Von sugu –
Der Regen des Vorabends ist in der Nacht weggeblasen worden, es ist strahlender Sonnenschein, aber immer noch kühl. Da die Seilbahn wieder fährt, gönne ich mir den kurzen Ausflug auf die Zwischenstation und genieße den Ausblick auf Ortler und die tief unten liegenden Pässe. Bei der Rückkehr zum Stilfser Joch hat der alltägliche Trubel wieder begonnen und die ersten privaten Mini-Rennen kommen an. Ich kann der Versuchung, ein Trikot zu kaufen, nicht wiederstehen. Der Würstchenverkäufer grummelt vor sich hin, er werde demnächst selber auch Radrennen veranstalten, um mehr Geld zu verdienen. Für die Abfahrt heißt es zunächst, sich warm anzuziehen. Am Umbrail lege ich eine kurze Pause ein. Auch hier kommt heute ein kleines Rennen vorbei. Eine automatische Fotostation wird gerade aufgebaut. Einige Mountainbiker bereiten sich gerade auf den direkten Weg zum Lago di Cancano vor. Auf meine Frage, ob der Passo di Alpisella mit einem Trecking-Rad gefahren werden kann, kommt ein "Si, Si". Inzwischen ist es warm genug, die weitere Abfahrt nach Bormio in kurz/kurz anzutreten. Unterwegs überholen bereits die ersten Rennradler, und etliche kommen entgegen. Auch zwei Tourenradler mit Gepäck sind dabei, die mit kurzem Gruß weiter ziehen.
Bormio ist dann der Kontrapunkt zum Stilfser Joch. Temperaturen über 30 Grad, Sonnenschein und viel Trubel in den engen Gassen. Ich sehe zu, dass ich schnell wieder aus dem Verkehr herauskomme. Gleich hinter der Stadt ist dann wieder die Ruhe pur. Der Hang zu den Torre di Fraele liegt im vollen Sonnenschein, entsprechend warm wird es. Auf halber Strecke ist ein Picknickplatz, der von mindestens drei Großfamilien in Beschlag genommen wurde. Samstag ist halt Ausflugstag.Oben an der Burgruine pfeift der Wind zwischen den Türmen durch, also schnell runter in Richtung See. An der Villa Diana frage ich bei einer Apfelschorle die Einheimischen sicherheitshalber noch mal, ob der Alpisella fahrbar ist: "Si" ist die Antwort und bekommen noch die Empfehlung, den ersten Stausee auf der Südseite entlang zu fahren, und dann den Staudamm zu überqueren. Diese erste Piste entpuppt sich als Holperstrecke mit vielen Schlaglöchern, doch dafür ist die Naturstraße entlang des zweiten Sees in tadellosem Zustand. Am oberen Ende des Sees am Passo di San Giacomo ist noch mal ein Picknickplatz, aber da er nicht mehr mit dem Auto angefahren werden kann, geht es sehr ruhig zu. Hier ist zwar schon der Alpenhauptkamm erreicht, denn von dieser Passhöhe fließt auf der anderen Seite der Fiume Gallo direkt zum Lago di Livigno und damit zum Inn, aber es gibt keinen Weg entlang des Flusses. Statt dessen muss das obere Ende des Lago di San Giacomo umrundet werden bis zum Einfluss der Adda. Ab hier geht ein alter Saumpfad an der Quelle der Adda vorbei zum Passo di Alpisella. Der ist zwar nur 300 Meter höher als der See, aber die ersten 200 davon werden auf knapp 2 Kilometer bewältigt. Entsprechend ist der Weg an manchen Stellen ausgewaschen und ich trete eher vorsichtig und gleichmäßig in die Pedale, damit das Hinterrad nicht durchdreht. In einer Kehre passiert es dann doch, und die Gelegenheit nutzen zwei Mountainbiker, um innen schnell vorbeizuziehen. Trotz des losen Schotters gelingt die Wiederanfahrt und vorsichtig geht es weiter. Nach knapp 10 Minuten stehen die zwei Mountainbiker vor mir, während sie mitten auf dem Weg eine kleine Pause einlegen. Ihnen ist es sichtlich peinlich, von einem Trekking-Rad eingeholt zu werden, und mit einem Affenzahn ziehen sie von dannen.
Etwas später wird es dann etwas flacher, und am Wegesrand tauchen immer wieder mal Reste einer alten Stützmauer auf. Am Abzweig zur Adda-Quelle ist es Zeit für eine kurze Pause, und ein älterer italienischer MTB-Fahrer gesellt sich zu mir. Er ist mit seinen Bekannten kurz nach mir vom See gestarte und konnte kaum glauben, dass man den Weg mit einem so schweren Fahrrad und dazu noch mit Gepäck schaffen kann. Er wartet auf drei Freunde, die dann nach 10 Minuten eintrudeln. Die brauchen noch etwas Erholung, aber ich fühle mich fit genug, weiter zur Passhöhe zur radeln, zumal es von nun an nur noch leicht wellig durch ein Hochtal geht. Auf der Passhöhe gibt es nichts zu sehen, also mache ich auch sofort an die Abfahrt. Auf den ersten Metern geht es noch sehr zügig, doch dann wird aus dem Fahrt eher ein Schleichen. Eine Gruppe von gefühlt 100 Jugendlichen geht in kleine Grüppchen auf voller Wegesbreite gemütlich schwatzend ins Tal. Auch die Rufe ihrer Mitwanderer "Attenzione, bici" können die meisten nicht dazu bewegen, Platz zu machen, weil sie voll mit sich beschäftigt sind. Erst ein von mir auf zwei Meter Abstand gerufenes "Permesso" führt dazu, dass sie erst stehen bleiben, sich erschrocken umdrehen und dann Platz machen.
Mit Erreichen des Bergwaldes ist dann endlich die Gruppe überholt. Im Wald kommen nur zwei Mountainbiker entgegen, der eine fahrend, der andere schiebend. An der Brücke über den Bach endet der grobe Schotter und ein gut ausgebauter Weg führt zunächst entlang des Tals bis oberhalb des Lago di Livigno. Die restlichen Höhenmeter werden mit Hilfe von drei Kehren vernichtet. Unten am See herrscht am Rifugio Alpisella Hochbetrieb, es ist schließlich ein flacher Spaziergang von Livigno bis hierher. An den Spaziergängern vorbei ist Livigno schnell erreicht, doch beim Absteigen läßt sich das rechte Pedal nicht mehr ausklicken. Am nächsten Laternenpfahl kann ich anhalten und mit einem Bein absteigen und den rechten Schuh ausziehen, danach lässt er sich von Hand ausdrehen: Eine Schraube der Cleats ist im wahrsten Sinne auf der Strecke geblieben. Also geht es auf der Plattformseite weiter und ich werde mich auf die Suche nach einem Fahrradgeschäft machen müssen. Vorrang hat aber erst die Unterkunftssuche.
Die Suche nach der Unterkunft gestaltet sich unerwartet schwierig. Die TouristInfo ist in einem sehr unscheinbaren Gebäude untergebracht, an dem ich durch den Slalom um die zahlreichen Fußgänger abgelenkt zunächst vorbeifahre. Die noch anwesende Name ist zwar sehr nett, hat aber einen defekten Computer und würde sowieso nicht die Unterkünfte anrufen. Immerhin drückt sie mir einen Prospekt in die Hand. Da die meisten Hotels in der Nähe liegen, mache ich mich selbst auf die Suche. Die freien Häuser sind zu teuer, die erschwinglichen sind belegt. Lediglich eins hat noch das Schild draußen, ist aber dennoch voll. Immerhin ist der Wirt so freundlich, und empfiehlt das kürzlich neu eröffnet Hotel Cristallo, das auch preislich im Rahmen bleibt. Im Fahrradkeller darf dann mein Trecker neben den Carbon-Rössern einiger Profis übernachten, die in Livigno im Trainingslager sind.
Beim Abendspaziergang sind sogar um 10 Uhr abends noch Heerscharen in der Fußgängerzone unterwegs. Dabei entdecke ich einen (den?) Fahrradladen, der wie die meisten Geschäfte am morgigen Sonntag auch offen hat.
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren