Von majortom – Von Null auf 1600. In den französischen Seealpen geht es hoch hinaus. Die langen Anstiege von der Côte d'Azur um die Mittelmeermetropole Nizza führen in die traumhaften Landschaften der Seealpen.
Das dargestellte Programm ist exemplarisch. Wir werden die Tourenplanung noch spontan den Witterungsbedingungen anpassen.
Von majortom – Herzlich willkommen in Saint-Laurent-du-Var. Das Programm für den Anreisetag: Beine lockern, in den Urlaubsmodus schalten, auf einen Kaffee in der Nachmittagssonne nach Grasse. Die weltberühmte Parfum-Stadt ist der Wendepunkt unseres kleinen Prologs, der zunächst entlang der Uferpromenade am blau glitzernden Mittelmeer entlang führt und dann in die Hügellandschaft rund um Nizza vordringt. Auf der balkonartigen Panoramaterrasse, mittendrin im malerischen, in den Hang gebauten Grasse, liegt uns dann der Küstenstreifen der mondänen Côte d'Azur zu Füßen.
Von majortom – Als ich heute morgen vor dem Hotel auf den Etappenstart warte, muss ich an Paul F. denken. Da ihn vermutlich eher wenige kennen werden: Paul ist der ehemalige Leiter von Jugendfreizeiten, an denen ich in den 90ern teilgenommen habe. Selbst bei heftigem Regen sagte Paul immer nur mit einem Grinsen: "Des isch doch nur die Gischt vom Meer!" Heute Morgen fällt es nämlich auch schwer zu entscheiden, ob es sich bei dem leichten Niederschlag vor dem Hotel tatsächlich um Nieselregen handelt, oder einfach nur die Gischt vom Meer. Laut Wetteronline regnet es nämlich bis in den Nachmittag hinein nicht mehr.
Ich muss aber auch - in Vorfreude auf die bevorstehende Etappe - an Lance A. denken. Den werden ein paar mehr Leser dieses Berichts kennen; es handelt sich dabei um einen Amerikanischen Radsportler, der sich für ein paar Jahre mal siebenfacher Tour-de-France-Sieger nennen durfte, bis ihm diese alle wegen Dopings wieder aberkannt wurden. Eben jener Lance A. hatte laut eigener Auskunft auch ein sehr inniges Verhältnis zum Col de la Madone, der das Highlight im heutigen Etappenplan darstellt. Der Grund: der Col de la Madone diente Lance, der an der Côte d'Azur seine Wahlheimat gefunden hatte, als persönlicher Gradmesser. „If I went to the Madone two weeks before the tour and went as hard as I could, I knew if I was gonna win the tour or not", sagte er einmal. Obwohl Lance A. für mich zu seiner aktiven Zeit nie ein besonderer Sympathieträger war, muss ich ihm heute doch zugute halten, dass sein Madone-Orakel aus der heutigen Zeit betrachtet (in der die meisten Athleten das einfach mit dem Wattmesser auf der Rolle ermitteln) durchaus eine eher knuffige Vorgehensweise der Tour-Vorbereitung darstellt.
So bin ich also in Gedanken bei Paul und Lance, als wir auf unsere Etappe aufbrechen. Die Gischt-These scheint sich jedoch schon bald in Luft aufzulösen, als wir entlang der berühmten Promenade des Anglais in Nizza das Wasser vom Boden aufwirbeln. Kommt das wirklich nur vom Meer? Wie auch immer, entspannt cruisen wir die ersten 10 km entlang bis zum alten Hafen, rechts von uns das Mittelmeer, links die Stadt, dahinter die Seealpen. Die Wolken hängen nicht so tief heute, immerhin. Es ist kaum etwas los, und wir haben die Promenade für uns, Feiertag sei dank.
Kurze Zeit später biegen wir auf die Basse Corniche ein, die unterste von drei parallelen Küstenstraßen, die Nizza mit Menton verbinden. Zwischen den Klippen und den an und zwischen die Klippen gebauten Villen arbeiten wir uns empor über die Moyenne Corniche zur Grande Corniche, der am höchsten gelegenen und wohl eindrücklichsten der drei Küstenstraßen. Wir erreichen sie am Col des Quatre Chemins, erster Pass also schon abgehakt, doch es geht nahtlos weiter zum deutlich bekannteren Col d'Èze, der traditionell als Scharfrichter der Schlussetappe der Profi-Rundfahrt Paris-Nizza fungiert. Schon in der Anfahrt zum Col d'Èze werden wir von einem ehemaligen Paris-Roubaix-Sieger und einem Domestiken überholt, was uns nochmal vor Augen führt, dass nicht nur der eingangs zitierte Lance A. hier einst residierte, sondern immer noch zahlreiche Profis die Region Nizza zu ihrer Wahlheimat gemacht haben. Wer kann es ihnen verübeln, bei solch großartigen Trainingsrouten, wie auch wie sie hier vorfinden. Die Blicke von der Grande Corniche hinab aufs 500 Meter tiefer liegende Mittelmeer sind auch bei bewölktem, gischtschwangeren Wetter grandios.
Eine flowige Abfahrt führt uns hinab Richtung Menton, bekannt sowohl für seine Zitronen, als auch als Endpunkt der berühmten Route des Grandes Alpes. Erstaunlicherweise kommt uns hier auf einmal die sportive Gruppe entgegen, die wohl aus Respekt vor der Wetterlage vorzeitig umkehrt. Wer kann es ihnen verdenken, schließlich sind sie gestern schon eine volle Etappe im Dauerregen gefahren.
Wir von der entspannten Gruppe hingegen bereuen nichts. Es brandet uns wieder ein wenig Gischt entgegen, als wir in Menton einlaufen, was wir jedoch entspannt hinnehmen und erstmal in das Restaurant des Hotel Dauphin einchecken. Die Karte hier ist deutlich italienisch angehaucht, was angesichts der äußerst nahen Grenze zu Italien jedoch auch kein Wunder ist. Der von @Jan postulierte "Große Kulinarische Grabenbruch"* entlang des Alpenhauptkamms in den Westalpen scheint hier zumindest ein paar Kilometer nach Westen verschoben zu sein, und schon bald steht großartige Pasta vor uns. Genau das was wir jetzt gebracht haben.
"Wie weit ist es bis zum Anstieg?" fragt Robert, als wir wieder aufbrechen. "Eineinhalb Minuten", entgegne ich, und das stellt sich noch als übertrieben heraus. Der Anstieg zum Col de la Madone beginnt gewissermaßen im Hotel Dauphin. Erst über eine unregelmäßig trassierte Nebenstraße, dann sind wir jedoch schon bald auf der Passstraße, die immer noch den Ruf genießt, ein beliebter Trainingsberg für Profis zu sein. Und das Profispotting beginnt. Fast im Minutentakt werden wir von Profisportlern verschiedenster Teams überholt, bekommen unter anderem einen ehemaligen Liège-Bastogne-Sieger zu Gesicht. Das tritt jedoch eigentlich alles in den Hintergrund angesichts der großartigen Panoramen, die uns der Pass aus den Felswänden oberhalb der Bucht von Menton liefert. Mit jeder Kehre liegt das Mittelmeer nochmal tiefer, die schmale Straße windet sich weiter und weiter empor, und es ist auch landschaftlich einfach grandios. Wieso sollte man Bestzeiten jagen, hier am Madone, wenn man auch einfach diesen fantastischen Pass genießen kann.
Als dann an der Passhöhe der Regen einsetzt (der lässt sich jetzt nicht mehr wegdiskutieren), scheint klar: wir ziehen heute die Abkürzungsoption, die sowieso schon als Karotte an der Schnur vor uns baumelte, um uns überhaupt auf die Etappe zu locken. Zum Glück hält der Regen nicht lange an, und wir können so auch die äußerst schöne Abfahrt über Peille ins Paillon-Tal genießen. Mit einer Schrecksekunde, denn ein Stein auf der Straße führt beinahe zu einem dramatischen Sturz; glücklicherweise kann der Betroffene das ausbrechende Hinterrad noch aussteuern und kommt mit einer Touchierung der Leitplanke ohne Personen- oder Sachschaden davon.
Abkürzungsoption bedeutet: wir cruisen einfach das Paillon-Tal hinab, das sowieso bei Nizza ins Meer mündet. Überraschenderweise stellt sich auch die Passage durch die Stadt am Feierkehr als total entspannt heraus, was aber nur mich erstaunt, da ich der einzige bin, der es auch anders kennt. Und schon erreichen wir wieder die Promenade des Anglais, und rollen die finalen Kilometer am Meer entlang zurück ins Hotel. Was für eine sensationelle Etappe. Wen stört da schon ein wenig Gischt vom Meer?
*Der von @Jan postulierte Kulinarische Grabenbruch ist nicht zuletzt dank dieser Reise hier als völliger Humbug erwiesen (und Jan hat ja eh keine Ahnung). Das Abendessen in den Restaurants an der Strandpromenade in Saint-Laurent steht - zumindest bis jetzt - demjenigen in Ligurien vor ein paar Wochen in nichts nach.
Von majortom – Wir können auch am ersten Tag schon tief in das Gebirge der Seealpen vordringen. Diese Variante ist in Summe gar nicht mal so viel höhenmeterreicher, dafür aber deutlich länger. Sie ist aber auch äußerst lohnenswert, fahren wir doch den sagenhaften Serpentinenanstieg von Lucéram zum Col Saint-Roch. Auf dessen Nordseite fahren wir ab ins Vésubie-Tal und können uns auf eine lange Passage mit viel Flow entlang der Flusstäler zurück zur Küste freuen.
Von majortom – Heute bewegen wir uns westlich des Var-Tales in der Haute-Provence. Es ist eine Gegend, die sogar noch eine Spur verlassener wirkt als die wilden Seealpen. Längster Anstieg des Tages ist der Col de Vence, der aus dem Ort gleichen Namens ins einsame, wildromantische Hinterland mit seinen tief eingeschnittenen Tälern führt. Über welliges Terrain geht es dann in Richtung des Col de l'Ecre, der in felsiger Szenerie von 1120 m Höhe wunderschöne Blicke auf die Küste rund um Nizza präsentiert. Auf der langen rauschenden Abfahrt zurück zur Küste passiere wir mit dem auf einem Felssporn gebauten Goudron einen der schönsten Orte der Haute-Provence - wie gemacht für eine wohlverdiente Kaffeepause mit sagenhafter Aussicht.
Von majortom – Der schönen Ausblicke wegen fahren wir noch auf den etwa 1400 m hohen Bergkamm beim Skiort Gréolières-les-Neiges. Hier sehen wir nicht nur in das tief eingeschnittene Esteron-Tal direkt unter uns; am Horizont prangen auch die noch schneebedeckten Hochalpen mit den Dreitausendern des Mercantour.
Von majortom – Eigentlich wollte ich ja so spät am Abend keinen Bericht mehr schreiben. Aber die Bilder von @Luc sind so gut, dass wir doch die Weltöffentlichkeit daran teilhaben lassen wollen. Schließlich gab es in der letzten Nacht den lang ersehnten Wetterumschwung zum Besseren, und so können wir heute bei zumeist strahlendem Sonnenschein ein weiteres der zahlreichen Seealpen-Highlights spielen: die Madone d'Utelle, das der Legende nach einst von spanischen Seeleuten gegründete Kloster auf einem Berg im Hinterland von Nizza, wozu ebenjene Seeleute von der Jungfrau Maria zwangsverpflichtet worden waren, nachdem sie sie aus einem schrecklichen Sturm gerettet hatte. Buenos dias, Madonna.
Nur wenige Wolken am Himmel beim Etappenstart, dafür einige Wolken um meine Stirn, als mir beim Beheben eines Leihrad-Plattens unerwarteterweise ein Schwall Dichtmilch entgegen kommt. Die haben Tubeless montiert, kann ja keiner ahnen. Also bricht die entspannte Gruppe mal wieder mit Verspätung auf, was die Stimmung zwar nicht trüben kann, aber engesichts des straffen Zeitplans auch nicht unbedingt so gewollt ist. Was solls. Mark navigiert uns souverän auf den ersten zweieinhalb Kilometern durch den nizzaischen Berufsverkehr, dann haben wir den Radweg entlang des Var-Tals erreicht und cruisen völlig entspannt für 20 km in Zweierreihe dahin. Weiter geht es das Var-Tal hinauf, das wir nun zwar mit dem motorisierten Individualverkehr teilen müssen, das aber jetzt auch schöner wird. Das Tal verengt sich, wenig GPS-Empfang, ein paar Wellen führen zum ersten Teilnehmerschwund - spontan wir sich doch für die Umkehr in den Ruhetag entschieden.
Endgültig heben sich die Mundwinkel bei der Passage im Tinée-Tal, und im schönen Serpentinenhang nach La Tour, der den längsten Anstieg des Tages zum Kloster einläutet. "Wir könnten vor der Mittagspause schon noch irgendwo einen Cappuccino nehmen", schlägt Luc vor, dessen ausdauernde Gruppe gleichzeitig mit uns hier eintrifft. "Bis zur Mittagspause gibt es nicht mal Gebäude, geschweige denn welche, die Cappuccino ausschenken", entgegne ich. Gerade das zeichnet die Westauffahrt zur Madone aus: völlige Einsamkeit auf schmaler Straße. Auf steiler Straße, hätte ich vielleicht erwähnen sollen, aber das hatte ich so ehrlich gesagt gar nicht mehr auf der Rechnung, und auch mir selbst ziehen die Rampen von 17 Prozent ein wenig den Stecker. Spaß macht es dennoch irgendwie. Die Landschaft ist toll. Felswände, dann dichter Wald, und ein verwegenes Sträßchen mitten hindurch.
Mit viel Schwarmintelligenz befreien wir am Abzweig zum Kloster dann Wolfgangs verklemmte Kette - danke an Andreas, der den entscheidenden Hinweis zum letztendlich erfolgreichen Lösungsansatz liefert. Mit etwas Verspätung fährt somit das Grupetto zum Kloster hinauf, ist aber nicht minder begeistert. Von der Sicht bis zum Mittelmeer bei Nizza, von der Sicht in die Hochalpen, der einzigartigen alpinen Atmosphäre, den uns bemitleidend zusehenden Schafherden.
Unsere bewährte Ravioles-Location, wo die Mittagspause geplant war, hat leider geschlossen. Doch es gibt keine Probleme, die man nicht zumindest vorübergehend mit Studentenfutter lösen kann. Immerhin den gewünschten Brunnen kann ich problemlos in Saint-Jean-la-Rivière aus dem Hut zaubern. So ist die Stimmung immer noch gut, als wir mit Kaloriendefizit zum Le Saut des Français hinauf fahren. Die Höhenstraße oberhalb des Vésubie-Tals, in den Hang gebaut, lohnt jedenfalls den zusätzlichen Aufwand. Und auch die Boulangerie Patisserie Alexis, die uns schließlich in Levens mit lang ersehnter Tourte aux Blettes* versorgt. Für diese verspätete Mittagspause hat sich das Warten in jedem Fall gelohnt.
Es kommt selten vor, dass wir bei der Mittagspause bereits so gut wie zurück im Hotel sind. Tatsächlich fehlt zu diesem Zeitpunkt lediglich noch: eine rauschende Abfahrt ins Var-Tal, und das Zurückcruisen auf der Radautobahn nach Saint-Laurent. Was wir mit Teamwork und einem verzögerten belgischen Kreisel hervorragend hinbekommen. Auf den letzten zwei Kilometern im Berufsverkehr kommen uns dann meine in der Banlieue von Genf erworbenen Stadtverkehr-Kenntnisse zugute... und schon schließt sich nach einer langen, harten, aber wunderschönen Etappe am Hotel der Kreis. Und wir haben nur noch das erneut opulente Abendessen vor sich, diesmal im auf Fisch und Meeresfrüchte spezialisierten People. Bon appetit.
*Bei der Tourte aux Blettes handelt es sich um eine weitere Spezialität der Region Nizza. Den Kuchen mit Mangoldfüllung gibt es sowohl als süße, als auch als salzige Variante, Alexis serviert uns letzteres.
Von majortom – Unser Ruhetag zur Wochenmitte ist natürlich wie immer ein Ruhetag façon quaeldich, also eine etwas kürzer gehaltene Tour. Man kann natürlich auch darauf verzichten und den ganzen Tag am Strand oder am Hotelpool oder im Café du Cycliste verbringen, oder die Altstadt von Nizza zu Fuß erkunden, doch dafür ist ja auch am Nachmittag noch Zeit.
Die heutige kurze Runde führt uns auf eine Art Hausberg von Nizza, den Mont Chauve. Ein Fort ziert seinen Gipfel, das ursprünglich errichtet wurde, um die Grenze der Grafschaft Nizza zu sichern, und dank ihm gibt es eine asphaltierte Straße hinauf. Traumhafte Ausblicke sind - falls das Wetter mitspielt - garantiert.
Von majortom – Everesting kann jeder. Wir machen heute Coldeturining. Statt des höchsten Gipfels der Erde wählen wir uns heute einfach den höchsten Pass der Voralpen von Nizza. Und fahren die Höhenmeteranzahl des Col de Turini. Am selben Pass. So oft hoch und runter, bis man die Höhe erreicht hat. Was am Col de Turini bedeutet: einmal rauf, wenn man auf Meereshöhe startet. Was wir in Saint-Laurent-du-Var ja gewissermaßen machen. Das Var-Tal rauf, dann das Vésubie-Tal rauf, und dann auf den Pass. Fertig ist das Coldeturining.
Beim Col de Turini handelt es sich nicht nur um den höchsten, sondern auch um den bekanntesten und prestigeträchtigsten Pass der Region. Warum eigentlich? Wenn der Name des Passes fällt, kommt die Sprache immer relativ schnell auf die Rallye Monte Carlo. Und Motorsport und Rennradfahren schließen sich ja eigentlich gegenseitig aus. Glücklicherweise hat sich auch der Radsport in den letzten Jahren und Jahrzehnten seine Anteile am Col de Turini erworben. Nicht zuletzt durch die Bergetappe beim Grand Départ der Tour de France 2020 in Nizza. Eine Etappe, die auch die längere Variante unserer heutigen Tour inspiriert hat - über Col Saint-Martin und Col de Turini im Double. Die ausdauernde Gruppe möchte sogar noch einen drauf setzen und die komplette Tour-Etappe nachfahren, inklusive der abschließenden Schleife über den Col d'Èze. Obwohl wir den schon kennen. Aber schließlich beginnen viele legendäre Geschichten mit einem "Hast du sie noch alle?"
Wie dem auch sei: in der entspannten Gruppe backen wir kleinere Brötchen. Rauf. Runter. Zum Col de Turini und zurück. Das soll reichen. Keine Königsetappe. Aber immerhin eine Etappe mit Königspass. Wir starten wieder bei frühsommerlichen Bedingungen. Es ist warm, kurz/kurz-Wetter, keine Wolke am Himmel. Mit der gewohnten Souveränität manövriert uns Mark an der Spitze auf die Radautobahn im Var-Tal. Vormittag bedeutet ablandigen Wind, also Gegenwind. Mal wieder. Dennoch cruisen wir gemütlich und hochmotiviert das mittelmäßig pittoreske Tal hinauf. Genießen beim U-Turn-Manöver auf der anderen Flussseite kurzzeitig den Rückenwind. Und staunen gleich darauf über die Vésubie-Schlucht, die uns mit kalten Temperaturen und steil abfallenden Felswänden empfängt. Vor ein paar Tagen haben wir die Schlucht noch vom Le Saut des Français von oben bestaunt.
Etwa fünfzig Kilometer sind wir gefahren, dann kommen erste Rufe nach einer Pinkelpause auf. Trifft sich gut, denn kurz darauf wollten wir sowieso Mittagspause in Lantosque machen. Beim eingeplanten Bäcker eine Schrecksekunde: die Rolländen sind runtergelassen, und ein an der Tür klebender Zettel informiert uns, dass aufgrund von Personalmangel und Kinderbetreuung heute leider geschlossen ist. Doch ein freundlicher Passant verweist uns gleich zum Mitbewerber ein paar Häuser weiter. Wo es auch leckere Tourte aux blettes (diesmal die süße Variante) gibt, und die benachbarte Bar uns auch gleich mit Café versorgt. Schöne Mittagspause in Lantosque.
Gnädigerweise haben wir danach noch zwei bis drei Kilometer Einrollphase eingebaut, bis es in die Passauffahrt geht. 1100 Höhenmeter am Stück zum Col de Turini. Auf 15 km. Die bekannte Westauffahrt. Der Respekt ist groß. Der österreichische Tom fährt uns gleich davon, als Relaisstation für den ebenfalls hochmotivierten Mark, dem der Mangoldkuchen gut zu bekommen scheint. Auch die entspannte Gruppe ist im Tourfieber. Wir genießen die ersten Kilometer bis in das schön am Hang gebaute Bollène-Vésubie. Regelmäßige Steigung, schöne Aussicht zurück ins Tal, jeder findet seinen Rhythmus. Nach oben hin wird der Wald immer dichter; ein Zeichen dafür, dass der Turini auch oft mal in den Wolken hängt und die Feuchtigkeit vom Mittelmeer sich hier abregnet. Es wird zäh auf den letzten Kilometern. Für alle ist es die bislang längste Passauffahrt des Jahres.
Und dann stehen wir oben. 1607 m Höhe. Coldeturining: Haken dran! Was für ein erhebendes Gefühl. Kühl ist es hier oben, und wir ziehen uns für eine Weile in das Hotel-Restaurant zurück auf einen Cappuccino, Tee oder ein Cola. Die Hälfte der Etappe ist geschafft. Aber fast schon alle Höhenmeter. Ein gutes Gefühl. Also geht es zurück zur Küste nun praktisch nur noch bergab. Eine lange Abfahrt. In dem Abschnitt zwischen Baisse de la Cabanette und Lucéram vermisse ich plötzlich die Gruppe hinter mir, sehe sie dann zwei Kehren weiter oben. Wolfgang dirigiert dort alle zum perfekten Fotomotiv. Wahrscheinlich schreibt Sandra in Gedanken schon die Werbetexte dazu. Der Serpentinenhang ist aber auch sagenhaft - für viele das absolute Highlight der heutigen Etappe.
Dann hätten wir nur noch zurück nach Hause fahren wollen. Hätte, hätte, Fahrradkette - leider im wahrsten Sinne des Wortes. Das Exemplar von Sandra hat sich auf skurrile Art und Weise um den Umwerfer gewickelt. Ratlose Gesichter. Bis Tom (nicht ich) vorschlägt, den Umwerfer zu lösen und so die Kette zu entwirren. Funktioniert erstaunlich gut. "Ich bin halt gut in analytischem Denken", sagt Tom stolz.
"Was ist eine Socca?" fragt er dann etwa 10 Kilometer später, als wir schon längst in Nizza angelangt sind, und ich vorschlage, diesen lokaltypischen Snack noch in die Etappendramaturgie einzubauen, als letzte Pause vor dem Schmutzbier gewissermaßen. Es ist ein im Holzfeuer gebackener Kichererbsen-Fladen, und neben der Pissaladière der zweite Auf-die-Hand-Signature-Dish der nizzaischen Küche, der uns auch bei René Socca nur unweit des Track-Verlaufs in schöner Atmosphäre serviert wird. Sensationell.
Und dann nur noch die Promenade entlang in die Strandbar, wo heute ausnahmsweise mal wir auf die Ankunft der anderen Gruppen warten.
Von majortom – im Jahr 2020 fand der Auftakt der Tour de France - der Grand Départ - in und um Nizza statt. Das höhenmeterreiche Terrain der Seealpen bescherte dem Péloton damals eine frühe Bergetappe. Heute wandelt wir auf den Spuren dieser Etappe. Indem wir dem Col de Turini noch den schönen Col Saint-Martin (auch bekannt als Col de la Colmiane) vorschalten, fahren wir heute fast identisch wie damals die Profis!
Von majortom – Ziel der letzten Runde unserer Woche ist ein absoluter Geheimtipp. Die Clue d'Aiglun oberhalb des Esteron-Tals ist eine schmale Straße, die teilweise in den senkrechten Hang gebaut worden ist. Grandiose Tiefblicke wechseln sich ab mit abenteuerlichen, in den Fels gehauenen Tunnels. Auf dem Weg dorthin passieren wir ein weiteres landschaftliches Highlight: die enge Schlucht Gorges du Loup, der wir bis hinein in die Voralpen von Vence folgen. Es schließt sich der Anstieg zum Col de Bleine an, mit 1439 m Höhe der höchste Punkt des Tages. Die Clue d'Aiglun führt uns dann Richtung Var-Tal zurück, und wir lassen die Woche auf der uns schon wohlbekannten Radautobahn ausklingen.