Von tortenbäcker –
Der Tag beginnt wieder zur Unzeit, um 4:10 klingelt der Wecker. Schnell bin ich startklar. 250 Gramm Kekse sollen Energie bis zum Timmelsjoch liefern, ich esse ein paar davon. Gestern ist mir erklärt worden, wie ich die Hoteltüre aufbringe. Einfach den einen Schlüssel nehmen und aufdrehen. Ich stecke den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehe einmal um. Die Türe will aber noch nicht aufgehen. Und eine Klinke gibt es nicht. Nach der ersten Umdrehung lässt sich der Schlüssel auf keine Art und Weise nochmals umdrehen. Ich versuche es einige Minuten lang – zwecklos. So ein Mist. Spontan kommt mir die TV-Serie MacGyver in den Sinn, die ich als Kind öfter gesehen habe. Der Held der Serie, eben dieser MacGyver, rettet sich da jeweils aus misslichster Lage, indem er aus herumliegenden Gegenständen gerade das zusammenbastelt, was gerade benötigt wird. In meinem Fall hätte er wohl aus Hotelprospekten einen funktionierenden Schlüssel gefaltet., ich aber kann die Türe vergessen. Plan B: Mal alle anderen Hoteltüren abchecken. Im finsteren Hotel irre ich umher und suche nach Alternativausgängen. Ich spüre deren zwei auf, doch die weisen beide andersartige Schlösser auf – hhhmmmm, grosses Tennis! Bleibt mir nur noch Plan C: Fenster in meinem Hotelzimmer auf und mit Rad und allem eine kleine Kletterübung durchgeben. Meine zweite Sportart kommt hier voll zum Tragen. Zum Glück geht es vom Fenster nicht allzu weit zum Boden runter. Wenn mich einer sieht, steht bald die Tschuggerei vor der Türe. Zu geil die Aktion als Start in den Tag! Auf dem Boden angelangt muss ich noch im Dunkeln durch irgendwelches Gebüsch durchkommen, das lässt sich aber auch bewältigen. MacGyver hätte applaudiert.
Leider gibt sich der Himmel wolkenverhangen, als ich endlich losfahre. Leichtes Dämmerlicht ist bereits auszumachen. Nach der Hitze von gestern ist es auch jetzt noch recht warm. Überrascht bin ich von einer Tafel, die bekanntgibt, dass das Timmelsjoch von 20:00 bis 7:00 für den Verkehr gesperrt sei. Was soll das denn? Diesen EU-internen Grenzübergang kann man doch getrost offen lassen, oder? Ich kümmere mich nicht weiter drum. Bei der Auffahrt stelle ich mir den Ötztaler vor, und wie sich die Athleten hier am letzten Anstieg des Tages die Kante geben. Da muss was los sein – ganz im Gegensatz zu meiner Fahrt in der Einsamkeit.
Wie immer in den letzten Tagen geht es gemütlich voran. Dieser Hochnebel will leider nicht verschwinden, so erhasche ich nur einzelne Blicke auf die zu erahnende, tolle Bergwelt ringsum. Sehr schade, dass das Wetter nicht mehr so schön ist wie beim Umbrail gestern. Nach einem flächeren Stück in der Mitte komme ich an einer Schranke mit einem Rotlicht vorbei – natürlich fahre ich einfach vorbei. Es ist bereits 6:30 und der Pass wird bald offiziell offen sein. Im Laufe des Schlusshangs erreiche ich die Untergrenze der Nebeldecke, womit die Sicht teilweise auf unter 50 m fällt. In der Nebelsuppe drin ist es empfindlich kühl, solange ich aufwärts trete reicht aber mein Kurzarmtrikot gerade noch. Um 7:05 folgt ein langer Tunnel, der tatsächlich mit einem verschliessbaren Tor versehen ist. Daneben steht ein verdächtig ausschauendes Fahrzeug. Kann es sein, dass dieses Tor in der Nacht geschlossen wird? Dann wäre die Schliessung nicht zu umgehen. Auf der anderen Seite ist das Wetter sogar leicht besser und ich erkenne ein paar Berggipfel zwischen den Wolken. Doch nach dem nächsten Tunnel ist der Nebel noch dichter als je zuvor. Sicht nahe null.
Die Passhöhe erreiche ich nach 2:25 h Fahrzeit. Brrrr, jetzt schnell mehr Klamotten anziehen, die Abfahrt dürfte a****kalt werden. Doch zu meiner Überraschung macht das Wetter schon nach wenigen Metern auf der Nordseite auf. Eigenartigerweise steht hier auch noch einer, der wie ein Grenzwächter aussieht. Will der irgendwelche Schmuggler aufspüren? Wie auch immer, mich fragt er nicht nach meinem nicht vorhandenen Pass, und das ist auch besser so.
Vor der Gegensteigung folgt ein sehr langes, gerades Stück. Ich wage es allerdings nicht, hier voll laufen zu lassen, was bin ich doch für ein Angsthase. Die Gegensteigung kommt mir sehr gelegen, kann ich mich doch dadurch wieder aufwärmen. Die Ötzi-Teilnehmer werden hier wohl völlig an den Anschlag fahren.
An der Mautstelle vorbei rolle ich friedlich bis nach Zwieselstein. Hier geht es links weg ins Venter Tal. Dieses schöne Seitental möchte ich auch noch mitnehmen, wenn ich doch schon mal hier bin. Mit unregelmässiger Steigung geht es ins Tal hinein. Es hat mittlerweile völlig aufgeklart, keine Spur von Nebel hier auf der Nordseite. Alles in allem ist die Auffahrt recht flach, doch die sehenswerte Landschaft lohnt den Umweg dennoch. Nur gerade am Schluss, direkt nach Vent, will noch eine steile Rampe bezwungen werden. Bei einem Gasthof ist der Asphalt dann aber leider zu Ende.
Mittlerweile bin ich hungrig. In Vent habe ich einen Markt ausgemacht, da müsste sich Nahrung auftreiben lassen. Leider verfügen sie nicht über die gewünschte Frischmilch, so probiere ich es mit mir unbekannter Buttermilch. Keine Ahnung, ob die Buttermilch wirklich so säuerlich schmecken muss, als sei sie schon hinüber, jedenfalls kann es das nicht sein. Igitt. Immerhin taugen die Brötchen.
Danach geht es abwärts Richtung Sölden. Bei einer Confiserie kaufe ich mir weitere Kalorien ein, unter anderem einen sehr leckeren Topfenstrudel. Mmmmhhhhh. Da das Wetter morgen schlecht sein soll, will ich heute abend noch nach Luzern zurück – noch ein sehr weiter Weg. Über die Silvretta Hochalpenstrasse soll es nach Bludenz gehen. Ab Bludenz dann mit dem Zug zurück.
Also als erstes das Ötztal hinunter, bei mässigem Verkehr komme ich gut voran. Dann weiter Richtung Landeck. Leider habe ich dieses Teilstück nicht richtig geplant und so lande ich auf der Haupstrasse. Sehr ätzend. Nach kurzer Zeit habe ich genug davon – nichts wie weg hier! Ein Schild weist zum Bahnhof von Imst, die Entscheidung ist schnell getroffen: Zugfahrt bis Landeck. Am Bahnhof ist dann weitere Verpflegung in Form von Eis und Brötchen fällig. Amüsanterweise steht an einer Tafel angeschrieben, dass Geleise überschreiten verboten sei – doch es existiert weder eine Über- noch eine Unterführung! Eine eigenartige Logik pflegen diese ÖBB Jungs... Die Zugfahrt dauert schliesslich gerade mal eine knappe Viertelstunde. Das hat sich ja fast nicht gelohnt. Ab Landeck ist der Verkehr nicht mehr so dramatisch, und nach kurzer Strecke zweige ich ab Richtung Silvretta Gebiet. Die härteste Rampe des ganzen Trips folgt zum Abschluss: Die 43 km lange Rollerrampe hinauf zum Silvretta Stausee. Gleich zu Beginn merke ich es: Gegenwind! Und nicht zu knapp. Das kann ja heiter werden. Die Rampe zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die erste Kehre erst wenige Meter vor der Passhöhe erreicht wird. Bis dann geht es stur Richtung Südwesten, und genau von da her weht der Wind. Übel! Bei umgekehrter Windrichtung könnte ich locker flockig mit 25er Schnitt hochrollen – so aber wird die Auffahrt zur Qual. Fun Type 2. Bei den Böen versuche ich mich im Fluchen – nach der Hälfte der Fahrt bin ich mein Fluchwort Repertoire mehr oder weniger durch. Bräuchte Nachschub. In Ischgl braut sich ein Unwetter zusammen und die Windgeschwindigkeit geht Richtung Sturmstärke. Es fängt leicht mit Regnen an, doch das Unwetter streift meine Bahnen nur am Rande, zum Glück. Zeitweise krieche ich im Zeitlupentempo voran, den Lenker fest im Griff, da ich sonst leicht die Kontrolle verlieren könnte. Hinter der Gewitterzelle beruhigt sich der Wind wieder etwas. Zwischendurch genehmige ich mir einen weiteren Topfenstrudel, immerhin. Alles in allem benötige ich über drei lange Stunden für diese Rollerpassage. Unerwartet schönes Wetter begrüsst mich oben an der Passhöhe. Von Steigungen bin ich vorerst geheilt, zum Glück geht es bis Bludenz nur noch abwärts. Das Zeinisjoch ab Partenen wäre auch noch reizvoll gewesen, doch dafür muss ich halt mal zurückkommen.
Die Abfahrt bringt Fun Type 1, schöne kurvige Strecke bis Partenen und auch danach eine brauchbare Strasse. Ich bin erleichtert, als ich die Ortstafel von Bludenz erreiche. Seit über 13 Stunden bin ich nun schon unterwegs, die Beine sind müde. Die darauffolgende letzte Grenzüberquerung ohne Ausweis klappt prima, im Zug nach Buchs gibt es keine Kontrolle – und schon hat mich meine Heimat wieder!
Schlussbemerkung:
Zwei flache Strecken der Tour bin ich mit dem Zug gefahren, die angegebene Anzahl Kilomter ist damit etwa um vierzig zu hoch. Doch ich wollte nicht sechs Etappen aus den vier Tagen machen, das hätte dann wie eine Sechstagestour ausgesehen, was es ja nicht war.
Ich bin diese Etappe gefahren und möchte die befahrenen Pässe in mein Palmares eintragen
Ich bin diese Etappe gefahren