Aller guten Dinge sind drei 265,5 km / 7004 Hm
Berner Oberland, Urner Alpen, Berner Alpen, Alpen, Valle di Blenio, Lepontinische Alpen, Surselva, Zentralschweiz, Glarner Alpen, Wallis, Bern, Tessin, Graubünden, Uri
Redaktionell bestätigte Tour von tortenbäcker
Von tortenbäcker –
Voilà zwei Geschichten im Bereich Ausdauersport, die ich in den vergangenen Monaten erlebt habe. Wie es wahrscheinlich beim Lesen offensichtlich wird, ist nicht alles tierisch ernst gemeint auf den folgenden Seiten. Schliesslich sollen sie ja unterhaltender sein als ein Gesetzestext… Zur Episode I gibt es (zum Glück!) keine Bilder, die Episode II ist dafür reich bebildert und eine dritte Episode ist noch in Entstehung und wird später nachgereicht.
Episode I – Die Grosse Zerlegung
Der eine oder andere Leser wird sich noch an diese Tour erinnern, bei der ich mir einen lange gehegten Traum erfüllt habe. Die Reaktionen aus meinem Umfeld waren für mich mehrheitlich amüsant, das Spektrum reichte von Kopfschütteln bis zu Bewunderung. Zweimal kam es vor, dass ich einer Person vorgestellt wurde und diese mich mit vielsagendem Blick und einem Satz der Art „Ahhh, du bist deeeer Reto“ gleich abstempelte. Mal besser die fehlenden Tassen nachrüsten und lockeren Schrauben anziehen. Hirn abdichten nicht vergessen, es scheint hineingeregnet zu haben.
Drei Monate später, im November, ist bereits wieder früh dunkel, nicht zuletzt dank dieser mühsamen Winterzeit. Das Wetter ist mehrheitlich schlecht und radfahren tue ich nur noch sporadisch. Als Ausgleich würde ich gerne mehr laufen, unter anderem deshalb, weil ich mich (in einem Akt von Leichtsinn?) für den Marathon von Paris Anfang April 2009 angemeldet habe. Nach zwei Halben scheint für mich die Zeit für die volle Packung reif zu sein. Leider will mein rechtes Knie nicht so recht, und ich kann bis Ende Jahr nur sporadisch trainieren. Tja, bin ja nicht der Allerunfitteste, denke ich, wird schon passen; es kommt aber ganz anders. Die Zielbestimmung gestaltet sich recht einfach: Wenn der kugelrunde Reiner Calmund den Halbmarathon in drei Stunden schaffen will, dann sollte ich doch einen ganzen in der Zeit hinbekommen. Logisch. Bin ja auch nur halb so schwer.
Ab Anfang 2009 ist das Knie wieder im Lot und ich trainiere regelmässig, wobei ich aber nie diese hohen Umfänge erreiche, die bei den meisten Marathontrainingsplänen angegeben sind. Vielleicht die Hälfte. Ich brauche einfach mehr Regenerationszeit, das Alter. Zu dieser Zeit lerne ich den äusserst sympathischen Klaus TicinoBergler46 kennen, und er zeigt mir ein paar Schätze in seiner Wahlheimat rund um Ascona. Gut hat es der, der den Winter mehrheitlich im Tessin verbringen kann!
Der Marathon rückt immer näher und schon geht es ab nach Paris. Leider fühle ich mich die Tage vor dem Lauf nicht 100prozentig gesund, eine Magenverstimmung plagt mich und besonders am Tag vor dem Lauf habe ich Kopfweh und ein leicht fiebriges Gefühl. Am Sonntag morgen, D-Day, dasselbe Bild. Ruhepuls bei über 70 statt unter 40, obwohl ich überhaupt nicht nervös bin. Normalerweise würde ich bei solchem Körpergefühl jeglichen Sport absagen, paradoxerweise begebe ich mich aber dennoch an den Start des Marathons. Diesen magischen Start auf den Champs Elysées mit den über 30000 Läufern will ich zumindest miterleben, ich kann ja später einfach aufgeben, wenn es nicht geht.
Natürlich nervt es mich grausam, genau an diesem Tag nicht richtig gesund zu sein. Pech.
Meine Eltern sind auch mit nach Paris gereist, sie feiern damit ihr vierzigjähriges Hochzeitsjubiläum. Sie begleiten mich zum Start und wollen beim Place de la Concorde, etwa bei Kilometer 28, nach mir Ausschau halten. Wäre also vorteilhaft, ich würde es zumindest bis dahin schaffen.
Cinq, quatre, trois, deux, un, zéro, c’est parti! Und schon läuft Homo Marathonus in vielfacher Ausführung die 10spurige Prachtstrasse Richtung Tuileries und Louvre hinunter, einfach ein unbeschreibliches Gefühl, da mittendrin zu sein.
Dank Kopfsteinpflaster sind die unzähligen Schritte pro Sekunde auch akustisch eindrücklich wahrnehmbar. Die Läufer verschmelzen zu einem riesigen Strom, der sich die Strasse hinunter ergiesst. Kurz vor mir ein erfahrener Läufer mit gut sichtbarer roter Flagge, er wird die Strecke sehr konstant laufen und in knapp 3:00 im Ziel eintreffen. Zweckoptimistisch ignoriere ich meine Schwäche und laufe törichterweise ihm nach. Das kann ja eigentlich nicht gut gehen. Ich kenne dieses 4.15er Tempo ja sehr gut, aber heute ist es einfach deutlich zu anstrengend. Nach 15km fühle ich mich schon so, als hätte ich 25km in den Knochen. Ich lasse den Flaggenmenschen ziehen, das kann so nichts werden. Die Rennhälfte passiere ich mit 1:31h, damit hätte ich noch leben können. Danach werden die Kilometer aber immer langsamer. Meine Eltern erblicken mich gerade noch in vernünftigem Zustand, zum Glück haben sie sich nicht 10km später hingestellt. Es folgt die komplette Zerlegung. Mein Körper ist ausgelaugt, er will nicht mehr. Die Kilometerzeiten erreichen astronomische Höhen, bis ich dann 7km vor dem Ziel das erste Mal einen Abschnitt gehen muss, da ich an der Kotzgrenze bin. Quäldich, aber beinhart.
Die Unendlichkeit ist lang, besonders am Ende.
Bilder des grossartigen wahren Films Touching the Void mit Joe Simpson gehen mir durch den Kopf. Ebendieser Joe bricht sich bei einem schweren Unfall in den Anden mehrfach das Knie und kämpft sich danach total dehydriert kilometerweit über Schutt und Geröll, und überlebt am Ende nur ganz knapp. Er definiert sich bei seinem Kampf zurück zum Basislager immer kleine Zwischenziele, die er dann losgelöst von der praktisch aussichtslosen Gesamtsituation zu erreichen versucht. Diese Notfall-Taktik wende ich jetzt auch an: Laufen bis zum Baum da vorne oder bis zu der Kurve. Dann ein paar Meter gehen als Belohnung, und dann wieder ein neues Ziel. Survival Training. Immerhin geht mir zu dieser Zeit nicht dauernd ein unerträgliches Lied von Boney M. durch den Kopf, da hatte der arme Joe einen deutlich schwereren Stand. Hinz und Kunz überholt mich auf den letzten Kilometern, das ist mir allerdings egal. Abwechselnd trabe ich langsam und gehe ich. Allez Réto! ertönt es ab und zu aus den Zuschauerreihen, ce n’est plus loin! Distanzen sind relativ, das erkannte bereits Einstein. Die Längen-Verzerrung scheint aber schon deutlich unter Lichtgeschwindigkeit eine Rolle zu spielen. Der gute Albert hat es im Berner Patentamt versäumt, die Relativitätstheorie noch um einen Müdigkeitsparameter zu ergänzen. Da müsste man mal nachbessern. Die Reststrecke ist für mich gefühlsmässig noch immens. Ich muss arg abgekämpft ausgesehen haben. Bei meinem ersten Halbmarathon vor zwei Jahren war das ja ähnlich, da hörte ich eine Zuschauerin gegen Ende sagen: Schau dir doch mal den da an, der sieht ja ziemlich kaputt aus!
Man mag es kaum glauben, aber es tatsächlich wahr: Für die letzten 7km benötige ich eine volle Stunde (!!) (*). Es ist abartig hart, die Beine schmerzen, so etwas habe ich in meinem Leben noch nie erlebt. Zumindest habe ich mich noch nie mit Sport so ans Limit gebracht. Im Zielgelände ist mir schlecht, ich kann überhaupt nichts essen. Ich irre humpelnd umher und finde nach einiger Zeit eine Art Pfosten mit grossem Sockel, bei dem bereits ein paar Leidgenossen Platz gefunden haben. Endlich kann ich meine Beine entlasten. Sich auf der Strasse niederzulassen wäre eine Einbahnstrasse gewesen. Meine Beinmuskeln wären nicht im Stande gewesen, mich wieder aufzurichten.
Hat das wirklich sein müssen? Erschlagen am Pfosten sitzend denke ich mir: Eigentlich nein. In dem Moment bin ich nahe dran, das Marathonlaufen für immer an den Nagel zu hängen. Mehrfach fährt die Ambulanz vor, um Läufer einzusammeln, denen es noch dreckiger geht als mir. Sport ist ja so gesund, Churchhill hatte Recht. Immerhin kann ich jetzt etwas Powerade trinken und damit wieder Energie in meinen erschöpften Körper pumpen. Nach einer halben Stunde raffe ich mich auf und zerre mich am Pfosten hoch. Da natürlich der Zielbereich grossflächig abgesperrt ist, gestaltet sich die Suche nach einem Taxi gar nicht so einfach (besonders wenn Gehen sehr schwer fällt), aber nach einiger Zeit und mit Glück finde ich tatsächlich eines. Nichts wie ins Hotel zurück und mal hinlegen. Im Hotel angekommen muss ich mal noch würgen, aber der Magen ist leer, da kommt nichts. Danach lege ich mich ins Bett. Zwei Stunden später erhole ich mich langsam und der Appetit kommt allmählich zurück.
Nachspiel: Fünf-Sterne Muskelkater begleitet mich danach noch einige Tage, zudem werde ich im Anschluss noch richtig krank – kein Wunder. Rückblickend ist mein Marathon-Jungfernlauf ein Erlebnis, dass ungewollt intensiv war und das ich bestimmt zu Lebzeiten nie vergessen werde.
Natürlich kann ich diese sportlich gesehen komplett missratene Aktion nicht einfach so auf mir sitzen lassen. Nächstes Jahr werde ich, diesmal zusammen mit einem Kollegen, nochmals antreten, hoffentlich dann aber gut vorbereitet und gesund.
(*) Damit habe ich Reiners anvisierten Durchschnitt egalisiert, na also, geht doch! Scheinbar hat dann der Reiner aber schlussendlich 3:56h gebraucht. Seiner Aussage nach wollte er einfach noch vor den Kenianern ins Ziel kommen, die zwei Stunden später den vollen Marathon in Angriff nahmen. Es wurde noch knapp!
Episode II - Platin
Mitte April: Die Muskeln haben sich langsam wieder erholt von den strapaziösen 42195 Metern von Paris und ich fange an mit Höhenmeter sammeln. Es hat noch meterweise Schnee in höheren Lagen, der Winter war diesbezüglich für Pässefahrer eine Katastrophe. Sieht zwar wunderbar aus, wenn ich von meinem Balkon Richtung Berner Alpen blicke, aber sonst kann ich mit der weissen Pracht wenig anfangen. Ich bleibe mehrfach im Schnee stecken, das Rad trage und zerre ich wohl gesamthaft etwa ein bis zwei Kilometer durch den Schnee. Doch manchmal kann ich auch Pässe überqueren, die offiziell noch als geschlossen gelten. Es macht grossen Spass und ich bin meist ein bis zweimal die Woche unterwegs in den Alpen. Vielfach probiere ich da neue Strassen aus, die ich mittels Gockel Erde und Konsorten ausmache. Manchmal ist der Belag schon nach kurzer Zeit für Rennräder nicht mehr zumutbar, manchmal finde ich aber auch ein kleines Juwel. Krasse Auffahrten gehören auch zum Programm, zum Beispiel die hammerharten Alpe Fuori und Alp Grindel.
Ende Juni, mit fünfzig Höhenkilometern in den Beinen, beschliesse ich, mal die Platin Alpenbrevet Strecke auszuprobieren. Noch nie habe ich diese lange Runde bewältigt, das soll sich jetzt ändern. Schon fast ein Must-Do für Bergfahrer wie mich, Müde-Beine-Garantie inbegriffen oder Geld zurück. 265km und etwa 6800 Höhenmeter wollen überwunden werden. Leider steigt ein sportlicher Arbeitskollege aus dem Projekt aus, da er im Trainingsrückstand ist und einfach momentan nicht genug von der Arbeit weg kommt.
Zu dieser Zeit ist das Ultra-Langstreckenrennen schlechthin, das Race Across America, in vollem Gange. Ab und an gehe ich auf die offizielle Website, um Neuigkeiten zu erfahren. Ein Rennen von einem anderen Stern, äusserst beeindruckend. Wie lächerlich wirken da doch die allermeisten anderen Sportveranstaltungen im Vergleich. Der Schweizer Sieger Dani Wyss sieht im Ziel etwa so müde aus, wie der Durchschnittsbürger nach 30minütiger ebener Spazierfahrt...
Ich backe im Vergleich dazu viel kleinere Brötchen und quartiere mich am 29. Juni am Abend in Andermatt ein. Am anderen Morgen klingelt der Wecker bereits um 03:20; es kann losgehen. Mein Plan ist, recht locker zu fahren und einige Pausen einzulegen, schliesslich steht Genuss weit oben auf meiner Prioritätenliste. Auf dem Rad habe ich mittlerweile ein gutes Gefühl für meine Leistungsfähigkeit. Ich schätze, dass ich mit allen Pausen eingerechnet insgesamt gut 14 Stunden brauchen werde.
So starte ich etwa um 03:50, um diese Zeit ist es sogar Ende Juni noch vollständig dunkel und ich habe dummerweise kein Licht dabei (Denn: Die Startzeit habe ich kurzfristig noch etwas früher angesetzt als ursprünglich geplant). Naja, Verkehr ist um diese Zeit in der Region sowieso nicht vorhanden und in kürze wird es hell. Allerdings ist es in der Schöllenenschlucht nun wirklich stockdunkel, vor allem in den vier langen Galerien ist auch Restlich praktisch nicht existent. Nur gerade das an den Schluchtwänden reflektierte Licht der Lichtjahre entfernten Sterne erhellt die Strasse. Blendet auch ohne Sonnenbrille nicht übermässig. Ich schleiche diese Strecke hinunter, immer dem nur knapp wahrnehmbaren Mittelstreifen folgend. Bestimmt meine dunkelsten jemals auf dem Rad zurückgelegten Meter, in dieser Hinsicht kaum mehr zu übertreffen.
In Wassen beginnt der erste Pass des Tages, der Susten. Ich geniesse diese 1300 Höhenmeter und verbrauche dabei kaum Körner. Der blaue Himmel wird allmählich heller, und als ich oben ankomme, kitzeln die ersten Sonnenstrahlen die hohen Berge ringsum. Die Stimmung ist einfach fantastisch, kaum noch Raum für Optimierung. Einzig die zwei Autos, die mich ganz oben noch überholen, können als Makel gewertet werden. Sonst ist absolut niemand da. 1:34h hat der Anstieg gedauert, inklusive kurze Pausen zum Fotografieren. Auf diese Weise kann sich übrigens jeder einen autofreien Pass arrangieren, auch ohne das lobenswerte freipass.ch: Einfach im Hochsommer genug früh am morgen antreten. Funktioniert garantiert.
Die Abfahrt nach Innertkirchen ist wie erwartet ziemlich frisch, passt aber schon. Etwa um 06:30 halte ich an der Kreuzung Richtung Grimsel an, um Beinlinge und Jacke zu verstauen. Da passieren mich zwei Rennradfahrer in kurzem Abstand. Den zweiten hole ich noch vor Guttannen ein und wir radeln zusammen weiter. Er heisst Toni und kommt aus der Region Interlaken. Er hat auch den Tag frei und fährt Grimsel – Furka - Susten. Wir plaudern über dies und das und um wie viel schöner es hier ist als im Büro. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir die Passhöhe und genehmigen uns eine wohlverdiente Pause an der Morgensonne. Ich schicke noch ein SMS ins Büro mit angehängtem Bild von der grandiosen Aussicht hier. Solche Kollegen braucht man. Zwanzig Minuten später folgt die Abfahrt nach Gletsch, dort trennen sich unsere Wege. Wir wünschen uns gegenseitig eine schöne Weiterfahrt.
Also hinunter ins Oberwallis, genauer gesagt nach Ulrichen. Kurz vor Ulrichen rollt man auf einer sehr übersichtlichen, langen Geraden. Und ausgerechnet hier, man glaubt es kaum, wird es einmal kurz gefährlich. Ein SUV-fahrender Einzeller überholt von der Gegenseite her kommend ein langsameres Auto und fährt damit auf meiner Strassenseite. Sein breites Monstrum füllt dabei praktisch die gesamte Fahrspur aus. Ich muss mich dicht am Strassenrand halten, sonst käme es gar nicht gut. Ein Vollidiot. Für solche Fälle bräuchte es echt einen Hellfire-Auslöser am Rennrad. Da besteht offensichtlich noch eine Marktlücke.
Nach dieser ungeplanten Adrenalin-Dusche zweige ich in Ulrichen links ab Richtung Nufenen. Die Strampelwerkzeuge fühlen sich nach wie vor frisch an und so bewältige ich die ersten Kehren mühelos. Dann kommt dieses lange und ziemlich gerade Teilstück, das ins Seitental hineinführt und bei dem ich bis jetzt in diversen Anläufen immer heftigen Gegenwind vorfand. Aber was ist denn los heute? Keinen Gegenwind am Nufenen? Das kann doch einfach nicht wahr sein. Zu Zeiten, in denen Banken und Autofirmen zusammenbrechen, die Leitzinsen auf historische Tiefs sinken und man die Inflation fürchten muss, hätte ich wenigstens gehofft, dass unverrückbare Wahrheiten wie Gegenwind am Nufenen bestehen bleiben. Als sichere Werte in einer wankenden Welt sozusagen. Aber nichts da, dieser Sicherheit beraubt geht der Weg weiter. Im oberen Teil flankieren zum Teil noch massive Schneewände die Strasse. Die wirken wie eine gigantische Klimaanlage, wenn man vorbeifährt. Sehr angenehm. Nach 78 Minuten komme ich oben an und genehmige mir wieder ein paar süsse Kalorien im Restaurant.
Die Abfahrt Richtung Airolo habe ich recht holprig in Erinnerung, mit diesen lästigen Betonplatten. Aber scheinbar habe ich mich nach diversen schmalen Bergstrassen an ganz andere Strassenzustände gewöhnt, jedenfalls empfinde ich den Belag überhaupt nicht als schlimm. Dann weiter nach Biasca, es geht zügig voran. Mit Fahrtwindkühlung fühlt es sich auch nicht allzu heiss an. Ab Biasca ändert sich das Bild drastisch, es folgt die vierzig Kilometer lange Rollerrampe zum Lukmanier. Abartige Hitze. Über dreissig Grad im nicht vorhandenen Schatten. Dazu noch oftmals Seitenwände an den Strassen, die die Sonnenstrahlen zusätzlich reflektieren. Jetzt ist der Zeitpunkt für ein erfrischendes Eis gekommen, wo aber kriege ich das her? Wird ja wohl bald mal ein Tankstellenshop auftauchen, da kaufe ich dann eines. So der Plan, aber ich rolle und rolle und die erlösende Tankstelle will einfach nicht ins Blickfeld rücken. Was ist denn los hier, ist diese bemerkenswerte Errungenschaft der modernen Zivilisation noch nicht bis ins Valle di Blenio vorgedrungen? Diese kleinen Einkaufszentren, die sich mit Zapfsäulen tarnen, um nicht wegen überlangen Öffnungszeiten belangt zu werden, soll es hier etwa nicht geben? Was machen denn die Einwohner hier, wenn sie abends eine spontane Grillparty geben und alle normalen Läden schon geschlossen sind? Die Katze des Nachbars grillieren? Ich finde keine Antwort auf diese quälenden Fragen und schwitze weiter heftig bei meiner Fahrt nach Norden. Plötzlich taucht eine Tankstelle am Horizont auf, die Erlösung. Ich fahre ran und muss enttäuscht feststellen, dass der zugehörige Shop geschlossen ist, arrghh. Da hat jemand den Businessplan nun wirklich nicht kapiert. Etwas weiter entdecke ich nochmals ein paar Schilder, die für Eis werben, aber die genauere Betrachtung lässt erkennen, dass der kleine Laden Mittagspause hat. Provinz. Noch ein paar Kilometer talaufwärts dann endlich eine Tankstelle mit Eis, ein Magnum muss her. Danach geht es mir wieder besser und ich pedaliere weiter, wobei es einfach nicht richtig vorangehen will. Diese Rolleranstiege sind ganz schön anstrengend für die Psyche, da man weder grosse Distanzen noch viele Höhenmeter pro Stunde bewältigt. In Olivone, auf knapp 1000m, steht die zweite Kühlung an und ich begebe mich dazu in ein Restaurant. Zwei weitere Kugeln Eis kommen bei der Haben Seite hinzu. Den Rest des Lukmaniers rolle ich gemächlich nach oben, wobei ich zwischendurch eine Krise erleide. Und zwar eine mentale, der Kopf ist plötzlich sehr müde, ich könnte sofort einschlafen. Den Beinen geht es prima. Ich setze mich in den Schatten und schliesse für zwei Minuten die Augen. Für solche Fälle hätte ich etwas Koffein mitnehmen sollen. Kurz vor 16:00 erreiche ich dann endlich den höchsten Punkt, das war jetzt recht zermürbend. Richtung Disentis sieht der Himmel ziemlich grau aus, es fallen auch bereits erste Tropfen. Hoffentlich nichts Ernstes. Wieder erfolgt die Abfahrt über Betonplatten, diesmal sind die Platten aber ganz übel. Zumindest dann, wenn man schnell fährt. Es rüttelt gewaltig, ich habe fast schon etwas Angst um mein Rad. In Disentis fängt es dann richtig mit regnen an. Aber Richtung Oberalp ist der Himmel nicht allzu dunkel und es scheint kein Gewitter zu sein. Ignorieren ist die beste Devise. Der Regen hat auch Vorteile, die Hitze ist Vergangenheit. Noch knapp 1000 Höhenmeter bis zur Passhöhe, das kann jetzt nicht mehr allzu lange dauern. Doch ich habe verdrängt, dass der Anfang ab Disentis wieder so eine Rollergeschichte ist. Zu viel Horizontales. Man hat gar nicht das Gefühl, einen Pass zu fahren. Erst ab der letzten kleinen schmucken Ortschaft, Tschamut auf etwa 1600m, ändert sich das Bild, und man kommt in den Genuss von hübschen Kehren und nicht steigungsloser Steigung. Ein paar Minuten nach 18:00 stehe ich am Passschild, meine Zeitschätzung war damit recht genau. Kurz darauf in Andermatt reicht die Zeit gerade noch, um bei einem Pizza Take-Away einen Mafiafladen zu bestellen und diesen in den Zug mitzunehmen. Den Zug erreiche ich nur knapp (Pizza hat länger gedauert als angekündigt), hätte ich ihn nicht erreicht, hätte ich wohl mit einer Pizzaschachtel in der Hand die Schöllenenschlucht abfahren müssen. Das wäre dann wohl auch nicht ungefährlicher gewesen als ohne Licht am morgen.
Schlussendlich hat die Tour ihre Garantie eingehalten, die Beine sind müde, ich kriege kein Geld zurück…
Episode III
Hat einen eigenen Eintrag erhalten, hier.
Episode I – Die Grosse Zerlegung
Der eine oder andere Leser wird sich noch an diese Tour erinnern, bei der ich mir einen lange gehegten Traum erfüllt habe. Die Reaktionen aus meinem Umfeld waren für mich mehrheitlich amüsant, das Spektrum reichte von Kopfschütteln bis zu Bewunderung. Zweimal kam es vor, dass ich einer Person vorgestellt wurde und diese mich mit vielsagendem Blick und einem Satz der Art „Ahhh, du bist deeeer Reto“ gleich abstempelte. Mal besser die fehlenden Tassen nachrüsten und lockeren Schrauben anziehen. Hirn abdichten nicht vergessen, es scheint hineingeregnet zu haben.
Drei Monate später, im November, ist bereits wieder früh dunkel, nicht zuletzt dank dieser mühsamen Winterzeit. Das Wetter ist mehrheitlich schlecht und radfahren tue ich nur noch sporadisch. Als Ausgleich würde ich gerne mehr laufen, unter anderem deshalb, weil ich mich (in einem Akt von Leichtsinn?) für den Marathon von Paris Anfang April 2009 angemeldet habe. Nach zwei Halben scheint für mich die Zeit für die volle Packung reif zu sein. Leider will mein rechtes Knie nicht so recht, und ich kann bis Ende Jahr nur sporadisch trainieren. Tja, bin ja nicht der Allerunfitteste, denke ich, wird schon passen; es kommt aber ganz anders. Die Zielbestimmung gestaltet sich recht einfach: Wenn der kugelrunde Reiner Calmund den Halbmarathon in drei Stunden schaffen will, dann sollte ich doch einen ganzen in der Zeit hinbekommen. Logisch. Bin ja auch nur halb so schwer.
Ab Anfang 2009 ist das Knie wieder im Lot und ich trainiere regelmässig, wobei ich aber nie diese hohen Umfänge erreiche, die bei den meisten Marathontrainingsplänen angegeben sind. Vielleicht die Hälfte. Ich brauche einfach mehr Regenerationszeit, das Alter. Zu dieser Zeit lerne ich den äusserst sympathischen Klaus TicinoBergler46 kennen, und er zeigt mir ein paar Schätze in seiner Wahlheimat rund um Ascona. Gut hat es der, der den Winter mehrheitlich im Tessin verbringen kann!
Der Marathon rückt immer näher und schon geht es ab nach Paris. Leider fühle ich mich die Tage vor dem Lauf nicht 100prozentig gesund, eine Magenverstimmung plagt mich und besonders am Tag vor dem Lauf habe ich Kopfweh und ein leicht fiebriges Gefühl. Am Sonntag morgen, D-Day, dasselbe Bild. Ruhepuls bei über 70 statt unter 40, obwohl ich überhaupt nicht nervös bin. Normalerweise würde ich bei solchem Körpergefühl jeglichen Sport absagen, paradoxerweise begebe ich mich aber dennoch an den Start des Marathons. Diesen magischen Start auf den Champs Elysées mit den über 30000 Läufern will ich zumindest miterleben, ich kann ja später einfach aufgeben, wenn es nicht geht.
Natürlich nervt es mich grausam, genau an diesem Tag nicht richtig gesund zu sein. Pech.
Meine Eltern sind auch mit nach Paris gereist, sie feiern damit ihr vierzigjähriges Hochzeitsjubiläum. Sie begleiten mich zum Start und wollen beim Place de la Concorde, etwa bei Kilometer 28, nach mir Ausschau halten. Wäre also vorteilhaft, ich würde es zumindest bis dahin schaffen.
Cinq, quatre, trois, deux, un, zéro, c’est parti! Und schon läuft Homo Marathonus in vielfacher Ausführung die 10spurige Prachtstrasse Richtung Tuileries und Louvre hinunter, einfach ein unbeschreibliches Gefühl, da mittendrin zu sein.
Dank Kopfsteinpflaster sind die unzähligen Schritte pro Sekunde auch akustisch eindrücklich wahrnehmbar. Die Läufer verschmelzen zu einem riesigen Strom, der sich die Strasse hinunter ergiesst. Kurz vor mir ein erfahrener Läufer mit gut sichtbarer roter Flagge, er wird die Strecke sehr konstant laufen und in knapp 3:00 im Ziel eintreffen. Zweckoptimistisch ignoriere ich meine Schwäche und laufe törichterweise ihm nach. Das kann ja eigentlich nicht gut gehen. Ich kenne dieses 4.15er Tempo ja sehr gut, aber heute ist es einfach deutlich zu anstrengend. Nach 15km fühle ich mich schon so, als hätte ich 25km in den Knochen. Ich lasse den Flaggenmenschen ziehen, das kann so nichts werden. Die Rennhälfte passiere ich mit 1:31h, damit hätte ich noch leben können. Danach werden die Kilometer aber immer langsamer. Meine Eltern erblicken mich gerade noch in vernünftigem Zustand, zum Glück haben sie sich nicht 10km später hingestellt. Es folgt die komplette Zerlegung. Mein Körper ist ausgelaugt, er will nicht mehr. Die Kilometerzeiten erreichen astronomische Höhen, bis ich dann 7km vor dem Ziel das erste Mal einen Abschnitt gehen muss, da ich an der Kotzgrenze bin. Quäldich, aber beinhart.
Die Unendlichkeit ist lang, besonders am Ende.
Bilder des grossartigen wahren Films Touching the Void mit Joe Simpson gehen mir durch den Kopf. Ebendieser Joe bricht sich bei einem schweren Unfall in den Anden mehrfach das Knie und kämpft sich danach total dehydriert kilometerweit über Schutt und Geröll, und überlebt am Ende nur ganz knapp. Er definiert sich bei seinem Kampf zurück zum Basislager immer kleine Zwischenziele, die er dann losgelöst von der praktisch aussichtslosen Gesamtsituation zu erreichen versucht. Diese Notfall-Taktik wende ich jetzt auch an: Laufen bis zum Baum da vorne oder bis zu der Kurve. Dann ein paar Meter gehen als Belohnung, und dann wieder ein neues Ziel. Survival Training. Immerhin geht mir zu dieser Zeit nicht dauernd ein unerträgliches Lied von Boney M. durch den Kopf, da hatte der arme Joe einen deutlich schwereren Stand. Hinz und Kunz überholt mich auf den letzten Kilometern, das ist mir allerdings egal. Abwechselnd trabe ich langsam und gehe ich. Allez Réto! ertönt es ab und zu aus den Zuschauerreihen, ce n’est plus loin! Distanzen sind relativ, das erkannte bereits Einstein. Die Längen-Verzerrung scheint aber schon deutlich unter Lichtgeschwindigkeit eine Rolle zu spielen. Der gute Albert hat es im Berner Patentamt versäumt, die Relativitätstheorie noch um einen Müdigkeitsparameter zu ergänzen. Da müsste man mal nachbessern. Die Reststrecke ist für mich gefühlsmässig noch immens. Ich muss arg abgekämpft ausgesehen haben. Bei meinem ersten Halbmarathon vor zwei Jahren war das ja ähnlich, da hörte ich eine Zuschauerin gegen Ende sagen: Schau dir doch mal den da an, der sieht ja ziemlich kaputt aus!
Man mag es kaum glauben, aber es tatsächlich wahr: Für die letzten 7km benötige ich eine volle Stunde (!!) (*). Es ist abartig hart, die Beine schmerzen, so etwas habe ich in meinem Leben noch nie erlebt. Zumindest habe ich mich noch nie mit Sport so ans Limit gebracht. Im Zielgelände ist mir schlecht, ich kann überhaupt nichts essen. Ich irre humpelnd umher und finde nach einiger Zeit eine Art Pfosten mit grossem Sockel, bei dem bereits ein paar Leidgenossen Platz gefunden haben. Endlich kann ich meine Beine entlasten. Sich auf der Strasse niederzulassen wäre eine Einbahnstrasse gewesen. Meine Beinmuskeln wären nicht im Stande gewesen, mich wieder aufzurichten.
Hat das wirklich sein müssen? Erschlagen am Pfosten sitzend denke ich mir: Eigentlich nein. In dem Moment bin ich nahe dran, das Marathonlaufen für immer an den Nagel zu hängen. Mehrfach fährt die Ambulanz vor, um Läufer einzusammeln, denen es noch dreckiger geht als mir. Sport ist ja so gesund, Churchhill hatte Recht. Immerhin kann ich jetzt etwas Powerade trinken und damit wieder Energie in meinen erschöpften Körper pumpen. Nach einer halben Stunde raffe ich mich auf und zerre mich am Pfosten hoch. Da natürlich der Zielbereich grossflächig abgesperrt ist, gestaltet sich die Suche nach einem Taxi gar nicht so einfach (besonders wenn Gehen sehr schwer fällt), aber nach einiger Zeit und mit Glück finde ich tatsächlich eines. Nichts wie ins Hotel zurück und mal hinlegen. Im Hotel angekommen muss ich mal noch würgen, aber der Magen ist leer, da kommt nichts. Danach lege ich mich ins Bett. Zwei Stunden später erhole ich mich langsam und der Appetit kommt allmählich zurück.
Nachspiel: Fünf-Sterne Muskelkater begleitet mich danach noch einige Tage, zudem werde ich im Anschluss noch richtig krank – kein Wunder. Rückblickend ist mein Marathon-Jungfernlauf ein Erlebnis, dass ungewollt intensiv war und das ich bestimmt zu Lebzeiten nie vergessen werde.
Natürlich kann ich diese sportlich gesehen komplett missratene Aktion nicht einfach so auf mir sitzen lassen. Nächstes Jahr werde ich, diesmal zusammen mit einem Kollegen, nochmals antreten, hoffentlich dann aber gut vorbereitet und gesund.
(*) Damit habe ich Reiners anvisierten Durchschnitt egalisiert, na also, geht doch! Scheinbar hat dann der Reiner aber schlussendlich 3:56h gebraucht. Seiner Aussage nach wollte er einfach noch vor den Kenianern ins Ziel kommen, die zwei Stunden später den vollen Marathon in Angriff nahmen. Es wurde noch knapp!
Episode II - Platin
Mitte April: Die Muskeln haben sich langsam wieder erholt von den strapaziösen 42195 Metern von Paris und ich fange an mit Höhenmeter sammeln. Es hat noch meterweise Schnee in höheren Lagen, der Winter war diesbezüglich für Pässefahrer eine Katastrophe. Sieht zwar wunderbar aus, wenn ich von meinem Balkon Richtung Berner Alpen blicke, aber sonst kann ich mit der weissen Pracht wenig anfangen. Ich bleibe mehrfach im Schnee stecken, das Rad trage und zerre ich wohl gesamthaft etwa ein bis zwei Kilometer durch den Schnee. Doch manchmal kann ich auch Pässe überqueren, die offiziell noch als geschlossen gelten. Es macht grossen Spass und ich bin meist ein bis zweimal die Woche unterwegs in den Alpen. Vielfach probiere ich da neue Strassen aus, die ich mittels Gockel Erde und Konsorten ausmache. Manchmal ist der Belag schon nach kurzer Zeit für Rennräder nicht mehr zumutbar, manchmal finde ich aber auch ein kleines Juwel. Krasse Auffahrten gehören auch zum Programm, zum Beispiel die hammerharten Alpe Fuori und Alp Grindel.
Ende Juni, mit fünfzig Höhenkilometern in den Beinen, beschliesse ich, mal die Platin Alpenbrevet Strecke auszuprobieren. Noch nie habe ich diese lange Runde bewältigt, das soll sich jetzt ändern. Schon fast ein Must-Do für Bergfahrer wie mich, Müde-Beine-Garantie inbegriffen oder Geld zurück. 265km und etwa 6800 Höhenmeter wollen überwunden werden. Leider steigt ein sportlicher Arbeitskollege aus dem Projekt aus, da er im Trainingsrückstand ist und einfach momentan nicht genug von der Arbeit weg kommt.
Zu dieser Zeit ist das Ultra-Langstreckenrennen schlechthin, das Race Across America, in vollem Gange. Ab und an gehe ich auf die offizielle Website, um Neuigkeiten zu erfahren. Ein Rennen von einem anderen Stern, äusserst beeindruckend. Wie lächerlich wirken da doch die allermeisten anderen Sportveranstaltungen im Vergleich. Der Schweizer Sieger Dani Wyss sieht im Ziel etwa so müde aus, wie der Durchschnittsbürger nach 30minütiger ebener Spazierfahrt...
Ich backe im Vergleich dazu viel kleinere Brötchen und quartiere mich am 29. Juni am Abend in Andermatt ein. Am anderen Morgen klingelt der Wecker bereits um 03:20; es kann losgehen. Mein Plan ist, recht locker zu fahren und einige Pausen einzulegen, schliesslich steht Genuss weit oben auf meiner Prioritätenliste. Auf dem Rad habe ich mittlerweile ein gutes Gefühl für meine Leistungsfähigkeit. Ich schätze, dass ich mit allen Pausen eingerechnet insgesamt gut 14 Stunden brauchen werde.
So starte ich etwa um 03:50, um diese Zeit ist es sogar Ende Juni noch vollständig dunkel und ich habe dummerweise kein Licht dabei (Denn: Die Startzeit habe ich kurzfristig noch etwas früher angesetzt als ursprünglich geplant). Naja, Verkehr ist um diese Zeit in der Region sowieso nicht vorhanden und in kürze wird es hell. Allerdings ist es in der Schöllenenschlucht nun wirklich stockdunkel, vor allem in den vier langen Galerien ist auch Restlich praktisch nicht existent. Nur gerade das an den Schluchtwänden reflektierte Licht der Lichtjahre entfernten Sterne erhellt die Strasse. Blendet auch ohne Sonnenbrille nicht übermässig. Ich schleiche diese Strecke hinunter, immer dem nur knapp wahrnehmbaren Mittelstreifen folgend. Bestimmt meine dunkelsten jemals auf dem Rad zurückgelegten Meter, in dieser Hinsicht kaum mehr zu übertreffen.
In Wassen beginnt der erste Pass des Tages, der Susten. Ich geniesse diese 1300 Höhenmeter und verbrauche dabei kaum Körner. Der blaue Himmel wird allmählich heller, und als ich oben ankomme, kitzeln die ersten Sonnenstrahlen die hohen Berge ringsum. Die Stimmung ist einfach fantastisch, kaum noch Raum für Optimierung. Einzig die zwei Autos, die mich ganz oben noch überholen, können als Makel gewertet werden. Sonst ist absolut niemand da. 1:34h hat der Anstieg gedauert, inklusive kurze Pausen zum Fotografieren. Auf diese Weise kann sich übrigens jeder einen autofreien Pass arrangieren, auch ohne das lobenswerte freipass.ch: Einfach im Hochsommer genug früh am morgen antreten. Funktioniert garantiert.
Die Abfahrt nach Innertkirchen ist wie erwartet ziemlich frisch, passt aber schon. Etwa um 06:30 halte ich an der Kreuzung Richtung Grimsel an, um Beinlinge und Jacke zu verstauen. Da passieren mich zwei Rennradfahrer in kurzem Abstand. Den zweiten hole ich noch vor Guttannen ein und wir radeln zusammen weiter. Er heisst Toni und kommt aus der Region Interlaken. Er hat auch den Tag frei und fährt Grimsel – Furka - Susten. Wir plaudern über dies und das und um wie viel schöner es hier ist als im Büro. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir die Passhöhe und genehmigen uns eine wohlverdiente Pause an der Morgensonne. Ich schicke noch ein SMS ins Büro mit angehängtem Bild von der grandiosen Aussicht hier. Solche Kollegen braucht man. Zwanzig Minuten später folgt die Abfahrt nach Gletsch, dort trennen sich unsere Wege. Wir wünschen uns gegenseitig eine schöne Weiterfahrt.
Also hinunter ins Oberwallis, genauer gesagt nach Ulrichen. Kurz vor Ulrichen rollt man auf einer sehr übersichtlichen, langen Geraden. Und ausgerechnet hier, man glaubt es kaum, wird es einmal kurz gefährlich. Ein SUV-fahrender Einzeller überholt von der Gegenseite her kommend ein langsameres Auto und fährt damit auf meiner Strassenseite. Sein breites Monstrum füllt dabei praktisch die gesamte Fahrspur aus. Ich muss mich dicht am Strassenrand halten, sonst käme es gar nicht gut. Ein Vollidiot. Für solche Fälle bräuchte es echt einen Hellfire-Auslöser am Rennrad. Da besteht offensichtlich noch eine Marktlücke.
Nach dieser ungeplanten Adrenalin-Dusche zweige ich in Ulrichen links ab Richtung Nufenen. Die Strampelwerkzeuge fühlen sich nach wie vor frisch an und so bewältige ich die ersten Kehren mühelos. Dann kommt dieses lange und ziemlich gerade Teilstück, das ins Seitental hineinführt und bei dem ich bis jetzt in diversen Anläufen immer heftigen Gegenwind vorfand. Aber was ist denn los heute? Keinen Gegenwind am Nufenen? Das kann doch einfach nicht wahr sein. Zu Zeiten, in denen Banken und Autofirmen zusammenbrechen, die Leitzinsen auf historische Tiefs sinken und man die Inflation fürchten muss, hätte ich wenigstens gehofft, dass unverrückbare Wahrheiten wie Gegenwind am Nufenen bestehen bleiben. Als sichere Werte in einer wankenden Welt sozusagen. Aber nichts da, dieser Sicherheit beraubt geht der Weg weiter. Im oberen Teil flankieren zum Teil noch massive Schneewände die Strasse. Die wirken wie eine gigantische Klimaanlage, wenn man vorbeifährt. Sehr angenehm. Nach 78 Minuten komme ich oben an und genehmige mir wieder ein paar süsse Kalorien im Restaurant.
Die Abfahrt Richtung Airolo habe ich recht holprig in Erinnerung, mit diesen lästigen Betonplatten. Aber scheinbar habe ich mich nach diversen schmalen Bergstrassen an ganz andere Strassenzustände gewöhnt, jedenfalls empfinde ich den Belag überhaupt nicht als schlimm. Dann weiter nach Biasca, es geht zügig voran. Mit Fahrtwindkühlung fühlt es sich auch nicht allzu heiss an. Ab Biasca ändert sich das Bild drastisch, es folgt die vierzig Kilometer lange Rollerrampe zum Lukmanier. Abartige Hitze. Über dreissig Grad im nicht vorhandenen Schatten. Dazu noch oftmals Seitenwände an den Strassen, die die Sonnenstrahlen zusätzlich reflektieren. Jetzt ist der Zeitpunkt für ein erfrischendes Eis gekommen, wo aber kriege ich das her? Wird ja wohl bald mal ein Tankstellenshop auftauchen, da kaufe ich dann eines. So der Plan, aber ich rolle und rolle und die erlösende Tankstelle will einfach nicht ins Blickfeld rücken. Was ist denn los hier, ist diese bemerkenswerte Errungenschaft der modernen Zivilisation noch nicht bis ins Valle di Blenio vorgedrungen? Diese kleinen Einkaufszentren, die sich mit Zapfsäulen tarnen, um nicht wegen überlangen Öffnungszeiten belangt zu werden, soll es hier etwa nicht geben? Was machen denn die Einwohner hier, wenn sie abends eine spontane Grillparty geben und alle normalen Läden schon geschlossen sind? Die Katze des Nachbars grillieren? Ich finde keine Antwort auf diese quälenden Fragen und schwitze weiter heftig bei meiner Fahrt nach Norden. Plötzlich taucht eine Tankstelle am Horizont auf, die Erlösung. Ich fahre ran und muss enttäuscht feststellen, dass der zugehörige Shop geschlossen ist, arrghh. Da hat jemand den Businessplan nun wirklich nicht kapiert. Etwas weiter entdecke ich nochmals ein paar Schilder, die für Eis werben, aber die genauere Betrachtung lässt erkennen, dass der kleine Laden Mittagspause hat. Provinz. Noch ein paar Kilometer talaufwärts dann endlich eine Tankstelle mit Eis, ein Magnum muss her. Danach geht es mir wieder besser und ich pedaliere weiter, wobei es einfach nicht richtig vorangehen will. Diese Rolleranstiege sind ganz schön anstrengend für die Psyche, da man weder grosse Distanzen noch viele Höhenmeter pro Stunde bewältigt. In Olivone, auf knapp 1000m, steht die zweite Kühlung an und ich begebe mich dazu in ein Restaurant. Zwei weitere Kugeln Eis kommen bei der Haben Seite hinzu. Den Rest des Lukmaniers rolle ich gemächlich nach oben, wobei ich zwischendurch eine Krise erleide. Und zwar eine mentale, der Kopf ist plötzlich sehr müde, ich könnte sofort einschlafen. Den Beinen geht es prima. Ich setze mich in den Schatten und schliesse für zwei Minuten die Augen. Für solche Fälle hätte ich etwas Koffein mitnehmen sollen. Kurz vor 16:00 erreiche ich dann endlich den höchsten Punkt, das war jetzt recht zermürbend. Richtung Disentis sieht der Himmel ziemlich grau aus, es fallen auch bereits erste Tropfen. Hoffentlich nichts Ernstes. Wieder erfolgt die Abfahrt über Betonplatten, diesmal sind die Platten aber ganz übel. Zumindest dann, wenn man schnell fährt. Es rüttelt gewaltig, ich habe fast schon etwas Angst um mein Rad. In Disentis fängt es dann richtig mit regnen an. Aber Richtung Oberalp ist der Himmel nicht allzu dunkel und es scheint kein Gewitter zu sein. Ignorieren ist die beste Devise. Der Regen hat auch Vorteile, die Hitze ist Vergangenheit. Noch knapp 1000 Höhenmeter bis zur Passhöhe, das kann jetzt nicht mehr allzu lange dauern. Doch ich habe verdrängt, dass der Anfang ab Disentis wieder so eine Rollergeschichte ist. Zu viel Horizontales. Man hat gar nicht das Gefühl, einen Pass zu fahren. Erst ab der letzten kleinen schmucken Ortschaft, Tschamut auf etwa 1600m, ändert sich das Bild, und man kommt in den Genuss von hübschen Kehren und nicht steigungsloser Steigung. Ein paar Minuten nach 18:00 stehe ich am Passschild, meine Zeitschätzung war damit recht genau. Kurz darauf in Andermatt reicht die Zeit gerade noch, um bei einem Pizza Take-Away einen Mafiafladen zu bestellen und diesen in den Zug mitzunehmen. Den Zug erreiche ich nur knapp (Pizza hat länger gedauert als angekündigt), hätte ich ihn nicht erreicht, hätte ich wohl mit einer Pizzaschachtel in der Hand die Schöllenenschlucht abfahren müssen. Das wäre dann wohl auch nicht ungefährlicher gewesen als ohne Licht am morgen.
Schlussendlich hat die Tour ihre Garantie eingehalten, die Beine sind müde, ich kriege kein Geld zurück…
Episode III
Hat einen eigenen Eintrag erhalten, hier.
6 gefahrene Pässe
Grimselpass, Sustenpass, Nufenenpass, Oberalppass, Passo del Lucomagno, SchöllenenschluchtStrecke
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren
am