich mit guter Ausbildung nicht um die materielle Sicherheit sorgen machen muss, kreiert sich der Mensch selbst die neuen Herausforderungen. Eine gängige Variante wäre, eine Familie zu gründen und sich damit neue Aufgaben und Pflichten aufzubürden. Das ist aber nicht mein Stil, da fehlt mir das Vater-Gen – ich gehe lieber andere Wege.
Die Woche vor dem geplanten Termin ist ein Kollege aus Deutschland bei mir zu Gast. Er ist neben vielem anderen ein ambitionierter Marathonläufer und kennt sich sehr gut bei Ausdauerbelastungen aus. Ich bespreche mit ihm mein Vorhaben und kriege noch ein paar wertvolle Tipps. Im Internet lese ich zudem über Carbo Loading nach. Um die Speicher der Muskeln und Leber optimal zu füllen, schaufele ich die letzten vier Tage vor dem geplanten Event irrsinnige Mengen an Kohlenhydraten in mich hinein. Man empfiehlt beim Carbo Loading 10g pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Dies macht bei meinem Körpergewicht etwa 800 Gramm Spaghetti täglich – eine ganze Menge. Eine Ausnahme mache ich am Tag X-3, an dem mein deutscher Kollege mich ins Park Hotel in Weggis (die Seleção hat hier als Vorbereitung auf die WM-06 gehaust – eine verwahrloste Bruchbude, wie man sich denken kann) zum Dinner einlädt (danke Hans!!). Als waschechter Gourmet bin ich von den sieben Gängen plus Amuse Bouche plus Wein begeistert und vergesse für kurze Zeit meine kohlenhydratreiche Kost. Man darf diese Ernährungsgeschichten auch nicht zu eng sehen.
Wie sieht nun meine geplante Königsetappe aus? Vor Jahren schon hatte ich die Idee, die Höhe des Mount Everest an einem Tag in Höhenmetern zu fahren. Das wären dann 8847m aufwärts. Für Untrainierte eine wahnwitzige Vorstellung, für Radmarathon Spezialisten allerdings nichts Besonderes. Es gibt einige Radmarathons, die noch bedeutend mehr Leistung fordern, so z.B. das RATA (Race Accross The Alps), bei dem über 500km und etwa 13000 Höhenmeter in einem Eintagesrennen bewältigt werden müssen.
Die Suche nach einer geeigneten Strecke dauert nicht lange. Meine Radheimat bilden die zentralen Alpenpässe Susten, Grimsel, Furka, Nufenen, Gotthard und Oberalp. Jeder dieser Pässe bin ich schon mehrfach gefahren. Der Vorteil dieser Gegend ist das Fehlen von langen Passanfahrten. Kaum ist man bei einem Pass unten angekommen, fängt bereits der nächste Anstieg an. Optimal für mein Vorhaben. Am Tag X-2 findet zufälligerweise das alljährliche Alpenbrevet statt. Die klassische Strecke überwindet dabei 5000 Höhenmeter und die Junior Strecke deren 3500. Würde man beide einanderhängen, so würden nur noch wenige Höhenmeter fehlen. Und so entsteht der Plan, als erstes von Hospental ausgehend die klassische Strecke im Gegenuhrzeiger- und anschliessend die Junior Strecke im Uhrzeigersinn zu bewältigen. Der Dessert soll der Oberalp bilden und schon hat man 9100 Höhenmeter beisammen – so einfach die Theorie!
Am Donnerstag, dem Tag X-4 hat man erstmals eine Ahnung des Wetters für den Tag X. Es ist gewitterhaft und schwülwarm angesagt. Warm ist gut – gewittrig ist schlecht. Diese Prognose bleibt im wesentlichen bis am Sonntag bestehen und ich muss mich entscheiden. Wenn ich es verschiebe, wäre die nächste Möglichkeit Dienstag in einer Woche. Ich beschliesse es zu wagen, ein bisschen Wetterungewissheit erhöht noch den Kick des Unterfangens.
Du schaffst, was du willst!
(Wolfgang Fasching, dreifacher RAAM Gewinner)
So bereite ich am Sonntag alles genau vor. Das Rennrad wird gereinigt und die Pneus auf gut acht bar gepumpt. Alles wird nochmals geprüft. Als Verpflegung nehme ich einerseits die Schweizer Spezialität Biberli (eine Art Lebkuchen mit Mandelfüllung) in achtfacher Ausführung mit, andererseits für die zweite Hälfte des Trips zahlreiche Energy Gels von Sponser. Beides sind sehr gute Energiespender und haben sich auf früheren Touren bewährt. Ich bin ein Verfechter der minimalistischen Ausrüstung. Ein Rucksack kommt für mich nicht in Betracht, es muss alles in meine Trikottaschen passen. Die angepeilte Strecke hat den Vorteil, dass man nach vier Pässen wieder zum Ausgangspunkt zurückkommt und damit nicht den gesamten Proviant von Beginn weg mitschleppen muss.
Am Tag X-2 gehe ich noch klettern, erstmals seit Monaten sind die Bedingungen da wieder top – kühl und trocken. Ein Grund mehr, die Radsaison langsam abzuschliessen und sich meiner Hauptsportart zuzuwenden. Aber dieses eine Mal muss halt noch sein. Ich futtere nach dem klettern neben dem normalen Nachtessen noch ein ganzes Glas Honig. Ich bin eigentlich ein Honigliebhaber, besonders Rosmarinhonig hat es mir angetan, aber in der Menge ist das schon ziemlich übel. Soll aber scheinbar die Speicher nett füllen.
300 km, 8 Pässe, 9100 Höhenmeter
Sonntag nachmittag geht’s dann auf Richtung Hospental. Da quartiere ich mich in einer Pension ein und lege mich früh schlafen. Wie erwartet kriege ich aber kein Auge zu und liege noch wach bis etwa 23:00. Um 00:20 klingelt dann bereits wieder der Wecker, damit war die Nacht gerade mal eine gute Stunde lang. Tja, muss reichen. Im Schnellgang esse ich noch etwas Zopf und Brot, trage Sonnencrème auf, und schon kann es losgehen. Zum Glück hat die Besitzerin nicht vergessen, mir den Garagenschlüssel für’s Rad auch tatsächlich zu hinterlegen, und so starte ich am Montag, 11. August 2008 um 00:40 zu meiner grossen Rundfahrt.
Um in der Dunkelheit genug zu sehen, habe ich mir meine LED Stirnlampe an den Lenker getaped. Unglaublich, wie hell die kleinen Dinger sind, 20m werden da locker ausgeleuchtet. Nach zwanzig Minuten bin ich in Wassen und biege links ab Richtung Sustenpass. Ein Waadtländer überholt mich kurz darauf, es sollte neben einem weiteren Fahrzeug der einzige sein während des gesamten Anstiegs. Die Nacht ist anfänglich sternenklar, der Mond ist nicht zu sehen. Die Dunkelheit macht Eindruck, die nächste grosse Stadt ist weit weg und so erscheinen die Sterne viel heller als üblich. Zweimal leuchtet eine Sternschnuppe am Himmel. In einem Waldstück zu Beginn schalte ich mal das Licht aus – und schon sehe ich die Strasse nicht mehr! Es ist wirklich stockdunkel. Im unbewaldeten Gelände funktioniert dies aber, man kann immerhin die Mittelmarkierung erkennen – genug für meine Zwecke. Hie und da ertönt eine Kuhglocke, sonst hört man nur das Rauschen des Baches zu meiner linken. Am Lenker befindet sich auch meine Pulsuhr. Ich will mit unter 145 Schlägen pro Minute gemütlich aufwärmen und kontrolliere dies ab und zu. Mühelos komme ich kurz vor drei Uhr oben an und ziehe alles an, was ich dabei habe für die lange Abfahrt Richtung Innertkirchen. Leider habe ich die Kälte etwas unterschätzt und so friere ich ein wenig. Die Abfahrt ist trotz Leuchte nicht ganz ungefährlich: Mein Körper möchte um diese Nachtzeit eigentlich am liebsten schlafen und so muss ich mich anstrengen, um die Konzentration hochzuhalten. Koffein, dein Freund und Helfer, hilft mir dabei. Als nächstes steht der Grimselpass auf dem Speiseplan. Ganz locker gehe ich es an. Ab Handegg wird der Himmel langsam heller; ein herrliches Gefühl, in den anbrechenden Tag zu fahren. Der Verkehr ist genauso inexistent wie am Susten, ich geniesse die Einsamkeit in der Natur. Nach langsamen 2:24h erreiche ich knapp nach sechs Uhr die Passhöhe. Die Müdigkeit ist verflogen, meine innere Uhr meldet „Aufwachen!“. Die zweite Abfahrt, nach Ulrichen, macht trotz Kälte Spass, schöne Serpentinen und herrliche Landschaft begleiten mich auf dem Weg. Unten in der Ebene erstrahlt das Weisshorn am Horizont in seiner ganzen Pracht, ein grandioser Anblick. Mit dem nächsten Pass, dem Nufenen, verbindet mich so eine Art Hassliebe. Ich mag ihn, da er in der Regel wenig Verkehr aufweist und landschaftlich schön ist, aber ich hasse ihn, da ich immer, immer und immer gegen den Wind fahren muss. Frühmorgens hoffe ich nun auf angenehmere Windverhältnisse: Vergebens, ein Kampf gegen den Wind ist nach dem ersten Waldstück angesagt. Besser nicht darüber aufregen, man kann es sowieso nicht ändern. Ganz oben zieht vom Tessin her Nebel von Osten über den Pass, auf einmal hat das Wetter von meist blau zu meist bewölkt umgeschaltet. Wenn es jetzt schon zu regnen beginnen sollte, dann kann ich die Uebung gleich abbrechen, weitere fünf Hochgebirgspässe im Regen fahren macht keinen Sinn. Aber noch regnet es nicht und ich nehme die Abfahrt nach Airolo in rasanter Fahrt in Angriff. Da diese nach den ersten Kehren fast schnurgerade ist, kommt dabei eine nette Durchschnittsgeschwindigkeit zustande. Zu Beginn des Gotthardpasses fällt es mir leicht, die Verkehrsregeln zu missachten und die Autostrasse anstatt die Tremola zu fahren. Das ätzende Kopfsteinpflaster-Gerüttel der Tremola kann ich nicht ausstehen. Zudem ist die Autostrasse bei weitem breit genug für Autos mitsamt Fahrrädern. Hier Fahrräder zu verbieten ist reinste Schikane, sonst nichts. Zum Glück werde ich nicht erwischt und 80min später erreiche ich die Passhöhe. Runter nach Hospental macht richtig Laune: Guter Belag, keine engen Kurven. Hier erreiche ich knapp 80km/h. In Hospental schaue ich bei meiner Pension vorbei und rüste den Proviant nach. Die Besitzerin fragt nach, wie es den gewesen sei, und ich kann eigentlich nur Positives berichten. Mit den Worten: „Ich drehe noch eine weitere Runde“ verabschiede ich mich wieder. Das Wetter ist auf der Alpennordseite deutlich besser als im Süden, die Chancen stehen gut, dass es noch eine Weile anhält. Gleich zu Beginn des anschliessenden Furkapasses ereilt mich dann meine erste Krise. Irgendwie fühle ich mich recht kraftlos plötzlich. Fast noch ärgerlicher sind die zahlreichen Militärlastwagen, die an mir vorbeidonnern und mich mit ihren Dieselabgasen beglücken. Abschaffen den Verein. Irgendwie geht der Schwächeanfall aber auch wieder vorbei und so rolle ich in gewohnt gemächlichem Tempo Richtung Passhöhe. Kurz nach Mittag ist der höchste Punkt erreicht und so führt mich der Weg wieder Richtung Grimsel, diesmal von der Südseite her. Mit bloss 400 Höhenmeter ist der Pass Nummer sechs schnell abgehakt und schon schiesse ich hinab Richtung Innertkirchen. In Gutannen, nach zwei Dritteln der Strecke, genehmige ich mir gewohnheitsgemäss ein Stück Haslikuchen, ein Blätterteiggebäck mit Haselnussfüllung. Die Anbieterin dessen kennt mich mittlerweile, ich bin schon fast Stammgast. Erfreulicherweise zeigt sich das Wetter von seiner angenehmen Seite, trotz wolkigem Himmel sieht es nicht unmittelbar nach Regen aus. Eher besser als die Wetterprognose es haben wollte. Langsam merke ich schon, dass ich nicht mehr der Frischeste bin. Der Druck in den Pedalen hat etwas nachgelassen, womit auch der Puls etwas zurückgegangen ist. Positiver Nebeneffekt: Die Überzockgefahr ist gebannt. Manchmal schmerzt mein linkes Handgelenk leicht und der Nacken ist auch etwas steif. Aber alles Bagatellen, es geht weiter. In Innertkirchen angekommen wartet der längste Anstieg auf mich: 1600 Höhenmeter und 27 Kilometer sind es bis zum Sustenpass. In meinem gewohnten Rhythmus kurble ich Meter für Meter höher, mir spielt das Tempo keine Rolle. Ich möchte ankommen, sonst nichts. Immer wieder halte ich kurz an, um etwas Energy Gel zu mir zu nehmen. Kurz nach Steingletscher erleide ich meine zweite Krise: Der Magen meldet eigenartige Signale, die ich aber gekonnt ignoriere. Zum Glück ist der Scheitelpunkt in Griffweite und so lasse ich mich nicht aufhalten. Das Wetter hat nun endgültig gedreht: Knapp 100m vor der Passhöhe fallen die ersten Tropfen. Jetzt bloss so schnell wie’s geht die Abfahrt hinter einen bringen, solange die Strasse noch trocken ist! Und tatsächlich, es regnet zwar leicht bei der Abfahrt, aber die Strasse bleibt recht trocken und so kann ich mit vollem Tempo Wassen ansteuern. Die Tropfen peitschen mir ins Gesicht, Wasser fühlt sich bei 60 bis 70 km/h ganz schön hart an. Kaum bin ich unten, öffnet Petrus endgültig die Schleusentore und ich bin binnen Minuten klatschnass. In diesem Zustand schleiche ich anschliessend die Schöllenenschlucht hoch, die vier langen Galerien bieten hier immerhin etwas Schutz. Oben in Andermatt zweigt dann die Strasse links ab, zum allerletzten Pass von heute, dem Oberalp. Noch 600 Höhenmeter. Um warm zu bleiben, forciere ich etwas das Tempo und bin überrascht, dass da schon noch ein paar Körner übrig geblieben sind. Ekliges Sauwetter. Ich lasse mir den Erfolg aber nicht nehmen und stehe glücklich und etwas stolz nach 18:24h auf dem achten Pass. Die Abfahrt danach ist arktisch kalt, ich schlottere dermassen, dass sogar das Lenkrad ein wenig wackelt! Und so erreiche ich nach etwas über 300km und ziemlich genau 9100 Höhenmetern wieder meine Pension in Hospental. Als erstes ist eine sehr lange warme Dusche angesagt, um unter anderem die eingefrorenen Füsse wieder aufzutauen. Danach genehmige ich mir eine hart erarbeitete Pizza und lege mich verdient zur Ruhe. Diesmal fällt es mir sehr leicht, einzuschlafen…
ps 1: Die nachfolgenden drei Tage bin ich etwas müde am ganzen Körper, aber alles in allem kann ich die Belastung gut wegstecken.
ps 2: Ein Mitarbeiter erklärt mich nach dieser Aktion zum verrücktesten Menschen, den er kenne. Eine Ehre, würde ich meinen, nichts ist langweiliger, als normal zu sein.
ps 3: Was mache ich nächstes Jahr? Ich habe da bereits ein paar Ideen.
ps 4: Ich bin mit nur gut 2000km in den Beinen angetreten, war aber scheinbar genug
ps 5: Meine Pulsuhr meint, dass ich 13250kcal vernichtet habe. Das macht zb 3.7kg Spaghetti
ps 6: Meine kleinste Uebersetzung: 30/23. Damit kommt man überall hoch.
ps 7: Ich hätte erwartet, näher an meine Grenzen zu kommen, alles in allem war die Aktion kraftmässig nie in Gefahr.
ps 8: Ich habe noch einen kleines Video zusammengebastelt: (http://www.youtube.com/watch?v=Y_kEAIYCNjQ)
7 gefahrene Pässe
Furkapass, St. Gotthardpass, Grimselpass, Sustenpass, Nufenenpass, Oberalppass, SchöllenenschluchtStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
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