Tour de France 2000
797,3 km / 19290 Hm
20 gefahrene Pässe
Col du Galibier, Col du Télégraphe, Col d'Izoard, Col de la Madeleine, Col de la Croix de Fer, Col de la Bonette, Col de Vars, Col du Glandon, Col du Lautaret, Cime de la Bonette, ...Gesamtstrecke
Einzelstrecken

Die Vorbereitung und Zusammenfassung

Tobi und Andy erstellten eine Tour, wieder über ganz große Namen der Tour de France - Madeleine, Télégraph, Galibier, um nur die größten zu nennen. Von Annecy (oben rechts) sollte es losgehen, einer sehr lebendigen Stadt mit sehr vielen jungen Leuten, Straßenmusikern und Kleinkünstlern allerorten. Tobi und ich entschlossen, nochmal dahin zurückzukehren. Annecy ist sicherlich auch allein ein Besuch wert. Bis nach Monaco ans Mittelmeer sollte es gehen - ein imposanter Abschluss war zu erwarten.

Damals hatte ich noch mit Freddy im Lac de Roselend (rechts) gebadet; dieses Jahr hatte ich ähnliches vor.



Der erste Tag
Früh morgens brachen wir aus dem lebendigen Annecy auf, auf der vielbefahrenen D909 ging es zunächst vier Kilometer am Nordostufer des Lac d'Annecy entlang, in dem sich außer der Sonne auch das Bergmassiv Montagne du Semnoz spiegelte, das uns gegnüberlag. Die Wolken vom Vortag hatten sich mal wieder pünktlich zum Tourbeginn im Wesentlichen verzogen, eine sonnige Fahrt über St. Jean de Sixt, den Aravis, den Saisies und den Cormet de Roselend erwartete uns. Die Tour ging prächtig los.
Team Freiburg bestand aus Tobi, Andy und Tim, wobei hier Tobi ganz klar auf Gesamtsieg fuhr und seinen Wasserträgern die undankbare Aufgabe zukam, Sprints anzuziehen (die dann doch zu nichts führten) und Bergangriffe von Till und mir, die das Team Bonn bildeten, zu beantworten. Insgesamt gesehen führte die Teamarbeit ein Schattendasein, nur am vierten Tag, in dem Tobi erstmals Schwäche zeigte, wussten wir unsere unterschiedlichen Bergvorlieben (Till fürs Steile, ich fürs Flache) geschickt zu kombinieren und Tobi zwei Berge abzunehmen.
Aber daran war noch nicht zu denken, und so rollten wir locker den flachen Anstieg nach St. Jean de Sixt hoch, wo wir schon in unserer Frankreichtour 1998 genächtigt hatten. Das Gefühl von Heimat und Verbundenheit zu diesem Ort durchfloss uns drei, die damals nach unserem ersten Alpenpass, den Col de la Columbière, hier zum ersten Mal Hoffnung geschöpft hatten, dass das ungeheure Programm, das wir uns vorgenommen hatten, vielleicht zu bewältigen sei. Doch heute sah das ganz anders aus. Wir wussten, was vor uns lag, wir kannten unser Leistungsvermögen in den Alpen, wir hatten ein Begleitfahrzeug mit ausreichend Nahrungsmitteln, unseren Starphotographen und Teamleiter Walter Kern und radelten beruhigt durch den Ort, die paar Kehren nach La Clusaz und rein in den Anstieg zum Aravis, den wir so viel steiler und anspruchsvoll in Erinnerung hatten.

Aber schon ging es weiter, den Aravis hinunter, durch den berüchtigten Tunnel kurz nach dem Pass, der urplötzlich nach einer recht scharfen Linkskurve auftaucht. Im Tunnel ist eine 90 Grad Rechtskurve, was wir diesmal immerhin schon wussten, und das dunkle Loch so von vornherein vorsichtig anfuhren. Wir wudnerten uns, wir wir es damals schafften, in diesem dunklen, nassen Tunnel die Kurve zu kriegen, als wir halsbrecherisch einfach hineinfuhren mit dem Gedanken: Am Ende geht's irgendwie wieder raus.

Der gesamte Anstieg ist sehr flach; nach Notre Dame de Bellecombe geht es nocheinmal ein kleines Stück bergab, an dem man auf die langezogene Rechtskurve blicken kann, nach deren Scheitel es dann wieder hoch geht, kaum merklich steiler als zuvor. Nach weiteren vier Kilometern erreicht man den Col des Saisies, mit 1650 m.ü.d.M. immer noch ein Zwerg unter den großen Pässen die noch kommen werden.


Wir fuhren die D218 nicht bis hinunter ins Tal, sondern bogen auf halber Strecke links ab über Hauteluce auf die D70, einer sehr schmalen und sehr stark beschädigten, aber attraktiven Straße, die allerdings bald wieder auf die D218 führt. Im Tal ging es links auf die D925, Schauplatz unseres zweiten Versagens in der Sprintwertung, diesmal allerdings zum glücklich Ausgang fürs Team Bonn, da sich keiner des Teams Freiburg dazu gemüßigt fühlte, an mein Hinterrad zu fahren, als ich mich nach einigem Rumgeplänkel dazu entschied, den Sprint jetzt einfach mal anzuziehen, und die Geschwindigkeit auf schlappe 37 km/h erhöhte. Naja, super Sieg, das.
Von Beaufort (743 m) sind es noch 19,5 km bis zum Cormet de Roselend (1967 m), schon nach 11 steilen Kilometern (Steigungen über 10 Prozent) durch eintönigen Wald erreicht man allerdings den Vorpass Col de Méraillet (1605 m), von dem aus sich ein umwerfender Blick auf den Lac de Roselend eröffnet. In dem Azurblau des Wasser spiegeln sich mächtige Felsmassive, nur links, der Straße nach Nordosten folgend, sieht es lieblicher aus. Dorthin fällt die Strasse einige zehn Meter ab, bis sie fast auf Niveau des Sees ist. Von hier sind es nur fünf Minuten zu Fuß bis zum See, an dem immer Leute baden. Tim und ich hielten die Tradition aufrecht und schwammen einige Meter, während sich Andy, Till und Tobi noch oben auf dem Vorpass ein wenig ausruhten.


Ist der Cormet de Roselend bis zum See sehr steil und unangenehm, so ist das ab hier anders. Die langezogene Serpentine, die man vom Vorpass unter den Felsklüften daliegen sieht, macht nur einen steilen Eindruck, ist aber wahrlich freundlich zu befahren. Die Landschaft ist atemberaubend. Vom See weg führt die Straße durch grüne Matten; ein Gebirgsbach hinterlässt einen waghalsigen Eindruck, die Felsen blicken drohend herab.


Nun war der letzte Pass des heutigen Tages geschafft; wir waren alle froh zusehen, dass die nötige Kraft immer noch da ist, vor allem ich mit meinen knapp 500 km Vorbereitung in diesem Jahr.


Die Abfahrt vom Cormet de Roselend nach Bourg St. Maurice zeigte zwei Tücken:
Erstmal verheißt sie nach einem anfänglichen Serpentinenstück und darauffolgender leichten Kurven, als High-Speed-Strecke weiterzugehen, was allerdings von einer plötzlich auftretenden rechten Haarnadelkurve stärkstmöglich verneint wird, die man nicht mit 70 anfahren sollte, da man sich sonst plötzlich mit zwei blockierenden Reifen in die Kurve schlitternd wiederfände, dem unabgeschirmten Abhang zur Linken auf sich zukommen sähe und womöglich noch auf den ungeebneten Seitenstreifen auszuweichen hätte, um den natürlich nicht ausbleibenden Gegenverkehr zu umgehen, auf dessen Spur man sich inzwischen vom Leben verabschiedet hat.
Hat man diese Klippe umschifft und wiegt sich aufgrund der alpinen Ruhe in Sicherheit, so aufgepasst - man läuft Gefahr, wie wir zum Sparringspartner im Training der Alpenrallye zu werden. Heulenden Motors war plötzlich ein Fiat 500 hinter uns aufgetaucht, der uns auch tatsächlich auf dieser schmalen Straße überholen konnte, nachdem er zuvor schon einige Male mit quietschenden Reifen in Serpentinen neben uns zu Stande gekommen war, als er einsehen musste, dass hier noch kein Durchkommen war. Wir waren froh, als uns dieser Todeskandidat unversehrt hinter sich ließ.
Glücklich über das Wetter, glücklich über die schönen Berge des Tages, glücklich über die Gewissheit, auch diese Tour zu bestehen und glücklich, zu leben kamen wir heute in Aime an, wo wir nach einem kurzen Marsch durch das Dorf und einem üppigen Spaghettiessen beim Italiener die wohlverdiente Nachtruhe antraten.


Kein Wölkchen zeigte sich am Himmel, die Sonne brannte gnadenlos auf uns herab; schweißgebadet zogen besonders Till und Tobi die Fliegenschwärme an, was Till letztendlich dazu bewegte, mit Vollgas dem Gipfel entgegenzufahren in der Hoffnung, diese abzuschütteln. Vorher hatten Till, Andy und ich das heutige Grupetto gebildet, Tobi hatte den Gipfel gewonnen, aber Tim hatte sich den zweiten Platz gesichert mit über zehn Minuten Vorsprung auf uns.
Aber schöner als die Bergwertung war heute die Bergkulisse: Kurz nach la Thuile, wo auch die Straße über Doucy sich unserem Weg anschloss, sah man langsam den Mont Blanc sich hinter dem Bergsattel erheben, der uns gegenüber auf der anderen Seite der Isère lag. Langsam schob er sich höher und höher und begleitete uns wachsam auf dem Weg zum Madeleine, und auch später, auf dem Anstieg zum Glandon, guckte er uns über die Passhöhe des Madeleine wie vor zwei Jahren beim Anstieg auf den Iseran bei unseren Strapazen zu.


Auch die unmittelbare Umgebung wusste uns zu beflügeln: die anfänglichen Kuhweiden rechts und links der Straße, durch die sich recht vielfältige Büsche und Fichten zogen, wurden immer mehr abgelöst von kargen, gerölllastigen Grasflächen, bis man schließlich, im Kessel vor dem Pass, an dessen Rand es in Serpentinen mit über zehn Prozent Steigung nach oben geht, auf tiefe Erosionstrichter und auf die felsigen Zinnen des Cheval Noir zur Linken blickt.


Der Pass selbst ist himmlisch gelegen. Nach Norden blickt man auf den Mont Blanc, den man jetzt schon recht weit über dem Bergrücken sehen kann, nach Süden kann man von der Terrasse des Gasthauses die gesamte Auffahrt auf den Col du Glandon einsehen (siehe oben rechts), einschließlich der Serpentine, die knapp unterhalb des Gipfels das letzte, knackige Steilstück einleitet. Wir hielten uns hier für Tills Empfinden viel zu lange auf, legten uns faul in die Sonne (ich oben ohne, Tobi in Winterjacke, wie typisch) und mussten noch Tobis Reinigungsaktion auf dem Klo abwarten, die unverhofft nötig geworden war.



Von Anfang an tobte hier ein Kampf bis aufs Messer zwischen Tobi und Till, die einmal mehr der Tatsache Ausdruck verliehen, dass es im Radsport keine Cousins gibt. Doch das überlasse ich ihnen besser selber zu erzählen.
Tobi erzählt Kaum war die Arc im Tal überquert, da wurde in St Etienne de-Cuines aller Ballast ins Begleitfahrzeug gepackt, und der Bergpreis eröffnet. Tobis Tempodiktat vermochte nur Till zu folgen. Die Gruppe war gesprengt - Jan blieb bei Andy, der sich wieder bravourös durchbiss und Tim musste den ständigen Beschleunigungen der groupe de tête Tribut zollen und fiel alsbald zurück
Auf einem stark gewundenen, schmalen und steilen Sträßchen gewannen die beiden Bergziegen schnell an Höhe. Um den Berg bereits unten für sich zu entscheiden, fuhr Tobi lauter Kurzintervalle, ohne Till jedoch abschütteln zu können. Vielmehr zeigte dieser keine Schwäche.

Einen Platz in der Top Five der härtesten Berge hat der Glandon sicher. es erzählte Tobi
Andy, Tim und ich zuckelten hintendrein und hatten so Zeit, uns mit Arslane zu unterhalten, einem Radfahrer, den wir schon auf dem Madeleine gesehen haben, und der heute 200 km über Madeleine und Glandon fahren wollte. Er war langsamer als wir unterwegs, hatte aber alles, was er brauchte, dabei - und zwar ausschließlich in einer Lenker- und in seinen Trikottaschen. Also hatte er ungefähr noch weniger dabei als wir vor zwei Jahren und vertrat die alte Entdeckerphilosophie, die doch mit Begleitfahrzeug wenig zu spüren ist. Respekt, Arslane. Wir sollten ihn morgen nach dem Galibier auf dem Lautaret noch einmal sehen und, nur als Kopf aus einem vorbeibrausenden LKW am fünften Tag in Entrevaux.
Der Anstieg lag herrlich in der Sonne, Andy, Tim und ich kämpften, ohne viel Sinn für die Umgebung, gegen die Steigung an, den Blick qualvoll gesenkt, nur mit uns beschäftigt; siehe unten.





Weiter ging es die kurze Anfahrt zum Croix de Fer hoch und danach im Bergsee baden, wie damals schon die Abfahrt runter, der D926 nach St Jean de Maurienne folgend. Allerdings empfiehlt sich diese Straße eher zur Anfahrt, wie wir vor zwei Jahren feststellen konnten, die uns allen als DAS Highlight in Erinnerung ist.


Von St Jean de Maurienne ging es dann an der N566 entlang nach St Michel de Maurienne - ein Teilstück, vor dem es uns wegen des zu erwartenden Verkehrsaufkommens zurecht gegraust hat. Der unattraktivste Abschnitt der Tour. In St Michel de Maurienne hatten wir nach dem Abendessen noch Muße, einen kleinen Bummel durch den Ort zu machen, bei dem Tobi und ich uns in das Befinden eines Achtung-Kinder-Schildes hineinversetzten, das auf die Straße gedruckt war, indem wir kurzfristig seine Aufgabe als lebende Warnung sicherlich viel wirksamer übernahmen.



Michael hatte sich entschieden, mit uns zu fahren in der Hoffnung, endlich mal Leute gefunden zu haben, die mit ihm mithalten konnten, denn er war regelmäßig zwei Stunden vor seiner Gruppe am Zielort und erwartete sie zumeist mit besoffenem Kopf in der nächsten Kneipe. Den Col de Vars wollten wir zusammenfahren, denn hier überschnitten sich unsere Routen. Danach jedoch sollte es für uns dem Bach Ubayette hinauf zum italienischen Grenzpass Col de Larche gehen, während sie der Ubaye nach Barcelonette folgen wollten.
Doch zunächst ging es für uns sechs die malerische Combe du Queyras entlang, die Schlucht, entlang derer wir gestern bereits an unserem Hotel vorbeigerauscht waren. Die D902 begleitete uns nun schon den zweiten Tag, und wieder folgten wir ihr Guillestre rechts liegen lassend am Kreisel am Ortseingang nach links, wo wir schon die ersten St Georger stellten, die sich hier ihrer langen Kleidung entledigten.
Hier sahen Andy, Tim und ich auch Tobi, Till und Michael zum letzten Mal, die sich hier zeigen woltlen, wer die Hosen am Berg an hat. Tobi und Till hatten eine Taktik abgesprochen, und tatsächlich sah es gut um sie bestellt aus, denn Tobi fuhr vor Till und vor Michael in den Berg hinein.
Ich fuhr ohne Ambitionen in den Berg, und auch so überholten wir ständig irgendwelche Leute der St Georgener Radgruppe, die sich gestern noch abschätzig uns gegenüber geäußert hatten. Einige versuchten mitzuhalten, aber ohne viel Erfolg.


Ein Blick zurück eröffnete die Aussicht auf die flache Talsohle, in der Guillestre lag. Sternförmig gingen von dort aus die Täler aus: Das breite Tal der Durance von Norden nach Südwesten, die Combe de Queyras nach Osten und der Chagne entlang nach Süden, der wir zum Col de Vars folgten.


Kurz vor dem Pass der Schock für Till: Es wurde flacher. Nun musste Michael ja an ihm vorbei fahren, Traum ausgeträumt. Aber nein, die letzte Kraft ließ den Vorsprung zwischen ihnen nicht mehr größer werden, Till hatte seinen Berg gewonnen und die Ehre des Teams Darges verteidigt. Vivat Bräuning!





Der Col de Larche ist (1991 m) ein wenig attraktiver Berg, zumindest von unserer Seite. Die andere Seite führt an einem netten Bergsee vorbei, den man auch auf allen Karten des Passes sehen kann. Dunkle Regenwolken drängten auf schnelle Weiterfahrt, und runter ging es erst durch einige Serpentinen, in denen wir lange Lastzüge gekonnt in den Innenkurven überholen konnten und durch einige Orte, in denen wir uns einmal den Weg freipfeifen mussten, als sich eine verwirrte Oma vor uns aufmachte, die Straße zu überqueren. Und in Pietraporzio, wie man sind wir jetzt in Italien, überraschte uns der Regen. Und Luxusurlauber wie wir sind, machten wir dann ersteinmal Mittagspause, im trockenen Sprinter. Schuldbewusst sahen wir einige durchnässte Radfahrer an uns vorüberziehen.

Das Kloster Santa Anna liegt am rechten Hang, während man für den Col de la Lombarde (2350 m) von der Straße auf den linken Hang abbiegen muss, um nach weiteren 9 km den Col de la Lombarde (2350 m) zu erreichen; eine Abzweigung, die man nicht unbedingt sieht.
Fortsetzung von Tobis Bergdesaster des heutigen Tages: Speichenbruch im ersten Teil des Lombarde, voller Tatendrang und Revanchegelüsten in Führung liegend. Dies gab einige diplomatische Verwicklungen, die weitreichende Folgen für den morgigen Tag am Col de la Cayolle nach sich zogen. Sportlich fair warteten Tim und Till auf Tobi, die sämtlich auf die Bergwertung dieses Berges fuhren, während Andy und ich (nach der Verausgabung am Larche hatte ich alle Kohlen verfeuert) froh waren, überhaupt oben anzukommen und weiterfuhren.
Was für ein schöner Berg dies war. Die Straße und die Witterung ließen Tobi und mich beide an den Passo del Manghen denken, den letzten Pass unserer 1999er Sommertour. Kurz unter dem Pass warteten wir auf Tobi und Till, die als einzige noch um die Bergwertung am Lombarde fuhren, nachdem Tim sich auch entschlossen hatte, lieber Andy und mich aufzufahren und den Kampf den beiden Streithähnen zu überlassen, und das, obwohl seine Beine am heutigen Tage ganz klar Favoriten-Qualität besaßen.


Oben am Col de la Lombarde (2350 m) war es zugegebenermaßen arschkalt und Tobi zog mal wieder alles an, was ging. Die Abfahrt war geil; erst durch schnelle, enge Serpentinen, dann durch noch schnellere, weite Serpentinen rasten Andy, Tobi und ich Isola 2000 entgegen, einer häßlichen Retortenstadt an einer Zuckerstraße. Weitere 17 km später erreichten wir Isola, schon viel schöner, aber durchaus unbedeutend. Bemerkenswert ist die Breite des Bachbetts der Guerche, die hier schnurgerade senkrecht zum Hang verläuft und augenscheinlich im Frühling gewaltige Wassermassen des Lombardes mit sich führt, denn rechts und links ragten die Mauern fünf Meter empor. Rettungschancen dann wahrscheinlich eher gering.
Beruhigt ging ich zu Bett, stolz ging Till zu Bett, enttäuscht ging Tobi zu Bett, aber nicht ohne Rachegelüste. Ich musste nicht mehr den letzten Minipass gewinnen, den ich mir eigentlich ausgesucht hatte, Till hatte einen wahrlich stolzen Pass gewonnen und Tobi plante, morgen seine Hoheit am Berg wiederherzustellen. Doch die heute eingeleiteten diplomatischen Verwicklungen sollten dies morgen Verunmöglichen: Der Bonette war als Krone der Alpen ohnehin außerhalb der Bergwertung, und der Cayolle sollte vorbehalten sein für ein Schauspiel der besonderen Art.



In Isola (873 m) war der Tag verhangen, und nach den Einkäufen für den Tag (von mir mit fachmännischer Miene ausgeführt) ging es auf der D2205 an der Tinée entlang in den 41 km langen Anstieg zur Cime de la Bonette, einem der höchsten asphaltierten Punkte in Europa mit 2802 m (höher mit 2830 m: die Ötztaler Gletscherstraße). Ein echter Pass ist es nicht; man wird nur vom Col de la Bonette (2715 m) in einer Schleife um den Cime de la Bonette geführt, so dass der höchste Alpenpass der Col de l'Iseran mit 2764 m ist.


Bis wir nach 20 km nach rechts auf die D64 abbogen, ging die Straße durch üppigen Laubwald und an lieblichen Hängen entlang. Doch dann wurde die Straße schmaler, der Nebel dichter und das Licht schwächer, und schon Vens, eine kleine Ansiedlung in einer engen Linkskurve, wirkte wie ein Vorposten des Untergangs, fast verlassen und marode. Der Nebel wurde dichter, Regen setzte ein, rechts und links konnte man 500 Meter weit blicken und wir durchfuhren Bousieyas, Vorposten der Hoffnungslosigkeit: Verfallene Steinhütten beidseitig der Straße, in die der Regen durch die offenen Dächer eindrang. Auf einem Fenstersims lagen drei Schaf- und Rindsschädel. Andy will sogar eine Wäscheleine gesehen haben, die sich im schaurigen Rhytmus des Windes bewegte.

Hier fand Walter den Eingang zu einer weltkrieglichen Befestigungsanlage, in den es durch eine Wendeltreppe hineinging.


Die 24 km lange Abfahrt nach Jausiers (1240 m) war von geschotterten Baustellen durchzogen,
aber gegen Ende ging es ab, als wir einen R5 vor uns hertrieben, bis der Sohn des
Fahrers ihn augenscheinlich überzeugte, dass der Seitenstreifen den Interessen seines Magens erheblich besser entsprach.
In Jausiers entsprach eine Steinkonstellation am Straßenrand den
Interessen unserer Mägen. Wir stärkten uns
erheblich und fuhren jetzt unsererseits über die D900, der wir gestern
schon in der anderen Richtung auf den
Col de Larche gefolgt waren, nach Barcelonette (und erreichten dort die
schon altbekannte D902, der wir nach links Richtung Süden
auf die 30 km lange Anfahrt zum Col de la Cayolle (2326 m) folgten.
Die anfangs noch breite Straße wird bald von der engen Gorges du Bachelard
auf einspurige Enge gezwungen, rauh fallen links und rechts die steilen Felsklüfte zu uns ab.
Das vorbereitete taktische Spiel nahm seinen Lauf: Ich setzte mich nach vorne ab und
Andy fuhr mir nach einiger Zeit hinterher, auf den ersten Metern von Till begleitet, der sich dann
wieder zu Tobi und Tim zurückfallen ließ. Ich erwartete Andy in einer Gegenwindpassage,
gemeinsam machten wir einige Minuten auf Tobi, Till und Tim gut.
Tobi achtete auf der schmalen Straße darauf, hinten tunlichst kein entgegenkommendes Fahrzeug
zu behindern und wartete gewissenhaft in den dafür vorgesehenen Parkbuchten.
Da es Tim scheißegal war, ob Andy diesen Pass gewann, guckte er sich dies einige
Minuten an, um dann bei konstant 30 km/h in wenigen Minuten die Lücke zuzufahren,
die Andy und ich mittlerweile aufgebaut hatten. Tobi und Till hatten bei
dieser berserkerhaften Leistung alle Mühe, mitzuhalten, denn schließlich
hatte Tobi ja zuvor schon mit einem gekeuchten "Tim, hätt ich die Luft - ich würd schneller fahren"
auf seine katastrophale körperliche Verfassung hingewiesen.
Als daraufhin alle außer Tim bei Walter im Bus die Regenjacke anforderten und Andy
ihm als erster nachsetzte, Tim sich in der nächsten Serpentine nach der eindrucksvollen
Brücke über den Bachelard-Wasserfall ersteinmal für einen Müsliriegel eine Pause gönnte,
und feststellen musste, dass wir auf ihn nicht warteten, konnten Till und Andy unbehelligt den Bergpreis unter sich ausfahren,
während Tobi und ich hintendran die Augen nach Murmeltieren offenhielten, die hier
alle Nase lang ihren charakteristischen Pfiff hören ließen, den Andy so eindrucksvoll
imitieren kann. Wir machten Halt, um einen Bachlauf zu untersuchen und bewunderten die
intensiven Verwerfungen der Gesteinsplatten am gegenüberliegenden Hang, und fuhren noch in den letzten
Serpentinen auf Till und Andy auf, kurz bevor sich Andy den Bergpreis sicherte und Tobi, Till und ich
den zweiten Platz unter uns aufteilen mussten.
Die super Abfahrt vom Cayolle mit langen, weiten Serpentinen leitete nun
den befürchteten Kraftakt ein. Die Hälfte der Strecke hatten wir auf dem Pass, jetzt ging es 100 km
bergab, immer an der Var entlang, in gekonntem Windschattenwechsel flogen wir an
Entraunes vorbei die 33 km nach Guillaumes und befuhren dann die wildpittoreske
Daluis-Schlucht. Roter Sandstein ist hier tief von der Var ausgefressen worden, das frische Grün der
Birken unten auf dem Boden der Schlucht sorgt für einen satten Kontrast, als wir
diese Schönheit von der beeindruckenden einbögigen Brücke betrachten, von der gerade
noch einige Waghalsige am Bungeeseil den Sprung in die Tiefe gewagt hatten.
Weiter ging es auf der N202 nach Entrevaux, wo wir ein Blick
auf die markanten Befestigungsanlagen linker Hand warfen, die sich in einigen hundert Metern
Länge den Berg entlang ziehen. Kurz vorher überholte uns ein weißer Transporter und
heraus schoss der Kopf Arslanes, der uns wildgestikulierend eine schöne Weiterreise
wünschte.
Das beflügelte uns zusätzlich, und so kamen wir nach weiteren 57 km weniger erschöpft als gedacht, aber mindestens
genauso glücklich in Plan du var an - die längste Strecke, die wir je gemacht haben, für alle außer
Tim das erste Mal über 200 km - Grund, stolz zu sein.
Das Abendessen war ein Genuss, und unserer Großartigkeit bewusst pinkelten Tobi und
ich noch von der Eisenbahnbrücke in die Var, was diesen Tag gebührend abrundete.



Da standen wir nun in Plan du Var und nur noch 92 Kilometer trennten uns vom Ziel, Monaco - Monte Carlo. Wir waren heiß darauf, es endlich zu sehen, dass Mittelmeer, den Hafen und alles. Nur noch zwei Pässe lagen vor uns: zunächst der Turini, und dann, als Furz, der Castillon. Für Tobi noch mal Anlass, kurz vor der Abfahrt alle Konzentration zu sammeln. Aber zunächst ging es durch die Gorge de la Vesubie auf der D2565 in nordöstliche Richtung, also vom Mittelmeer weg in kaum merklicher Steigung. Nach 21 km bogen wir auf die D70 ab, für Tobi und Till das Startzeichen, diesen letzten Pass anzugreifen.
Doch zunächst sahen wir, dass es durchaus noch verrücktere Radler in den Alpen gibt als uns in den letzten Jahren: Ein junges Ehepaar zog auf einem Tandem ihre zwei kleinen Kinder in einem Anhänger, und folgten uns in Richtung Turini.


Von hier sind es 15 km auf den Col de Turini, von 503 m geht es bis auf 1607 m hoch. Nach drei km im Wald stößt man auf den kleinen Ort la Bollene Vesubie, der mit seiner kleinen Kirche und all den weißgetünchten, rotbedachten Häusern zusammengewürfelt im Taleinschnitt stand. Dort waren Andi und ich schon stolz auf die 15 km/h, die wir auf unseren Tachos lasen. Später hörten wir verwundert, dass Tobi und Till hier mit über 20 die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich gezogen haben.


Natürlich trödelten wir wieder ne Menge rum; erst musste Tobi sich noch was anziehen, dann fiel Andy ein, während ich noch schnell einen Joghurt aß, dass er sich ja noch einen Müsliriegel reinziehen konnte, was Tobi und ich erstmal für eine Pinkelpause nutzten. Schließlich ging es aber auf der D2566 ins Tal hinab, und zwar auf einer breiten und recht kurvenreichen Straße. Schön war das; wie wir uns das wünschten für den letzten echten Pass.


Nun ging es noch 15,5 km bis nach Menton, die ersten 3 km davon bis nach Castillon durchaus abfahrtstechnisch interessant. Menton war dann eher eine negative erfahrung, mediterranes Verkehrschaos so weit das Auge reicht. Aber dennoch, die Augen immer auf den Horizont gerichtet durchfuhren wir auch dies - in freudiger Erwartung. Und schließlich - an LKW, Verkehrszeichen und Ampelanlagen vorbei konnten wir sie blau schimmern sehen: Kaum vom leichten Wind gekräuselt, die Wellen des Mittelmeers. Die Sonne schien hell und klar, und jubilierte für unsere Ankunft: Endlich da. Die letzten neun Kilometer zum Hafen Monte Carlos vergingen auch noch - die Verheißung war groß: schon bald konnten wir baden gehen im Mittelmeer - alle Viere von uns strecken und richtig plat du jour sein. Dann schließlich, ein unscheinbares Schild: Principauté de Monaco. Bald war auch das Hafenbecken gefunden, Andy kennt sich hier ja prächtig aus.





Nun ging es zum Strand, einem aufgeschütteten Kiesbett. Till entschloss sich, nicht mitzuschwimmen, wir anderen schwammen ein Weilchen aufs Meer hinaus. Wir machten uns auf zum edlen Abendessen und ließen es uns gutgehen. Die Tour war bestanden - alle waren glücklich.
Damit fingen die Strapazen aber erst an. Eine Stunde lang standen wir vor dem Casino und betrachteten den Geldadel beim Präsentieren ihrer Schlitten und edlen Manieren. Wir gingen die Promenade am Casino hinauf und kauften Eis. Als wir uns umdrehten, konnte man ein hell erleuchtetes Gebäude am Ende des Parkes sehen. Was war das eigentlich?

Nun hieß es noch, den Weg zum Hotel zu suchen - völlig platt und erschlagen kämpften wir uns dorthin und ließen uns die Flasche Veuve Clicquot kredenzen, die wir vor dem Abendessen kaltgestellt hatten (danke Papa Wagner, 'tschuldige, Mathis) - und endlich ging's ins Bett. Wir erzählten noch lang über das in den letzten Tagen Erlebte, wieder einmal hatte alles geklappt, wir waren durchgekommen und glücklich, schöne Berge gab es, schönes Wetter und so manche Anekdote wird auch noch in vielen Jahren erzählt werden. Die Abfahrt vom Roselend... Wisst ihr noch, Arslane? Wie war das noch - im Kampf um den Galibier? Tills Triumph am Col de Vars... Im Nebel am Bonette? Und dann - ausspannen im Mittelmeer - schön war's.
Geschafft - der Tag danach
Wann sind wir gleich aufgestanden? Irgendwann später. Heute gab es noch ein wenig Stadtbummel. Das, was wir gestern bei Dunkelheit gesehen haben: Die beiden Häfen, der Palast in der Mitte und platte Beine - zehn Stück waren zu sehen. Zwei zu spüren. Plat du jour? Plat du semaine, merci beaucoup.
Über die Autobahn und übers Land ging es dann zurück - Blasen wurden produziert (Ääh, Sonnenerosion, Sonnenerosion), Bekanntschaften gemacht; Seb und - wie hieß er gleich? Walter fuhr bis zu sich nach Haus, dann übernahm Andy das Steuer. Platt und fertig kamen wir an - aber glücklich, einmal mehr von Erfolg berichten zu können.